Kongo (eBook)

Eine Geschichte
eBook Download: EPUB
2012 | 2. Auflage
783 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77800-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kongo -  David Van Reybrouck
Systemvoraussetzungen
17,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen

Ausgezeichnet unter anderem mit dem NDR Kultur Sachbuchpreis

Fesselnd und atemberaubend erzählt David Van Reybrouck die Geschichte Kongos - von der belgischen Kolonialzeit über die 32-jährige Mobutu-Diktatur und den »afrikanischen Weltkrieg« in den neunziger Jahren bis in die Gegenwart, er berichtet aus der eindrücklichen Perspektive derjenigen, die in ihrem Land leiden, kämpfen, leben. Mit unzähligen Augenzeugenberichten, bisher unbekannten Dokumenten aus Archiven und Van Reybroucks fundierter Kenntnis der Forschung ist Kongo ein Meilenstein der politisch-historischen Reportage.



<p>David Van Reybrouck, geboren 1971 in Brügge, ist Schriftsteller, Dramatiker, Journalist, Archäologe und Historiker. 2011 gründete er die Initiative G1000, die sich in Belgien, den Niederlanden und in Spanien für demokratische Innovationen einsetzt. <em>Kongo. Eine Geschichte</em> wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem NDR Kultur Sachbuchpreis 2012, stand auf der SPIEGEL-Bestsellerliste und verschaffte Van Reybrouck internationale Anerkennung. Sein Buch <em>Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist</em> (Wallstein Verlag, 2016) erhielt europaweit große Aufmerksamkeit. Für <em>Revolusi. Indonesien und die Entstehung der modernen Welt</em> wurde Van Reybrouck mit dem Geschwister-Scholl-Preis 2023 ausgezeichnet.</p>

1?Neue Geister


Zentralafrika weckt das Interesse von Ost und West


1870-1885


Niemand weiß genau, wann Disasi Makulo zur Welt kam. Auch er nicht. »Ich bin in einer Zeit geboren, als der Weiße noch nicht in unserer Gegend aufgetaucht war«, erzählte er viele Jahre später seinen Kindern. »Damals wussten wir nicht, dass es auf der Welt Menschen mit einer anderen Hautfarbe gibt.«1 Es muss irgendwann in den Jahren 1870-1872 gewesen sein. Disasi Makulo starb 1941. Kurz zuvor hatte er einem seiner Söhne seine Lebensgeschichte diktiert. Erst in den achtziger Jahren erschien sie im Druck, sogar zwei Mal, in Kinshasa und in Kisangani, aber Zaire, wie der Kongo damals hieß, war so gut wie bankrott. Es blieb bei einfachen Editionen mit begrenzter Auflage und geringer Verbreitung. Und das ist schade, denn Disasi Makulos Lebensgeschichte ist sehr abenteuerlich. Es gibt keinen besseren Führer, um das letzte Viertel des neunzehnten Jahrhunderts in Zentral­afrika zu begreifen.

Wo er geboren wurde, wusste Disasi umso besser: in dem Dorf Bandio. Er war der Sohn von Asalo und Boheheli und gehörte zum Turumbu-Stamm. Bandio liegt unweit von Basoko, in der heutigen Provinz Orientale. Also mitten im Äquatorialwald. Wer mit dem Schiff von Kinshasa nach Kisangani fährt, eine mehrwöchige Reise den Kongo flussaufwärts, der passiert einige Tage vor der Ankunft Basoko, ein bedeutendes Dorf. Es liegt backbord, am nördlichen Ufer, bei der Mündung des Aruwimi, eines der mächtigeren Nebenflüsse des Kongo. Bandio liegt östlich von Basoko, ein Stück vom Fluss entfernt.

Seine Eltern waren keine Fischer, sondern lebten im Regenwald. Seine Mutter baute Maniok an. Mit Hacke oder Grabstock wühlte sie in der Erde und stemmte die dicken Wurzelknollen heraus. Sie legte sie zum Trocknen in die Sonne und vermahlte sie nach einigen Tagen zu Mehl. Sein Vater verkaufte Palmöl. Mit seiner Machete kletterte er auf die Palmen und hackte die Büschel mit den fetthaltigen Früchten ab. Er presste die Palmfrüchte, bis der wunderbare Saft herauslief, leuchtend orange, eine Art flüssiges Kupfer, das seit Menschengedenken den Reichtum dieser Gegend ausmachte. Mit diesem Palmöl konnte er mit den Fischern am Fluss Tauschhandel treiben. Schon seit Jahrhunderten gab es Handelsbeziehungen zwischen Flussanrainern und Urwaldbewohnern. Die einen hatten Fisch im Überfluss, die anderen Palmöl, Maniok oder Kochbananen. Das sorgte für eine ausgewogene Ernährung. Der proteinreiche Fisch wurde in den Regenwald mitgenommen, die stärkehaltigen Gewächse und das Pflanzenfett ergänzten den Speiseplan am Flussufer.

Bandio war eine relativ geschlossene Welt. Der Aktionsradius eines Menschenlebens beschränkte sich auf ein paar Dutzend Kilometer. Um an einer Hochzeitsfeier teilzunehmen oder eine Erbschaftssache zu regeln, begaben sich die Menschen mitunter in ein anderes Dorf, aber die meisten Bewohner verließen ihre Gegend selten oder nie. Sie starben dort, wo sie geboren waren. Als Disasi Makulo zur Welt kam, wusste in Bandio keiner etwas von der weiten Welt außerhalb des Dorfs. Dass tausend Kilometer westlich, am Atlantischen Ozean, noch immer Portugiesen lebten, war ihnen völlig unbekannt. Sie wussten nicht einmal, dass es das gab, einen Ozean. Angola, die Kolonie der Portugiesen, hatte viel von seinem Glanz verloren, wie Portugal selbst übrigens, doch Portugiesisch war noch immer die wichtigste Handelssprache an der Küste südlich der Kongomündung, auch für Afrikaner. Dass an der Mündung und am Unterlauf des Flusses die Briten seit dem achtzehnten Jahrhundert die Geschäfte der Portugiesen übernommen hatten, wussten sie ebenso wenig. Dass sich dort auch Niederländer und Franzosen niedergelassen hatten: Sie konnten es nicht einmal ahnen, denn keiner dieser Europäer begab sich jemals ins Landesinnere. Sie blieben an der Küste oder im unmittelbaren Hinterland und warteten, bis die Karawanen, von afrikanischen Händlern geführt, aus dem Landesinneren kamen und ihre Waren anboten: vor allem Elfenbein, aber auch Palmöl, Erdnüsse, Kaffee, Baobabrinde und Farbstoffe wie Orseille und Kopal. Aber auch noch Sklaven. Dieser Handel war inzwischen zwar überall im Westen verboten, doch heimlich ging er noch lange Zeit weiter. Die Weißen bezahlten mit kostbaren Stoffen, Kupferstäben, Schießpulver, Musketen, roten und blauen Perlen oder seltenen Muscheln. Letzteres war keine Bauernfängerei. Es ging, wie bei offiziellen Münzen, um Gegenstände von hohem Wert, die sich transportieren und zählen ließen und nicht gefälscht werden konnten. Aber Bandio lag zu weit ab, um viel davon mitzubekommen. Wenn überhaupt einmal so eine weiße, glänzende Muschel oder eine Perlenschnur in dieser Gegend auftauchte, wusste niemand genau, wo diese Dinge herkamen.

Wenn die Dorfgenossen des gerade geborenen Disasi schon nichts von den Europäern an der Westküste wussten, so ahnten sie womöglich noch weniger von den großen Umbrüchen, die sich mehr als tausend Kilometer östlich und nördlich vollzogen. Ab 1850 weckte der Regenwald von Zentralafrika auch das Interesse von Händlern auf der Insel Sansibar sowie an der Ostküste Afrikas (im heutigen Tansania), ja sogar noch im zweitausend Kilometer weiter gelegenen Ägypten. Ihr Interesse galt einem natürlichen Rohstoff, der schon seit Jahrhunderten auf der ganzen Welt als ein Luxusprodukt benutzt wurde, etwa für die Fertigung von Schreibtafeln in China, für asiatische Figuren und für mittelalterliche Reliquienschreine. Dieses Material war Elfenbein. Im Landesinneren Afrikas war Elfenbein von hoher Qualität in großen Mengen vorhanden. Die Stoßzähne des afrikanischen Elefanten, die ein Gewicht von mehr als siebzig Kilo erreichen können, lieferten die größten und reinsten Stücke Elfenbein der Welt. Anders als bei dem damals schon seltenen asiatischen Elefanten haben in Afrika auch die Elefantenkühe Stoßzähne. Diese scheinbar unerschöpfliche Vorratskammer wurde um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts immer tiefer erkundet.

Im Nordosten des späteren Kongo, wo der Regenwald in Savanne übergeht, waren Händler tätig, die aus dem Niltal stammten: Sudanesen, Nubier und sogar ägyptische Kopten. Sie hatten Abnehmer bis nach Kairo. Die Händler reisten über Darfur oder Khartum in Richtung Süden. Sklaven und Elfenbein bildeten die wichtigsten Exportgüter, Überfälle und Jagden die wichtigste Form der Beschaffung. Ab 1856 geriet der gesamte Handel allmählich in die Hände eines einzigen Mannes: Al-Zubayr, ein mächtiger Händler, dessen Imperium sich 1880 vom Nordkongo bis nach Darfur erstreckte. Offiziell war seine Handelszone eine Provinz von Ägypten, in der Praxis bildete sie ein Reich für sich. Der arabische Einfluss verbreitete sich bis in den Süden des Sudans.

Karte 3: Zentralafrika Mitte des 19. Jahrhunderts

Aber vor allem Sansibar, eine unscheinbare Insel im Indischen Ozean vor der Küste des heutigen Tansania, spielte eine entscheidende Rolle. Als der Sultan von Oman sich 1832 dort niederließ, um die Handelsströme auf dem Indischen Ozean zu kontrollieren, hatte das weitreichende Folgen für die ostafrikanischen Gebiete. Sansibar, das selbst nur Kokosnüsse und Gewürznelken hervorbrachte, wurde weltweite Drehscheibe für den Handel mit Elfenbein und mit Sklaven. Die Insel exportierte auf die arabische Halbinsel, in den Mittleren Osten, auf den indischen Subkontinent und nach China.

Die Dorfbewohner von Bandio merkten 1870 noch nichts davon, doch da die Händler aus Sansibar über ausgezeichnete Feuerwaffen verfügten, drangen sie immer weiter ins Landesinnere vor, weiter, als die Europäer im Westen jemals vorgedrungen waren. Manche von ihnen waren ethnische Araber, andere hatten auch afrikanische Vorfahren. Häufig handelte es sich um Afrikaner, die sich zum Islam bekannten. Man spricht dann von afro-arabischen oder swahili-arabischen Händlern; im neunzehnten Jahrhundert hießen sie les arabisés. Das Swahili, eine Bantu-Sprache mit vielen arabischen Lehnwörtern, verbreitete sich von hier aus über ganz Ostafrika. Von Sansibar und dem Küstenort Bagamoyo aus zogen ab 1850 imposante Karawanen westwärts, bis sie achthundert Kilometer weiter die Ufer des Tanganjikasees erreichten. Der kleine Ort Ujiji, wo Stanley 1871 Livingstone »finden« würde, wurde ein wichtiger Handelsposten. Jenseits des Sees zog man noch weiter ins Landesinnere, in das Gebiet, das heute Kongo heißt. Und wie beim Reich von Al-Zubayr sah man auch hier, wie die wirtschaftlichen Einflussbereiche zu politischen Einheiten wurden. Im Südosten von Katanga übernahm Msiri, ein Händler, der von der Ostküste Afrikas stammte, ein bestehendes Königreich: das alte, aber inzwischen morsche Reich der Lunda. Von 1856 bis 1891 herrschte er als Souverän über die kupferreiche Region und kontrollierte die Handelsrouten in Richtung Osten. Zu dem anfangs rein wirtschaftlichen Interesse trat also der politische Machtanspruch.

Etwas weiter nördlich agierte der berüchtigte Elfenbein- und Sklavenhändler Tippu Tip. Als Spross einer afro-arabischen Familie aus Sansibar unterstand er direkt dem Sultan, war aber schon bald der mächtigste Mann im ganzen Ostkongo. Seine Herrschaft erstreckte sich auf das Gebiet zwischen den Großen Seen im Osten und dem oberen Flusslauf des Kongo (dort auch Lualaba genannt) dreihundert Kilometer weiter westlich. Tippu Tips Macht basierte nicht nur auf seinem außergewöhnlichen Geschäftssinn, sondern auch auf Gewalt. Anfangs erwarb er seine Luxusgüter – Sklaven und Elfenbein – auf freundschaftliche Weise: Wie andere Sansibari schloss er Bündnisse mit...

Erscheint lt. Verlag 16.4.2012
Übersetzer Waltraud Hüsmert
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Congo. Een geschiedenis
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte Afrika • Belgische Kolonialzeit • Bestseller • Bestseller bücher • buch bestseller • Demokratische Republik Kongo • Geschichte 1870-2010 • Geschichte Kongos • Kongo • Politisch-historische Reportage • Reportage • Sachbuch-Bestenliste • Sachbuch-Bestseller-Liste • Sachbuchpreis • ST 4445 • ST4445 • suhrkamp taschenbuch 4445
ISBN-10 3-518-77800-5 / 3518778005
ISBN-13 978-3-518-77800-5 / 9783518778005
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 5,9 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Eine kurze Geschichte der Menschheit

von Yuval Noah Harari

eBook Download (2024)
Penguin Verlag
11,99
Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt

von Christopher Clark

eBook Download (2023)
Deutsche Verlags-Anstalt
36,99
Die Fahrt der Bounty und der globale Seehandel im 18. Jahrhundert

von Simon Füchtenschnieder

eBook Download (2024)
Klett-Cotta (Verlag)
19,99