Louis-Ferdinand Céline (eBook)
160 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-02052-8 (ISBN)
Ulf Geyersbach, geboren 1969, aufgewachsen in Erfurt, Eppstein-Bremthal, Freiburg im Breisgau, Lyon, Berlin. Publizistik, Literatur, Humor. 2001 gibt er die Live-CD «asphaltpoeten» heraus, die in die Hörbuchdatenbank des Goethe-Instituts Kopenhagen eingeht. Seit 2013 Publizist, Kulturveranstalter, Upcycling-Möbeldesigner. Buchveröffentlichungen: «Schöner Leiden. Die schönsten Krankheiten und die größten Hypochonder des Universums» (Berlin 2004); «Fußballdeutsch. Ein Wörterbuch» (Berlin 2006). Der Bildband «? ... und so habe ich mir denn ein Auto angeschafft?. Schriftsteller und ihre Automobile» (Berlin 2006) erringt 2007 den MPC Autobuch-Preis für das schönste Autobuch des Jahres; «Machandels Gabe» (Hamburg 2010).
Ulf Geyersbach, geboren 1969, aufgewachsen in Erfurt, Eppstein-Bremthal, Freiburg im Breisgau, Lyon, Berlin. Publizistik, Literatur, Humor. 2001 gibt er die Live-CD «asphaltpoeten» heraus, die in die Hörbuchdatenbank des Goethe-Instituts Kopenhagen eingeht. Seit 2013 Publizist, Kulturveranstalter, Upcycling-Möbeldesigner. Buchveröffentlichungen: «Schöner Leiden. Die schönsten Krankheiten und die größten Hypochonder des Universums» (Berlin 2004); «Fußballdeutsch. Ein Wörterbuch» (Berlin 2006). Der Bildband «‹ ... und so habe ich mir denn ein Auto angeschafft›. Schriftsteller und ihre Automobile» (Berlin 2006) erringt 2007 den MPC Autobuch-Preis für das schönste Autobuch des Jahres; «Machandels Gabe» (Hamburg 2010).
Ein Lebensroman
Céline. Doktor Destouches
Céline hat zunächst sich selbst getäuscht, sodann den Leser, der getäuscht werden will, das ist das Wesen der Kunst. Van Gogh, der Wirrkopf mit dem abgeschnittenen Ohr – daß er im Wahnsinn umkam, das ist doch Werbung! (P, 25) Marlon Brando, der Quälgeist mit dem unersättlichen Appetit auf billige Frauen, billige Rebellion und billiges Fast Food. Ernest Hemingway – ein Leben als flintenschulternde Mannsbildpose, dieweil Andy Warhol den hohlwangigen Hypochonder gibt, die New Yorker Society-Nudel mit der Wischmoppfrisur. Jedem seine Rolle.
Kunst ist Legendenbildung. Was taugte die moderne Kunst im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit ohne die Selbstinszenierung des Künstlers? Hätte ein Céline einen Stich gemacht mit dem braven Image des empfindsamen, stattlichen, gebildeten, sympathischen, sportlichen, charmant-anziehenden («überall hing man förmlich an ihm»[1]) Jünglings, der er einst war? Everybody’s Darling, in englischen Zwirn gekleidet, ein echter Gentleman, zugleich den Damen, dem Essen und Reisen hingegeben, leuchtend blaue Augen, der Charme auf zwei Beinen – so tritt dem Leser Doktor Destouches gegenüber zu einer Zeit, da er keine Kunst produziert und im Diesseits lebt. Das Leben als Künstler ist ein Leben für die Nachwelt, und wenn die Nachwelt dich leben lässt, dann in deiner Legende. «Kein Film ohne Reklame, keine Reklame ohne Legende, ohne Legende kein Star.» (Jörg Fauser) Gäbe es einen äußeren Rand dieser biographischen Inszenierungsbemühungen, dann tummelte sich dort Louis-Ferdinand Destouches neben den Artauds, Genets, Bukowskis dieser Welt. Noch über den Tod hinaus gibt der «primäre Kotzer und Spucker» (Gottfried Benn über Céline), der hypersensible Fundamentalhasser, der tierliebende Antisemit mit den übereinandergetragenen Holzfällerwesten – jeder Weste entspricht eine Namenshülle –, der zynische Moralist, der Chefpoet maudit und «Höllenclown» (Klaus Theweleit) dem Leser zwei der Paraderollen zum Besten, die er nach der Publikation seines Erstlingsromans perfektioniert hat. «Louis-Ferdinand Céline – Docteur L.-F. Destouches», so steht es auf seinem Grabstein, der ruht im Friedhofskies von Vieux-Meudon. Hier soll er beerdigt sein, glaubt man der zweifachen Namensinschrift, der unverstandene Schriftsteller und aufopferungsvolle Armenarzt. Dabei wurde kaum je ein Autor so verstanden von seiner Zeit; und jener Doktor Destouches, von dem im Folgenden die Rede ist, war lange Zeit Medizinalbeamter des Genfer Völkerbunds, sodann festangestellter städtischer Polikliniker im Pariser Speckgürtel, Werbetexter – alles andere als der mythenumrankte Armenarzt, der er zu sein vorgab.
«Außerdem war er ein sentimentaler Mensch, ein Fetischist, der alles aufbewahrte, sogar eine zerbeulte alte Kasserolle seiner Mutter. Ich brauchte fünfundzwanzig Jahre, um ihn kennenzulernen. Ihn zu verstehen ist leichter, als ihn zu erklären, denn meist sagte er das Gegenteil von dem, was er dachte. Zärtliche Anwandlungen gestattete er sich nicht, vielmehr gab er sich aggressiv, und sogar mir gegenüber benahm er sich zuweilen schrecklich.»
Lucette Destouches: Mein Leben mit Céline. München 2003, S. 34
Célines Leben fügt sich dem, der es aufzufächern sucht, zu einer monumental-rhapsodischen Selbstschöpfung. Folglich erzählen seine monologisch ausgreifenden Phantasmagorien – nicht zufällig ist er am Drama, der dialogischen Kunst, und am Ballett gescheitert – zunächst ihm etwas, dem Autor. Schreiben als Selbstgespräch, noch die Zehntausende Briefe sind umweht vom Mantel der Selbstinszenierung: jedem Anlass die angeschmiegte Erzählpose. Ich sag es Ihnen, die Welt ist nichts als eine Riesenunternehmung zum Bescheißen der Leute. (R, 90) Uns, dem Leser, der auf den Spuren dieses Lebens wandelt, erzählen solche Spuren oft das keck überdrehte Extrem, das grotesk verzerrte Detail, das Gegenteil der «wahren» Begebenheit.
Ein Schriftsteller muss seine Biographie erfinden, keiner folgte dieser Erkenntnis so kompromisslos wie Céline. Und die solcherart erfundene Biographie überlagert die reale Person, bis von ihr nichts bleibt als die Vexierspiegel der Rollenmuster. Die Lüge ist Trumpf, Wahrheit ist hier allenfalls etwas fürs Museum. Niemand kann die Wahrheit ertragen. (Alméras 1994, 121) Ohne Lüge keine Fiktion, keine Literatur, keine Poesie. Denn die Lügen sind der Reichtum der Armen (R, 529). Mehr noch, so der Kern seines Menschenbildes: Der Mensch ist eine Lügenmaschine […]. (EC, 163) Es verwundert kaum, dass Célines Erzähler an jenen Stellen brillieren, da sie der Welt einen Bären aufbinden – und ihr Schöpfer, der «Verwandlungskäfer» (Klaus Theweleit), ist ein Meister im Aufbinden plumper Bären. Und er ist stolz darauf, so heißt es im Brief vom 9. April 1933 an den Jugendfreund Joseph Garcin: Das Monster setzt seinen Weg auf unerwarteten Pfaden fort. Die Kritik redet Blödsinn, ich bin der Sonderling, und ich werde weiterhin den Kasper geben, das ist nun mal meine Art – wie du weißt. Ich werde ihnen etwas Ordentliches vorsetzen […]. Lügen, den letzten Mist erzählen, darauf kommt es an, Garcin. Man muss den Leuten geben, was sie hören wollen, die Wahrheit hat ausgedient […]. (Alméras 1987, 66)
Leser wollen getäuscht werden, und die biographische ist die vergeblichste aller Künste, lehrt uns Céline: Ich glaube nicht, dass die Bekanntschaft mit dem Autor ein Werk zu erläutern vermag. (Alméras 1987, 64) Die wahre Fiktion dieses Werkes ist das Leben seines Autors. Die erste Rolle dieses Lebensromans wird jene sein des Proletariers aus dem angeblichen Arbeitervorort Courbevoie; dabei entstammt Céline dem mittleren Bürgertum des Fin de Siècle. «Er ist bürgerlichen Ursprungs. Das darf nicht vergessen werden.»[2] Er legt sich die Rolle des lebensgefährlich verletzten Kavalleriegefreiten des Ersten Weltkriegs zu; da begegnet uns im London der ersten Weltkriegsjahre ein Möchtegernzuhälter, der wenig später im afrikanischen Dschungel in den Tropenanzug des gewinnsüchtigen Abenteurers schlüpft. Die Lebensstationen des Louis-Ferdinand Auguste Destouches lesen sich folglich wie ein Roman: Da sind die Aufenthalte in deutschen und englischen Pflegschaftsanstalten: der Internatsroman; da sind die Wirren des Ersten Weltkriegs: der (Anti-)Kriegsroman (Wir erlebten einen großen Ritterroman, schlüpften in die Rolle phantastischer Helden, obgleich wir hinter dieser Verkleidung am ganzen Leib, mit ganzer Seele lachhaft schlotterten [R, 131]). Da ist der Abstecher nach Kamerun als Kautschuk- und Kakaohändler: der Abenteuerroman; da ist der smarte Medizinstudent, der die Übel der Welt bei der Wurzel packt: der Arztroman. Ein Lebensroman zwischen Kaiserzeit und Kaltem Krieg?
Immerhin hat da einer allerhand erlebt, bis er mit achtunddreißig Jahren das Wort «fin» unter ein Typoskript setzt, das ihm «über Nacht» Weltruhm beschert: Reise ans Ende der Nacht. Rasch galt der «Erfinder» des literarischen anarchistischen Nihilismus als gefeierter Neuerer, der Tempo, lebenspralle Unflätigkeiten und gemeinhin ausgesparte niedere Gesellschaftsschichten der bürgerlichen Literatur mit modernen erzählerischen Mitteln (wieder) erschlossen hatte. Ein Wegbereiter und in seiner französischen Lesergemeinde alles andere als ein esoterischer Geheimtipp. Wer sich die Literatur des 20. Jahrhunderts als Stammbaum vorstellt, erstarrt beim Anblick des Astes und seiner Verzweigungen, der auf diesen Höllenclown zurückgeht. Last Exit Céline: «Céline ist ein großer Befreier.» (Philip Roth)
In Kliniken und Irrenhäusern sind seine Romane und Erzählungen, seine Märchen, Theaterstücke und Ballette angesiedelt, in übervölkerten Vorstädten und Music Halls, auf Schlachtfeldern, in verheerten Provinzflecken und Spelunken, in Keller-Dancings, Pfandleihanstalten, in Puffs, Holzbaracken, ranzigen Zellentrakten – Orte, die die kleinbürgerliche Welt als dunkle Seite des Lebens imaginiert. Der Satan, der sprühende Wortvulkan – wer diesem Nachbild Glauben schenkt, geht einem Verkleidungskünstler ins Netz, der seinesgleichen sucht in der Literatur der nahen Gegenwart. Ob er als Bardamu in Erscheinung tritt, als Robinson, als Ferdinand, als Louis-François Deletang (Handelsvertreter, wohnhaft 161, Rue de la Convention – wie ein gefälschtes Passdokument kündet), oder als Louis Courtial durch dänische Gefilde streift, kaum je treffen wir auf einen rücksichtsloseren Inszenierungskünstler, der, den Brüchen seiner Biographie folgend, in seine Rolle zu schlüpfen weiß: um von sich reden zu machen; um Bücher zu vermarkten; um zu gefallen – oder zu provozieren; um sich zu verstecken oder um den Hals aus der Schlinge zu ziehen.
Gelegentlich scheint es, als wollte dieser Geist über sich hinausschießen; sich sämtlichen Posen anschmiegen, die dem ehrgeizigen, mit den Mitteln hoher Intelligenz gesegneten Bohemien der Jahrhundertwende einfallen mögen in seiner gehobenen Absteige der Rue Lepic, die hinaufführt zum Montmartre, Métro Abesses. Als wollte ein begabter Hitzkopf sämtlichen ideologischen Unrat des 19. wie des beginnenden 20. Jahrhunderts unter seine Schädeldecke bannen. Antihumanist ist er gewesen, Antidemokrat, Antimaterialist; Antikommunist, Antinatalist, Antijournalist, so sagt man, glühender Patriot,...
Erscheint lt. Verlag | 17.10.2023 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | Antisemitismus • Arzt • Erster Weltkrieg • Faschismus • Frankreich • «Krieg» • Monografie • Nationalsozialismus • «Reise ans Ende der Nacht» • Schriftsteller • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-644-02052-3 / 3644020523 |
ISBN-13 | 978-3-644-02052-8 / 9783644020528 |
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