Antipolitik
Verlag Edition AV
978-3-86841-036-5 (ISBN)
Siegbert Wolf, geb. 1954 in Grebenhain/Vogelsberg. Studium der Geschichte, Politik und Soziologie, 1983 Promotion zum Dr.phil. Lebt in Frankfurt/M. und arbeitet als Historiker. Veröffentlichungen in Zeitschriften, Zeitungen und im Rundfunk. Buchpublikationen: Silvio Gesell. Eine Einführung in Leben und Werk eines bedeutenden Sozialreformers, Hannoversch-Münden 1983; Liberalismus in Frankfurt am Main. Vom Ende der Freien Stadt bis zum Ersten Weltkrieg (1866-1914), Frankfurt/M. 1987; Gustav Landauer zur Einführung, Hamburg 1988; Gustav Landauer, Auch die Vergangenheit ist Zukunft. Essays zum Anarchismus, hrsg. von Siegbert Wolf, Frankfurt/M. 1989; Gustav Landauer-Bibliographie, Grafenau-Döfflingen 1991.
Einleitung „Der Sozialismus ist die Rückkehr zur […] natürlichen, abwechslungsvollen Verbindung aller Tätigkeiten“ - Der „Sozialistische Bund“ (II) von Siegbert Wolf „Das sozialistische Dorf mit Werkstätten und Dorffabriken, mit Wiesen und Äckern und Gärten, mit Großvieh und Kleinvieh und Federvieh […], gewöhnt euch an den Gedanken, so fremd und seltsam er euch im Anfang auch anmuten mag, dass das der einzige Anfang eines Wirklichkeitssozialismus ist, der übrig geblieben ist.“ I Der vorliegende Band 3.2: Antipolitik im Rahmen der „Ausgewählten Schriften“ Gustav Landauers knüpft inhaltlich und thematisch unmittelbar an Band 3.1. an. Um eine seriöse Auswahl zu präsentieren, die alle bedeutsamen Aspekte in Landauers (anti-)politischem Denken und Handeln umfassend berücksichtigt, bedarf es dieses Doppelbandes. Die hier abgedruckten Texte legen wie schon Band 3.1. den Schwerpunkt auf Landauers Projektanarchismus, insbesondere auf die Geschichte und Programmatik des „Sozialistischen Bundes“ (1908-1915). Ergänzt werden Landauers programmatische Äußerungen (in Band 3.1) zusätzlich um den Diskurs mit dem libertären Psychoanalytiker Otto Gross (1877-1920). Die eigentliche Bedeutung dieser Debatte lag in der Betonung der Notwendigkeit innerpsychischer Befreiung des Einzelnen, sich also bei der grundlegenden Restrukturierung der Gesellschaft (Stichwort: kommunitärer Anarchismus) nicht einseitig auf eine Transformation allein der äußeren politischen und ökonomischen Strukturen zu konzentrieren. Zur Freiheit innerlich fähig zu werden, stellte für beide eine wesentliche Vorarbeit und Voraussetzung zur Revolution dar. Dies bedeutete allerdings für Landauer mitnichten eine Entlassung der Individuen aus sämtlichen traditionellen Lebensnormen und -formen, wie es etwa Otto Gross, der durchaus Sympathien mit Landauers Konzeption eines föderativen Anarchismus bekundete, damals einforderte. Gustav Landauer weigerte sich beharrlich, sich näher auf die Psychoanalyse einzulassen. Daher blieben seine Kenntnisse dieser vom Wiener Neurologen Sigmund Freud (1856-1939) Ende des 19. Jahrhunderts begründeten psychologischen Theorie oberflächlich und marginal. Dass er gleichwohl durchaus mit psychologischen Themen befasst war, belegt sein anhaltendes Interesse für Charakterstudien seit den 1890er Jahren. Bereits in seinem Roman „Der Todesprediger“ (1893) erörterte Landauer psychische Phänomene. Und in seinem 1898 erschienenen Essay “Zur Psychologie activer Naturen” zog er die Beschreibung lebensfroher, engagierter und tatkräftiger Persönlichkeiten derjenigen menschlicher Unzulänglichkeiten vor - ein Resultat seiner Beeinflussung etwa durch den kulturkritischen Philosophen Friedrich Nietzsche (1844-1900). Einige Jahre später, in seiner geschichtsphilosophischen Monographie „Die Revolution” (1907), hob Landauer die Bedeutung der Sozialpsychologie hervor: “Sozialpsychologie ist selbst nichts anderes als die Revolution.” Wogegen sich Landauer nachdrücklich aussprach, betraf die Verquickung von Charakter und Seele mit Wissenschaft. Da Landauer Revolution nicht als einen einmaligen Vorgang, sondern als eine permanente Tat, als einen Prozess verstand, der sich über Jahrhunderte hinziehen kann, erschien es ihm notwendig, „die Erscheinung der Revolution vom Standort der sozialen Psychologie aus“ zu betrachten, denn: „Revolution und Sozialpsychologie sind verschiedene Benennungen, und darum gewiss auch verschiedene Schattierungen derselben und nämlichen Sache.“ Gustav Landauer und Otto Gross war nur zu bewusst, dass innerlich gesunde Menschen neue, vielfältige und kommunitäre Arrangements des Zusammenlebens benötigen. Allerdings war Landauer nicht geneigt, auf Traditionen wie Ehe und Familie zu verzichten, während sich Gross die radikale Befreiung der Frauen und das Ausleben der Sexualität als Quelle der Bewusstseinserweiterung allein in einer matriarchalen Gesellschaft vorstellen konnte. Betraf die Auseinandersetzung der beiden Libertären vordergründig den Dissens um die Frage, wie die Verwirklichung des sozialen Individuums erreicht werden kann - durch die wissenschaftliche Weiterentwicklung der Psychoanalyse und deren Anwendung auf die Psyche des Menschen, um so die Gesellschaft dauerhaft und radikal zu verändern (so Gross), oder durch die Freisetzung der kreativen Potentiale etwa mittels Kunst und Literatur (so Landauer) - so lässt sich bei beiden eine Frage als zentral, allerdings mit unterschiedlichen Bewertungen, festhalten: nämlich welche Rolle dem Individuum im Prozess revolutionärer Befreiung zukommt. Einig waren sich beide in der Betonung einer herausgehobenen Stellung des Individuums innerhalb der Gesellschaft, die sie bewahren und zugleich ausbauen wollten. Landauer setzte das sich befreiende Individuum stets in den Kontext mit Gemeinschaft, Bund, Kommune. Bei ihm handelte es sich vor allem um Intersubjektivität, basierend auf einem Bund von Bünden: “Die halbe Welt: denn die Welt ist ganz erst im Menschenpaar, in Mann und Weib.” Daher war für ihn das Zwischenmenschliche von zentraler Bedeutung, das, was sein langjähriger Freund, der Kultur- und Religionsphilosoph Martin Buber (1878-1965), in der Fortschreibung von Landauers Konzeption des “werdenden Menschen” in seiner Dialogphilosophie als “Ich und Du” (1923) entwickelt hat. Darin wird das Individuum immer als soziales Individuum inmitten personaler Beziehungen und sozialer Systeme beschrieben. In Landauers bereits erwähnter Schrift “Die Revolution” heißt es: “Isolierte Individuen hat es gar nie gegeben; die Gesellschaft ist älter als der Mensch.” Die moderne Gesellschaft ist demnach vor allem durch die Abwesenheit von Verbindendem zwischen den Individuen gekennzeichnet, die letztendlich zu Atomisierung und Individualisierung führt. Solange die Menschen nicht erneut lernen, sich als soziale Individuen innerhalb eines Ganzen zu betrachten, sei jegliche Umkehr unmöglich. Grundlage dafür blieben für Landauer ‚Restrukturierung‘ und ‚Aufbau‘ schon in der bestehenden Gesellschaft sowie die Rückbesinnung auf bereits existierende Gemeinschaftsmodelle. Landauer verwies hierbei wiederholt auf kommunitäre Arrangements im Mittelalter (Genossenschaften, häretische Lebensgemeinschaften usw.), die soziale Individualität beförderten. Große Hoffnungen setzte er dabei in die Kooperationswilligkeit und -fähigkeit der Menschen: „[…] all dies ist eingefügt in ein großes, wahrhaftes, aus Geist und Liebe wachsendes Menschenleben. Landauer betonte gern, er sei ‚antipolitisch’ gesinnt; das bedeutete natürlich ganz und gar nicht: einer, der sich aus der Öffentlichkeit in die private oder intellektuelle Existenz zurückzieht; es bedeutete: einer, der gegen eine falsche Öffentlichkeit für eine künftige rechtmäßige, gegen eine zerfallende Gesellschaft für den Bau einer Gemeinschaft mit seiner Person eintritt; aber eben nicht ‚politisch’ eintritt, wie für etwas, was man nur ‚durchsetzen’ will, sondern mit den Mitteln des Lebens selber, im Leben selber, im eigenen Leben, mit dem eigenen Leben. Er verstand den Sozialismus als etwas, womit man da wo man eben eingesetzt sei, und nur da, beginnen könne und solle; und sein eigenes Dasein war ihm eine Stätte der Verwirklichung.“ II In einem weiteren Abschnitt des vorliegenden Bandes 3.2 werden die beständigen Bemühungen des „Sozialistischen Bundes“ dokumentiert, anarchistische Siedlungen und Gemeinden zu gründen und zu beginnen, aus Kapitalismus, Staat und (Groß-)Industrialismus auszutreten. Die hier vorgelegten programmatischen Aufrufe, Flugblätter und Leitsätze entstanden ausnahmslos in enger Abstimmung mit Gustav Landauer. Der dritte Teil der ausgewählten Essays Gustav Landauers spannt den Bogen unter der Überschrift „Zeitgenossenschaft“ thematisch zur Rubrik: „Seiner Zeit voraus“ in Band 3.1. Mit diesen kulturkritischen Gesellschaftsbildern wird der Doppelband: „Antipolitik“ der „Ausgewählten Schriften“ Gustav Landauers abgerundet. Seine grundlegende Skepsis und kritische Grundhaltung gegenüber den ihn umgebenden, herrschenden Kräften in Politik und Wirtschaft, seine fundierte Analyse des bürgerlichen Parteiwesens, allen voran der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) unter August Bebel (1840-1913), und des Vertretungsparlamentarismus – insgesamt sämtlicher, das deutsche Kaiserreich stützenden Einrichtungen (Militär, Adel, Politische Polizei, Justiz, Schule usw.), bilden gewissermaßen den Rahmen, um zu verstehen, warum er einen radikalen, libertären Wandel sowie einen Neuanfang der Menschen jenseits von Herrschaftssystemen und instrumenteller Vernunft als notwendig erachtete. Gustav Landauers diagnostische Zeitbilder eröffnen einen umfassenden Blick auf die Gesellschaft als Ganzes, als ein soziales Verhältnis, als das Verhalten der Menschen zueinander und untereinander, und verhindern zugleich, vor dem Hintergrund seiner anhaltenden Bemühungen, Wege in die Gemeinschaft zu finden, selbstisolierende Rückzüge auf eine landkommunitäre Idylle. Galt der kommunitären, föderalistischen Restrukturierung der Gesellschaft von unten auf Landauers Hauptaugenmerk, so vernachlässigte er niemals die kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Realitäten im Rahmen seiner globalen Perspektive. Damit tritt der Herausgeber zugleich Tendenzen in der Sekundärliteratur entgegen, Landauer auf einen Philosophen, Literaten oder sonstigen Teilbereich seines Werkes zu reduzieren: „Alles, was Landauer dachte und plante, sprach und schrieb, und wenn es Shakespeare zum Gegenstand hatte oder die deutsche Mystik, und vollends alles, was er an zu bauender sozialistischer Wirklichkeit entwarf, war für ihn eingetaucht in den großen Glauben an die Revolution und den großen Willen zu ihr.“ III Wie bereits bei den vorherigen Bänden der „Ausgewählten Schriften“ Gustav Landauers gelten auch für die vorliegende Textsammlung als Auswahlkriterien: thematische Geschlossenheit, inhaltliche Vollständigkeit sowie Lesbarkeit und Verständlichkeit. Ein ausführlicher Anmerkungsapparat dient - wie in den bereits erschienenen Bänden - der zusätzlichen Erläuterung. Frankfurt am Main, 07. April 2010, zum 140. Geburtstag Gustav Landauers. Siegbert Wolf
Einleitung"Der Sozialismus ist die Rückkehr zur [...] natürlichen, abwechslungsvollen Verbindung aller Tätigkeiten" - Der "Sozialistische Bund" (II)vonSiegbert Wolf"Das sozialistische Dorf mit Werkstätten und Dorffabriken, mit Wiesen und Äckern und Gärten, mit Großvieh und Kleinvieh und Federvieh [...], gewöhnt euch an den Gedanken, so fremd und seltsam er euch im Anfang auch anmuten mag, dass das der einzige Anfang eines Wirklichkeitssozialismus ist, der übrig geblieben ist." IDer vorliegende Band 3.2: Antipolitik im Rahmen der "Ausgewählten Schriften" Gustav Landauers knüpft inhaltlich und thematisch unmittelbar an Band 3.1. an. Um eine seriöse Auswahl zu präsentieren, die alle bedeutsamen Aspekte in Landauers (anti-)politischem Denken und Handeln umfassend berücksichtigt, bedarf es dieses Doppelbandes. Die hier abgedruckten Texte legen wie schon Band 3.1. den Schwerpunkt auf Landauers Projektanarchismus, insbesondere auf die Geschichte und Programmatik des "Sozialistischen Bundes" (1908-1915). Ergänzt werden Landauers programmatische Äußerungen (in Band 3.1) zusätzlich um den Diskurs mit dem libertären Psychoanalytiker Otto Gross (1877-1920). Die eigentliche Bedeutung dieser Debatte lag in der Betonung der Notwendigkeit innerpsychischer Befreiung des Einzelnen, sich also bei der grundlegenden Restrukturierung der Gesellschaft (Stichwort: kommunitärer Anarchismus) nicht einseitig auf eine Transformation allein der äußeren politischen und ökonomischen Strukturen zu konzentrieren. Zur Freiheit innerlich fähig zu werden, stellte für beide eine wesentliche Vorarbeit und Voraussetzung zur Revolution dar. Dies bedeutete allerdings für Landauer mitnichten eine Entlassung der Individuen aus sämtlichen traditionellen Lebensnormen und -formen, wie es etwa Otto Gross, der durchaus Sympathien mit Landauers Konzeption eines föderativen Anarchismus bekundete, damals einforderte. Gustav Landauer weigerte sich beharrlich, sich näher auf die Psychoanalyse einzulassen. Daher blieben seine Kenntnisse dieser vom Wiener Neurologen Sigmund Freud (1856-1939) Ende des 19. Jahrhunderts begründeten psychologischen Theorie oberflächlich und marginal. Dass er gleichwohl durchaus mit psychologischen Themen befasst war, belegt sein anhaltendes Interesse für Charakterstudien seit den 1890er Jahren. Bereits in seinem Roman "Der Todesprediger" (1893) erörterte Landauer psychische Phänomene. Und in seinem 1898 erschienenen Essay "Zur Psychologie activer Naturen" zog er die Beschreibung lebensfroher, engagierter und tatkräftiger Persönlichkeiten derjenigen menschlicher Unzulänglichkeiten vor - ein Resultat seiner Beeinflussung etwa durch den kulturkritischen Philosophen Friedrich Nietzsche (1844-1900). Einige Jahre später, in seiner geschichtsphilosophischen Monographie "Die Revolution" (1907), hob Landauer die Bedeutung der Sozialpsychologie hervor: "Sozialpsychologie ist selbst nichts anderes als die Revolution." Wogegen sich Landauer nachdrücklich aussprach, betraf die Verquickung von Charakter und Seele mit Wissenschaft. Da Landauer Revolution nicht als einen einmaligen Vorgang, sondern als eine permanente Tat, als einen Prozess verstand, der sich über Jahrhunderte hinziehen kann, erschien es ihm notwendig, "die Erscheinung der Revolution vom Standort der sozialen Psychologie aus" zu betrachten, denn: "Revolution und Sozialpsychologie sind verschiedene Benennungen, und darum gewiss auch verschiedene Schattierungen derselben und nämlichen Sache." Gustav Landauer und Otto Gross war nur zu bewusst, dass innerlich gesunde Menschen neue, vielfältige und kommunitäre Arrangements des Zusammenlebens benötigen. Allerdings war Landauer nicht geneigt, auf Traditionen wie Ehe und Familie zu verzichten, während sich Gross die radikale Befreiung der Frauen und das Ausleben der Sexualität als Quelle der Bewusstseinserweiterung allein in einer matriarchalen Gesellschaft vorstellen konnte.Betraf die Auseinandersetzung der beiden Libertären vordergründig den D
Erscheint lt. Verlag | 10.9.2010 |
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Reihe/Serie | Gustav Landauer: Ausgewählte Schriften ; 3.1 |
Sprache | deutsch |
Maße | 135 x 210 mm |
Gewicht | 397 g |
Einbandart | Paperback |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Neuzeit bis 1918 |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | Anarchismus • Antipolitik • Deutsches Kaiserreich • Deutsches Reich 1871-1918 • Politik • Sozialistischer Bund |
ISBN-10 | 3-86841-036-8 / 3868410368 |
ISBN-13 | 978-3-86841-036-5 / 9783868410365 |
Zustand | Neuware |
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