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Ich gehe in ein anderes Blau (eBook)

Rolf Dieter Brinkmann ? eine Biografie
eBook Download: EPUB
2025 | 1. Auflage
400 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01876-1 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
30,99 inkl. MwSt
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Die erste Biografie des Kultautors ? basierend auf unveröffentlichten und bisher nie ausgewerteten Werken und Briefen aus dem Nachlass. Rolf Dieter Brinkmann war das Enfant terrible der deutschen Literatur, heute ist er geradezu Kult. Und doch hat sich bisher niemand daran gewagt, dieses rastlose, viel zu kurze Leben in einer Biografie zu vergegenwärtigen ? wie es Michael Töteberg und Alexandra Vasa hier tun: von den frühen Jahren im kleinbürgerlich-katholischen Vechta bis zur Zeit in Köln, wo Brinkmann das Beben der 1968er-Revolte erlebt und Gedichte schreibt, die wie ein Faustschlag in die bräsige deutsche Poesie knallen; von seinem Aufenthalt in der Villa Massimo, aus dem das unerhört wütende Italien-Buch Rom, Blicke hervorgegangen ist, und dem in den USA, wo er in Texas lehrte, bis zum Opus magnum Westwärts 1 & 2 und zu Brinkmanns Unfalltod 1975 in London. Michael Töteberg und Alexandra Vasa konnten erstmals Einsicht nehmen in den bislang unter Verschluss gehaltenen Nachlass, unveröffentlichte literarische Werke und Briefe auswerten. Aus Gesprächen mit Zeitzeugen und engen Freunden Brinkmanns entsteht ein Bild seiner Persönlichkeit: unbequem, radikal, kompromisslos, zugleich aber sensibel und empathisch. Ein wilder Provokateur, zärtlicher Familienvater - und der vielleicht bedeutendste deutsche Lyriker seit Brecht und Benn.

Michael Töteberg, geboren 1951, leitete lange Jahre die Agentur für Medienrechte im Rowohlt Verlag und war dort verantwortlich für Literaturverfilmungen wie «Babylon Berlin» und «Tschick». Er verfasst Filmkritiken und ist Herausgeber unter anderem der Schriften von Rainer Werner Fassbinder und Tom Tykwer sowie des «Metzler Film Lexikons». Zudem ist er Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien der Roman «Falladas letzte Liebe» (2021).

Michael Töteberg, geboren 1951, leitete lange Jahre die Agentur für Medienrechte im Rowohlt Verlag und war dort verantwortlich für Literaturverfilmungen wie «Babylon Berlin» und «Tschick». Er verfasst Filmkritiken und ist Herausgeber unter anderem der Schriften von Rainer Werner Fassbinder und Tom Tykwer sowie des «Metzler Film Lexikons». Zudem ist er Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien der Roman «Falladas letzte Liebe» (2021). Alexandra Vasa studierte Literaturwissenschaft und Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin, wo sie über das Thema des Spekulanten als literarische Figur promovierte. Gemeinsam mit Michael Töteberg gab sie mehrere Bände der literaturwissenschaftlichen Zeitschrift «Text + Kritik» heraus.

1. Vechta, meine Hassliebe


«Schnee fiel im April, als ich geboren war, eingehüllt in den verzierten Decken des Taufrituals.»[2] Ironisch wendet sich Brinkmann in einem Gedicht seiner «Historie» zu. Er wurde am 16. April 1940 geboren, «in den ersten Kriegstagen zusammengefickt», wie er es gern und häufig formuliert. «Ehe der Mann in den Krieg zieht, macht er der Frau noch ein Kind – ‹ich bin nur da, weil es einen Krieg gab›.»[3] Josef Brinkmann und Maria Ackfeld hatten im Februar 1938 geheiratet. Er war noch keine fünfundzwanzig, in Vechta geboren, am 24. November 1913; sie stammte aus Wadersloh bei Beckum und war, fast auf den Tag genau, fünf Jahre älter. Rolf-Dieter Brinkmann – im Geburtenregister hat der Vorname einen Bindestrich – wurde römisch-katholisch getauft, was nicht weiter verwundert, denn der Landkreis gehört zur katholischen Diaspora im protestantischen Land Oldenburg.

Seinem Freund Hartmut Schnell im fernen Austin/Texas – man hatte sich während Brinkmanns Gastprofessur kennengelernt und blieb in engem Kontakt – schilderte er stichwortartig die Lage und Bedeutung seiner Heimat. «Kreisstadt, Verwaltungsstadt, bekannt wegen Schulen, Gefängnisse (mehrere große Zuchthäuser, da die Stadt V. ziemlich abgelegen ist).»[4] Die Abgeschiedenheit gereichte der Kleinstadt hier sozusagen zum Standortvorteil. «Landwirtschaftlich sehr schön, flach, grüne Mischwälder, ein Moor & Heidegebiet.» Industrie gab es hier nicht, der Landstrich war überwiegend durch agrarische Nutzung geprägt: «Das Gebiet produziert vorwiegend Hühner & Masthähnchen, Eiergebiet, sowie moderne Viehzucht (Dunkelställe, Mast mittels Kunststoffen, Schweine und Kälber), Moorindustrie: Torf (fast ganz erschöpft), umgebaute Kuhställe als Nightclubs etc.»

Die Topografie Vechtas, von Brinkmann in einer frühen Erzählung beschrieben, zeichnet sich nicht durch signifikante Merkmale aus: «Die Stadt war ihrer ländlichen Umgebung angepasst, sie schmiegte sich dem Gelände an, als läge sie eingebettet in einer Mulde. Ihre Gebäude glichen sich in der Höhe. Innerhalb des Stadtkerns waren es meist zweistöckige, ältere Häuser, so daß keiner der Dachgrate und Giebel sich hervorhob und zu einem Orientierungspunkt werden konnte. Nur durch die Farben unterschieden sie sich voneinander, etwa durch ein frischeres und matteres Rot der Dachziegel oder Mauerteile, durch verschiedene Helligkeitsgrade des Verputzes. Das einzige, von überall aus deutlich sichtbare Erkennungszeichen war der Kirchturm, der, wenn auch nicht viel höher, die übrigen Gebäude überragte, ein plump wirkender Turm, viereckig und aus roten Backsteinen, durch Querteilungen in Würfel zerlegt.»[5]

Mehr als ein paar dürftige Stichworte gab er in seiner Vita für Schnell nicht über seine Eltern preis. «Vater gelernter Buchdrucker, später nach dem Krieg: Angestellter beim Finanzamt / Mutter: gelernte Köchin (vor dem Krieg: leitete Küche auf einem westfälischen Gut ‹Schloß Schwarzenraben› – kehrte oft nach dem Krieg in ihren Erzählungen und Unterhaltungen dahin in Gedanken zurück –, dann Überwechslung als Köchin zum Flugplatz Vechta), nach dem Krieg: Hausfrau.»

Brinkmanns lebten in der Petersburger Straße 41, im Ortsteil Falkenrott. Die Familie wohnte im Obergeschoss zur Miete: «In einem abgelegenen Haus aufgewachsen, außerhalb des kleinen Ortes, an einer Bahnstation, die ‹Falkenrott› heißt – Falken rott: verrottete Falken? – und Spielkameraden gab es nicht, die sehe ich immer nur fern durch Wiesen laufen, denn ich bin zu jung, 3, 4 Jahre alt, und sitze also vormittags lange allein auf einer Steintreppe vor dem Haus und sehe in eine grüne Wiesengegend mit schwarzen Schuppen und Zäunen darin – oder lange Zeiten, in denen ich allein in der oberen Mietwohnung vormittags zubringe – was habe ich dort geträumt?»[6]

Das Haus lag günstig für die Mutter, es waren nur ein paar Schritte bis zu ihrer Arbeitsstelle, dem Flugplatz. Ursprünglich für die zivile Nutzung gedacht, hatte 1938, also noch vor Kriegsbeginn, die Wehrmacht die Anlage für sich reklamiert und zum Fliegerhorst ausgebaut. Schnell wurde die nötige Infrastruktur geschaffen, Flugzeughallen, Werft und Werkstätten, ein Barackenlager. Bei Tonnenmoor wurde ein Munitionsdepot für den Fliegerhorst eingerichtet. Der Flugplatz erhielt den Decknamen «Schwebebahn»; zur Täuschung der alliierten Bomber wurden im Vechtaer Moor und bei Löningen Scheinflugplätze angelegt. In Vechta war ein Nachtjagdgeschwader stationiert, das einfliegende gegnerische Bomber abfangen sollte.

Der Vater war Unteroffizier, über seine militärische Laufbahn ist wenig bekannt. Der Sohn erinnert sich «an die Stukas auf dem Flugplatz Vechta etwa 1944 und die Kanzeln aus Plexiglas, die mich faszinierten, und daß mich faszinierte, wie ich mit einem Mann, den ich meinen Vater nannte, (…) durch die zwei salutierenden Soldaten am Eingang des Flugplatzes Vechta an einem sonnigen Tag gehe».[7] Eine emotionale Bindung zwischen Vater und Sohn gab es offenbar nicht, und diese sollte sich auch später nicht entwickeln.

Der Großvater war Maschinensetzer bei der Oldenburgischen Volkszeitung. Er hatte Diabetes, wofür er den Bleisatz, der beim Druck eingesetzt wurde, verantwortlich machte. Es war (und ist) die einzige Zeitung in der Region. «OV: Oldenburgische Volkszeitung, Mitinhaber: Offizialat und dicke Bauern», notierte Brinkmann.[8] Das galt nicht für die Nazi-Zeit: Waren früher ein Kaplan, danach ein Vikar Chefredakteur des streng katholischen Blattes – politisch war es das Sprachrohr der Zentrumspartei –, wurde dies im «Dritten Reich» nicht geduldet und Hermann Thole zum «Hauptschriftleiter» ernannt. Der Untertitel lautete nun «Tageszeitung für nationale Politik». Kurz nach Kriegsbeginn druckte man die ersten Todesanzeigen: «gefallen für Führer und Volk». Hans Vormoor wurde nur fünfundzwanzig Jahre alt, in der Anzeige stand: «Mit frohem Mut zog er ins Feld, nun hat der Herrgott über ihn bestimmt.» Kreisleiter Pg. Heinrich Voss hielt im «Oldenburger Hof», im Volksmund immer noch «Schäfers Hotel», einen Vortrag: «Warum wir siegen!»[9]

«Ich erinnere, sobald ich das Wort Soldat höre, meinen Vater», heißt es in einem Brief Brinkmanns, «eine Baracke im Wald, eine schwarze Kiste mit blitzenden Maschinengewehrgurten, Funkgeräte, Tiefflieger, dunkle Bahnhöfe, da war ich 3einhalb Jahre alt. Meine Eltern sind tatsächlich an den Folgen des Krieges kaputt gegangen, Zucker, Nierenleiden, Blasenentzündungen, Krebs, Angst, Torf schlagen im Moor, betteln gehen um Eier, Kartoffeln, Brennholz, Tannenzapfen sammeln, Bucheckern sammeln, Alteisen verscheuern, die herumliegende Munition, ein brennendes Flugzeug in der Luft, Fallschirmspringer, alles klar in der klaren leeren nordwestdeutschen Landluft damals zu sehen, Erdbunker, wilde Erdstöße, Luftschutzkeller.»[10]

Diese Bilder gingen Brinkmann nie mehr aus dem Kopf. Immer wieder kam er zurück auf die Schrecken des Krieges, die er als Kind erlebte und die zu seinem Trauma wurden. Ab 1943 kam es zu vereinzelten alliierten Bombardements in der Region. Verdunklung war Pflicht; der Hauswirt, ein überzeugter Nazi, schlich abends ums Haus, um zu prüfen, ob auch alle Fenster verrammelt und die Zimmer komplett verdunkelt waren. «Nachts mit kaltem Schweiß auf der Stirn aufgewacht/pinkeln/halbbewußte Träume: wie ich als 3 & 1/2 jähriger voll Schrecken nachts aus dem Bett klettere/hatte das bis dahin nie gekonnt! Konnte nicht mal übern Tisch sehen da/und da sitzt sie: fremd, unter der verhangenen Lampe, die Fenster verhangen, in der ängstlichen Stille/alles ist still/wilder, mieser, mickriger Hauswirt/Angst, Angst. Krieg/Bombenangriff? Und sie sitzt da, strikt?»[11] Unter gewöhnlichen Umständen ist es für Kinder ein positives Erlebnis: erstmals das eigene Bett selbstständig zu verlassen und auf Entdeckungsreise zu gehen. Doch hier ist es die Angst, die den Jungen treibt. Der Vater ist abwesend, die Mutter, ebenfalls verängstigt, kann ihm nicht das Gefühl von Wärme und Geborgenheit geben.

Es mag sein, dass Brinkmann die geschilderte Szene nicht 1943, sondern erst später erlebt hat. Sie mussten, wohnten sie doch in unmittelbarer Nähe des primären Angriffsziels, die Bomber fürchten, das dürfte sich unausgesprochen auch dem Kind mitgeteilt haben. Er sei «von Anfang an unter dem latenten dumpfen Todesdruck und einer namenlosen Bedrohung aufgewachsen», schrieb Brinkmann über seine Kindheit.[12]

«Doch der größte Schrecken sollte erst noch kommen», heißt es in einer Chronik der Stadt Vechta. Am 24. März 1945 heulten morgens um sieben die Sirenen, und der Rundfunk meldete, große Bomberverbände seien im Anflug. «Bald kamen die ersten fliegenden Festungen und warfen den ersten Bombenteppich auf den Flugplatz. Und dann folgte Welle auf Welle, dass in der ganzen Stadt die Häuser zitterten und die Fenster splitterten. Über dem Flugplatz erhob sich eine furchtbare schwarze Rauchwolke, die den ganzen Himmel verfinsterte, hier und dort von zuckendem Flammenschein durchleuchtet. Es dauerte ungefähr eine halbe Stunde, da war der mit gewaltigen Kosten erbaute große Fliegerhorst Vechta eine rauchende Trümmerstätte: Hin der Glanz der vielen, z.T. luxuriösen Bauten, die...

Erscheint lt. Verlag 18.2.2025
Zusatzinfo Zahlr. 4-farb. u. s/w Fotos
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte 68er-Bewegung • Autorenbiografie • Beat-Literatur • Beatniks • Biografie • Blicke • Buch Brinkmann • Collagen • Dichtung • enfant terrible • Fotografie • Keiner weiß mehr • Köln • Kultautor • Literaturwissenschaft • Lyrik • Poesie • Popliteratur • Rebellion • Rom • Roman • Schriftsteller Brinkmann • Studentenrevolte • Underground • Villa Massimo • Westwärts
ISBN-10 3-644-01876-6 / 3644018766
ISBN-13 978-3-644-01876-1 / 9783644018761
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