Der junge Stalin (eBook)
544 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12347-0 (ISBN)
Simon Sebag Montefiore, geboren 1965, britischer Historiker und Journalist, studierte Geschichte an der Universität Cambridge und promovierte in Philosophie. Montefiore verfasste mehrerer preisgekrönte Weltbestseller, die mittlerweile in 48 Sprachen übersetzt sind: »Die Romanows«, »Jerusalem: die Biografie«, »Stalin. Am Hof des roten Zaren« und »Die Welt. Eine Familiengeschichte der Menschheit«.
Simon Sebag Montefiore, geboren 1965, britischer Historiker und Journalist, studierte Geschichte an der Universität Cambridge und promovierte in Philosophie. Montefiore verfasste mehrerer preisgekrönte Weltbestseller, die mittlerweile in 48 Sprachen übersetzt sind: »Die Romanows«, »Jerusalem: die Biografie«, »Stalin. Am Hof des roten Zaren« und »Die Welt. Eine Familiengeschichte der Menschheit«.
EINLEITUNG
»Alle jungen Leute sind doch gleich«, sagte Stalin. »Wozu sollte man also … über den jungen Stalin schreiben?« Doch er irrte sich, denn er war immer anders gewesen. Schon seine Jugend gestaltete sich dramatisch und ungewöhnlich abenteuerlich. Und als er im hohen Alter über die Rätsel seiner frühen Jahre nachdachte, schien sich seine Meinung zu ändern. »Es gibt keine Geheimnisse«, sinnierte er, »die nicht früher oder später allen enthüllt werden.« Für mich als Historiker, der Stalins verborgenes Leben bis zu seinem Erscheinen als führender Helfer Lenins in der neuen Sowjetregierung aufdecken will, hatte er recht, was die Geheimnisse betraf: Es ist nun möglich, viele von ihnen zu enthüllen.
Es gibt nur wenige Arbeiten über den frühen Stalin (verglichen mit zahlreichen über den jungen Hitler), aber der Grund war der, dass kaum Material vorzuliegen schien. Das ist jedoch nicht mehr der Fall. Eine Fülle neuer Unterlagen, die ein Licht auf seine Kindheit und seine Laufbahn als Revolutionär, Gangster, Dichter, angehender Priester, Ehemann und zügelloser Liebhaber wirft, der Frauen und uneheliche Kinder gnadenlos im Stich ließ, schlummerte in den nunmehr geöffneten Archiven, besonders in denen des häufig vernachlässigten Georgien.
Stalins frühes Leben mag undurchsichtig gewesen sein, doch es war nicht weniger außergewöhnlich – und noch turbulenter – als das Lenins und Trotzkis, und es rüstete (und verdarb) ihn für die Triumphe, die Tragödien und das räuberische Verhalten auf der Höhe der Macht.
Seine vorrevolutionären Leistungen und Verbrechen waren viel umfangreicher, als man geahnt hat. Zum ersten Mal lässt sich seine Rolle bei Banküberfällen, Schutzgelderpressungen und anderen Nötigungen, bei den Brandstiftungen, Piraterien und Morden – also dem politischen Banditentum – dokumentieren, die Lenin so sehr beeindruckte. Zugleich erlangte Stalin dadurch genau die Fertigkeiten, die sich im politischen Dschungel der Sowjetunion als unschätzbar wertvoll erweisen sollten. Aber man kann auch zeigen, dass er viel mehr war als ein Gangsterboss: nämlich ein politischer Organisator, Vollstrecker und Meister in der Unterwanderung der zaristischen Sicherheitsdienste. Im Gegensatz zu Sinowjew, Kamenew oder Bucharin, deren Ruf, große Politiker zu sein, sich ironischerweise auf ihre Vernichtung während des Terrors stützt, hatte er keine Angst vor physischen Gefahren. Doch er imponierte Lenin auch als unabhängiger und nachdenklicher Politiker sowie als energischer Redakteur und Journalist, der sich nie scheute, dem Älteren gegenüberzutreten und ihm zu widersprechen. Stalins Erfolg gründete sich zumindest teilweise auf seine außergewöhnliche Verbindung von Erziehung (die er dem Seminar verdankte) mit Straßengewalt. Er war, was selten ist, sowohl ein »Intelligenzler« als auch ein Mörder. Kein Wunder, dass Lenin ihn 1917 als idealen Mitstreiter in seine gewaltsame, bedrängte Revolution einspannte.
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Dieses Buch ist das Ergebnis fast zehnjähriger Recherchen über Stalin in dreiundzwanzig Städten und neun Ländern, hauptsächlich in den erstmals zugänglichen Archiven von Moskau, Tbilissi und Batumi, aber auch in St. Petersburg, Baku, Wologda, Sibirien, Berlin, Stockholm, London, Paris, Tampere, Helsinki, Krakau, Wien und Stanford, Kalifornien.
Der junge Stalin kann für sich allein gelesen werden. Es ist eine Untersuchung von Stalins Leben vor der Macht bis zu seinem Regierungsbeitritt im Oktober 1917, während mein letztes Buch, Stalin. Am Hof des roten Zaren, ihn als Machthaber bis zu seinem Tod im März 1953 behandelt. Beides sind persönliche Berichte über den Menschen und Politiker, doch auch über sein Milieu. Ich hoffe, dass sie gemeinsam eine Einführung in das Leben des am schwersten fassbaren und faszinierendsten Giganten des zwanzigsten Jahrhunderts bilden und die Entwicklung und frühe Reife des ultimativen Politikers aufzeigen können. Welcher Mangel an Einfühlungsvermögen, hervorgebracht durch Stalins Erziehung, ermöglichte ihm, so unbekümmert zu töten, und welche Eigenschaft machte ihn andererseits so geeignet für das politische Leben? Waren der Schuhmachersohn von 1878, der idealistische Seminarist von 1898, der Bandit von 1907 und der vergessene sibirische Jäger von 1914 dazu bestimmt, zum fanatischen marxistischen Massenmörder der Dreißigerjahre und 1945 zum Eroberer von Berlin zu werden?
Meine beiden Bücher sind nicht als erschöpfende Darstellung jedes politischen, ideologischen, wirtschaftlichen, militärischen, internationalen und persönlichen Aspekts von Stalins Leben zu werten. Diese Aufgabe ist, in unterschiedlichen Epochen, bereits vorzüglich von zwei Wissenschaftlern erfüllt worden: von Robert Conquest, dem Doyen der Stalin-Geschichtsschreibung, mit seinem Buch Stalin. Der totale Wille zur Macht, und, in jüngerer Zeit, von Robert Service mit Stalin. A Biography. Ich glaube nicht, dass ich ihren breit angelegten Arbeiten etwas hinzufügen könnte.
Ich brauche mich nicht dafür zu rechtfertigen, dass meine beiden Bücher streng auf das intime und geheime, politische und persönliche Leben Stalins und des kleinen Kreises konzentriert sind, der die Sowjetunion begründen und bis in die Sechzigerjahre beherrschen sollte. Wir sind ebenso wenig frei von Ideologie wie einst die Bolschewiki, doch die neu zugänglichen Archive zeigen, dass das Wesen der Politik unter Lenin und Stalin von den Persönlichkeiten und der Patronage einer winzigen Oligarchie bestimmt wurde, genau wie unter den Romanow-Zaren – und genau wie heute in der »gelenkten Demokratie« Russlands im einundzwanzigsten Jahrhundert.
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Stalins verlängerte Jugend ist immer und in vieler Hinsicht ein Rätsel gewesen. Vor 1917 pflegte er die Mystik des Ungewissen, spezialisierte sich jedoch auch auf die »finstere Arbeit« der Untergrundrevolution, die ihrem Charakter nach verschwiegen, brutal und unerlässlich, aber eben auch verrufen war.
Nachdem Stalin an die Macht gelangt war, brauchte er für seine Propaganda, sich als Lenins Nachfolger zu preisen, einen legitimen, heldenhaften Lebenslauf, den er wegen seiner Erfahrungen im, wie er es nannte, »schmutzigen Geschäft« der Politik nicht besaß. Darüber durfte er sich jedoch nicht auslassen, weil die Umstände entweder zu banditenhaft für einen großen, paternalistischen Staatsmann oder zu georgisch für ein russisches Oberhaupt waren. Seine Lösung war ein ungeschickter, doch umfassender Persönlichkeitskult, mit dem er die Wahrheit fingierte, zurechtbog und verschleierte. Ironischerweise war diese Selbstdarstellung so grotesk, dass sie – manchmal harmlose – Funken entfachte, die sich zu enormen Verschwörungstheorien gegen Stalin auswuchsen. Seinen politischen Gegnern – und später uns Historikern – fiel es nicht schwer zu glauben, dass alles erfunden war und er nicht sehr viel geleistet haben konnte, zumal wenige Historiker im Kaukasus, wo sich ein großer Teil seiner frühen Laufbahn abspielte, geforscht hatten. Um die Verschwörungstheorien entwickelte sich ein Anti-Kult, der so falsch war wie der Kult selbst.
Das faszinierendste Gerücht lautete: War Stalin ein Doppelagent der Geheimpolizei des Zaren? Seine eigenen berüchtigtsten Geheimpolizisten, Nikolai Jeschow und Lawrenti Berija, forschten in aller Stille nach Beweismaterial gegen Stalin, falls er sich gegen sie wenden sollte – was er bekanntlich ja auch tat. Es ist aufschlussreich, dass keiner von beiden trotz der unbegrenzten Nachforschungsmöglichkeiten des NKWD, über die sie verfügten, je einen hieb- und stichfesten Beweis fand.
Aber es gibt ein noch tiefgehenderes Rätsel: Fast jeder Historiker hat schon einmal Trotzkis Behauptung zitiert, Stalin sei 1917 eine provinzielle »Mittelmäßigkeit« gewesen, oder auch Suchanows Beschreibung des Georgiers als eines »grauen Flecks«. Die meisten Historiker schlossen sich Trotzkis Meinung an, Stalins Durchschnittlichkeit habe ihn davon abgehalten, 1905 und 1917 in die Ereignisse einzugreifen, wodurch er, mit Robert Slusser, zu dem »Mann, der die Revolution verpasste«, geworden sei.
Wenn das zutrifft, wie konnte der »Mittelmäßige« dann die Macht ergreifen, begabte Politiker wie Lenin, Bucharin und Trotzki selbst überlisten und sein Programm der Industrialisierung, seinen brutalen Krieg gegen die Bauernschaft und den abscheulichen Großen Terror entfalten? Wie wurde der »Fleck« zu jenem mörderischen, doch überaus effektiven Weltstaatsmann, der zum Aufbau und der Industrialisierung der UdSSR beitrug, der Churchill und Roosevelt übertrumpfte, Stalingrad organisierte und Hitler besiegte? Der Mittelmäßige von 1917 und der Koloss des zwanzigsten Jahrhunderts könnten, so scheint es, nicht derselbe sein. Wie also verwandelte sich der eine in den anderen?
In Wirklichkeit handelt es sich unzweifelhaft um ein und denselben Mann. Feindliche und ihm gewogene Zeugen berichten gleichermaßen, dass Stalin schon in seiner Kindheit ein außergewöhnlicher Mensch gewesen sei. Wir stützen uns schon viel zu lange auf Trotzkis bis zur Unkenntlichkeit voreingenommene Darstellung. Die Wahrheit war eine andere. Trotzkis Ansicht verrät uns mehr über seine eigene Eitelkeit, seinen Snobismus und seinen Mangel an politischem Geschick als über den frühen Stalin. Deshalb besteht das erste Ziel dieser Arbeit darin, Stalins Aufstieg wahrheitsgetreu und so frei wie möglich vom Stalinkult oder den antistalinschen Verschwörungstheorien nachzuzeichnen.
Es gibt eine Tradition von Biografien, die der frühen Laufbahn großer Staatsmänner...
Erscheint lt. Verlag | 14.12.2024 |
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Übersetzer | Bernd Rullkötter |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | Bolschewismus • Geheimpolizei • Georgien • geschenk für den freund • Geschenk für Geschichtsfans • Lenin • Malinowski • Marxismus • Neues Sachbuch 2024 • Pogrome • Russische Geschichte • russische Hegemonie • Russische Revolution • russischer Imperialismus • Russland • Sibirien • Sowjetunion • Trotzki |
ISBN-10 | 3-608-12347-4 / 3608123474 |
ISBN-13 | 978-3-608-12347-0 / 9783608123470 |
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