Dreck und Glitzer (eBook)
240 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31210-2 (ISBN)
Tex Brasket, geboren 1980 im texanischen Galveston. Von einer deutschen Familie adoptiert kam er im Alter von drei Jahren nach Bayern. 2016 landete er über zahlreiche Umwege in Berlin - und wenig später in der Obdachlosigkeit. Seit 2021 ist er Sänger der Band Slime.
Tex Brasket, geboren 1980 im texanischen Galveston. Von einer deutschen Familie adoptiert kam er im Alter von drei Jahren nach Bayern. 2016 landete er über zahlreiche Umwege in Berlin – und wenig später in der Obdachlosigkeit. Seit 2021 ist er Sänger der Band Slime. Christian Schlodder, geboren 1987 in der südbrandenburgischen Provinz, veröffentlichte Texte unter anderem in der Süddeutschen Zeitung, der taz und auf Zeit Online. Seit 2017 begleitet er Tex' Leben und Werdegang. Er lebt und arbeitet in Berlin.
1 Ist das noch Punkrock?
Hünxe. Was für ein Name. Was für ein Kaff. Bis ich zum ersten Mal da war, hatte ich noch nie davon gehört. Verdorrte Wiesen und Felder ringsum. Ein kleiner Flughafen nebenan. Affenhitze. Hünxe. Schauplatz des Punkfestivals Ruhrpott Rodeo, dem wohl größten Punkfestival in ganz Deutschland.
Hünxe sollte der Ort werden, an dem ich meine erste richtige Feuertaufe als Musiker bestehen würde. Vielleicht kann ich mich deshalb nur noch an Bruchstücke des Tages erinnern. An das kleine eingezäunte Backstage-Areal. An die vielen Begrüßungen und Glückwünsche von allen möglichen Leuten. Manche davon glaubte ich irgendwoher zu erkennen, konnte sie allerdings nicht zuordnen. Andere hatte ich in der nächsten Sekunde schon wieder vergessen … Es ist Freitagabend und ich bekomme das Zeichen, dass wir gleich dran sind. Wir, das ist Slime. Eine der ältesten und – wie manche sagen – einflussreichsten Punkbands des Landes. Und ich bin ihr neuer Sänger.
Kaum drei Jahre vorher war ich noch mehr oder weniger obdachlos, nun sollte ich in die Fußstapfen von Dirk Diggen Jora treten, immerhin knapp vierzig Jahre lang der Sänger und das Gesicht der Band. Im Vorfeld hatte es in Foren und sozialen Netzwerken hitzige Diskussionen darüber gegeben: Ist das noch Punkrock? Ist das noch Slime? Darf ich Slime sein? Es gab viele Skeptiker und ein paar wenige Hater. Meist waren das ein paar Nostalgiker und Hardcore-Fans, die sich Slime mit neuem Sänger schlicht nicht vorstellen konnten oder wollten. Das führte zu ein paar fiesen Kommentaren auf Facebook, Instagram oder unter unseren YouTube-Videos. Neuland für mich.
Es ging mir wirklich am Arsch vorbei. Dem Rest der Band auch, sagten sie. Zumindest bei mir war ich mir sicher. Vor Kurzem hatten wir die ersten Singles des gemeinsamen Albums herausgebracht und von vielen Seiten lobende Worte dafür bekommen. Nun war es Zeit zu schauen, was das Publikum davon hielt. Echt und live. Es war nicht unser erster Auftritt mit mir als neuem Sänger und mit dem neuen Sound. Doch hier in Hünxe waren wir erstmals so was wie ein großer Headliner, nicht nur Vorband. Und wenn wir in den wenigen Monaten zuvor als Hauptact spielten, waren das kleine Läden, wo wenige Hundert Leute auf uns warteten. Nicht 8.000 wie hier. Und ausgerechnet jetzt sollten auch zig Kameras unseren Auftritt aufzeichnen, um daraus die ersten gemeinsamen Live-Mitschnitte zu machen.
Da ist das Zeichen wieder. Ab zum Auftritt bitte. Ich navigiere mich händeschüttelnd und Nettigkeiten austauschend in Richtung Bühne. Für einen kurzen Augenblick beame ich mich gedanklich wieder auf den versifften und eiskalten Beton der Berliner Straßen, auf denen ich so lange gespielt habe. Dorthin, wo ich es einst wagte, von Momenten wie diesem hier zu träumen. Noch vor wenigen Wochen hab ich an irgendwelchen Bahnhöfen gesessen, Gitarre gespielt und auf Kleingeld gehofft. Nun also Hünxe. Ich bin im Tunnel. Die Gitarren kreischen. Es brummt aus den Monitorboxen oder aus dem Publikum oder einfach nur in meinem Kopf. Alles wird lauter, erwartungsvoller. Da unten, vor dieser Bühne, stehen etwa 8.000 Leute. Dann geht es los. Endlich.
»Herzlich willkommen in der Scheiße!«, brülle ich ihnen entgegen. Die Menge tobt. Irre Gesichtsausdrücke, glücklich, wütend, verzückt, verrückt. Nur ich kann mich nicht hören. Unendlich lange Sekunden. Ab da erinnere ich mich nur noch an Schnappschüsse. Was hab ich dem Publikum gesagt? Hab ich was gesagt? Scheiße! Wer weiß, was ich alles von mir gegeben hab. Beim Song »Deutschland muss sterben«, einem Slime-Klassiker, setze ich zu früh ein. Fuck. Ansonsten viele einzelne Momente. Ich glaube sogar, viele krasse. Nur hab ich sie sofort mit den letzten Akkorden vergessen. Reizüberflutung. Aber eine geile!
Nach dem Gig bleibe ich das restliche Wochenende auf dem Festival. Wenn man nicht auf der Bühne stehen muss, ist eigentlich alles entspannt und friedlich. Ich trinke und ballere viel und feiere zu hart mit ein paar musikalischen Helden meiner Jugend. Und wenn ich übers Festivalgelände gehe, gebe ich plötzlich Autogramme. Leute wollen Selfies mit mir machen und noch mehr Gespräche führen. Mal richtig oberflächlich, mal richtig deep. Ich bekomme Telefonnummern, T-Shirts, Platten, Umarmungen und Küsse geschenkt.
Am Montag drauf sitze ich im Jobcenter in Duisburg. Quasi direkt vom Acker in Hünxe. Wahrscheinlich stinke ich wie ein besoffener Biber und torkele wie ein Tanzbär. Ich versuche, dem Mitarbeiter vor mir so gut ich kann meine Situation zu erklären. Ich brauche doch nur eben drei Monate Hilfe. Dann kann ich meine Rechnungen selbst bezahlen. Aber nur, wenn mich das Jobcenter in Ruhe lässt. Keine Maßnahmen bitte. Keine Wiedereingliederung. Ich bin gerade kurz davor, von dem zu leben, was ich immer machen wollte: Musik. Er ist skeptisch – und googelt meinen Namen. Dann reicht er mir die Hand, wünscht mir von Herzen viel Glück und entlässt mich in mein neues Leben.
Die kommenden Wochen verbringe ich in einem wirklich kleinen Do-it-yourself-Tinyhouse irgendwo in Westfalen. Früher schlief ich oft auf der Straße oder in irgendwelchen Punkerhäusern. Zum ersten Mal seit sehr, sehr langer Zeit komme ich zur Ruhe, während sich unser Tourkalender füllt. Mit Shows, von denen ich nie geträumt hätte. Wir spielen in der berühmten Berliner Waldbühne als Support für die Broilers. Dann kommt Wacken. Das berüchtigtste Metal- und Rockfestival im deutschsprachigen Raum. Ein Wahnsinn auf so vielen Ebenen.
Wir sollen am letzten Showtag auftreten. Sonntagmittag. Undankbare Zeit, finde ich. Es ist brütend heiß. Und es wird von Minute zu Minute heißer. Gegen 11.30 Uhr werfe ich einen Blick von der Bühne, es ist die drittgrößte auf dem Gelände. Eine kleine Traube von Menschen hat sich davor versammelt. Vielleicht sind es 150. Maximal. Überall dort, wo sonst Publikum sein sollte, flackert die heiße Luft. Nici, unsere Bassistin, grinst mich ermutigend an. »Dann spielen wir halt nur für ein paar Dutzend von den verkaterten Metallern. Wird trotzdem geil!«, sagt sie.
Dann bekommen wir endlich Bier geliefert. Ich brauche zwei kleine, bevor es losgeht. Noch einmal wagen wir einen Blick vor die Bühne. Scheiße! Die Wiese ist weg. Da draußen stehen plötzlich Tausende Menschen. What the fuck!? So etwas brennt sich in die Erinnerung. Alles ist noch immer klar und präsent. Nicht nur, weil ich bedeutend weniger getankt hatte als beim Ruhrpott Rodeo. Das sind 40.000 Menschen, wird uns gesagt! Mein Adrenalin pumpt um einiges heftiger. In Hünxe hatten wir mehr oder weniger Heimspiel. Das waren Punks. Und wir spielten als eine Art Co-Headliner in den Sonnenuntergang hinein. Hier in Wacken mussten wir diese fünfmal größere Menschenmasse erst einmal davon überzeugen, dass wir es wert waren, um zu dieser unchristlichen Uhrzeit aus dem Schatten zu kriechen und sich maximal restalkoholisiert im prallen Sonnenschein vor eine Bühne zu zwängen. Jetzt mussten wir wirklich liefern. Ich musste wirklich liefern.
Die anderen aus der Band hatten das alles ja schon ein paarmal hinter sich. Aber auch die waren sichtlich angespannt. Ich war seit Kurzem zum ersten Mal seit vielen Jahren vom Amphetamin runter, doch jetzt pochten meine Venen wie nach einer dicken Line. Showtime. »Herzlich willkommen in der Scheiße!« Schon während der ersten Zeile weht uns eine kollektive Energie und eine euphorische Freude entgegen. Und das sollte vom ersten bis zum letzten Akkord so bleiben. Mission accomplished. Wir haben das berühmte Wacken geföhnt! Davon träumen mehr als nur ein paar Musiker. Als Punkband hier überhaupt gebucht zu werden, ist ein Kompliment. Der Applaus von 40.000 verkaterten Metallern aber war ein fucking Ritterschlag. Diese erste Zeit der vielen Vorher-nachher-Momente: Da war Wacken schon was ganz Besonderes.
Bei den ersten Gigs mit Slime hab ich anfangs noch vor und nach jedem Auftritt gekotzt. Nach ein paar Shows dann meistens nur noch danach. Zu Beginn stand ich wie eine Statue auf der Bühne. Irgendwann wurde ich lockerer, mutiger. Als die Setlist richtig saß und sich ein gewisser Automatismus entwickelt hatte, fing ich an, auf der Bühne auch Ansagen zu machen, lauter zu sprechen. Ich begann, mich mehr und mehr zu bewegen, das Mikro aus dem Stativ zu holen und rastlos, wie ein eingesperrtes Raubtier, durch mein Gehege zu toben. Nach ein paar Monaten attestierten mir die Leute so etwas wie Bühnenpräsenz und nannten mich Rampensau. Innerhalb des ersten Jahres nach der Albumveröffentlichung spielten wir sowohl die großen Bühnen als auch die kleinen Kneipen und Szeneschuppen. Traten mal vor 40.000 Leuten auf und mal vor 150. Bühnen, so klein, dass man aufpassen musste, seine Bandkollegen nicht mit seinem Instrument zu erschlagen oder einen von ihnen von der Bühne zu ballern. Viele Hände, die meine Fußgelenke festhielten. Tränen und Bier auf meinen Schuhen. Die Kabel klebten von all den verschütteten Drinks. Konzerte, bei denen die Bühne eher einer Sauna glich. Die Energie unbeschreiblich. Der Gestank auch.
In jedem dieser Momente begreife ich, dass ich es wirklich geschafft habe. Nicht mehr auf der Straße für Kleingeld spielen, sondern auf Tour – mit Hotel und Gage. Plötzlich interessiere ich mich dafür, wie weit wir zur nächsten Show fahren müssen. Wie die Stimmung vor Ort sein wird. Ob der Backstage-Raum halbwegs gemütlich ist und was es zum Abendessen gibt. Ob ich duschen und Wäsche aufhängen darf. Und ob ich mich in...
Erscheint lt. Verlag | 10.10.2024 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | Adoption • Campino • Daniel Ryser • Jan Delay • Lebenskampf • Punkband • Rocko Schamoni • schwierige Kindheit • Selbstfindung • slime • Straßenleben • Straßenmusik • Straßenmusiker • Tocotronic • Überlebensgeschichte • Wahre GEschichte |
ISBN-10 | 3-462-31210-3 / 3462312103 |
ISBN-13 | 978-3-462-31210-2 / 9783462312102 |
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