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Stadtläufer -  Eckhart Ribbeck

Stadtläufer (eBook)

Reiseerinnerungen 1970-2010
eBook Download: EPUB
2023 | 2. Auflage
456 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7568-9525-0 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
18,99 inkl. MwSt
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"Stadtläufer" ist ein sehr persönliches Reise- und Erinnerungsbuch des Stadtforschers und "Stadtläufers" Eckhart Ribbeck mit einem Streifzug durch die urbane Welt der 1970-2000er Jahre: afrikanische Provinzstädte, die Megastädte Lateinamerikas, orientalisch-islamische Altstädte, neue Boom-Städte am Golf, die uralten Städte Usbekistans, Tempel-Städte in Nepal, indische und chinesische Metropolen, Oasensiedlungen im Oman...

Eckhart Ribbeck, Stadtforscher und Autor. Zahlreiche Publikationen, internationale Projekte, Exkursionen und Forschungsaufenthalte in Asien, Afrika und Lateinamerika.

I.
Vorspiel


Berliner Wurzeln, Architekturstudium,
ostafrikanische Impressionen
:
Berlin, Schwerin, Heidelberg, Aachen, Stuttgart,
Sambia, Kenia, Algier, Vancouver

1 Obwohl meine Familie nicht das zentrale Thema dieser Aufzeichnungen ist, muss ich etwas familiär beginnen. Man kann es nicht anders sagen: Mein Start ins Leben war holprig und einem Kleinkind wenig angemessen. An die frühe Kindheit, also an die letzten Kriegsjahre in Berlin, habe ich gar keine Erinnerung und das ist auch gut so. Ich weiß also nicht, ob und wie sich meine ersten Schritte im Bombenhagel, der fast täglich auf Berlin und Umgebung niederging, in mein Unterbewusstsein eingeprägt haben. Bis heute ziehe ich es vor, diese mentale Altlast nicht näher zu erforschen.

Meine früheste Erinnerung ist also kein Familienidyll und kein friedlicher Spielplatz, wie es sich für einen Dreijährigen gehört, sondern endlose Soldaten- und Flüchtlingstrecks, die sich von Berlin nach Westen bewegten. Mein erstes klares Erinnerungsbild ist ein Bauernhof, wo plötzlich auf Augenhöhe ein riesiger Ganter mit ausgebreiteten Flügeln vor mir steht und bedrohlich zischt. Ich weiß nicht mehr, wer oder was mich gerettet hat, kann aber sagen, dass ich heute keinen Groll mehr auf Gänse hege.

Der Flucht aus Berlin folgte eine normale, wenn auch vaterlose und materiell reduzierte, aber freie Kindheit in Schwerin. Spielplätze gab es nicht, dafür abenteuerliche Hinterhöfe, verwilderte Seeufer, schrottige Industrie- und andere Brachen, die wir Kinder weitgehend frei bespielten. Niemand hielt uns auf, wenn wir auf die kleine Hafenbahn auf- und absprangen oder über hohe Mauern kletterten, um die Kirschbäume des Hospitals zu plündern. Niemand schritt ein, wenn wir Weltkriegswaffen und Munition aus dem See fischten, die Patronen auf die Schienen legten und hinter der nächsten Ecke auf das höllische Geknatter warteten, wenn die Straßenbahn darüberfuhr.

Schwimmen lernte ich und andere Kinder auf eigene Faust in einem Seitenkanal des Schweriner Sees und wundersamerweise erreichten alle wieder das rettende Ufer. Unter den Brücken gab es seitlich eingelassene Druckkammern, in die man nur durch ein unter Wasser liegendes Loch gelangte. Diese lichtarmen Höhlen waren Schauplatz einer gefährlichen Mutprobe, die darin bestand, auf das nächste Schiff zu warten, wobei der Wasserpegel bedrohlich bis zum Hals anstieg. Ein Spielparadies war auch die Schilfwildnis am See mit labyrinthischen Trampelpfaden und versteckten Lagerplätzen – heute ein exklusives Freizeitrevier mit Bootshäusern und Segelbooten.

Kurzum, die ganze Stadt war ein großer und spannender Spielplatz, den wir nach der Schule unbegrenzt durchstreiften. Es war damals normal, die Freizeit ohne Aufsicht zuzubringen. Das war aber nicht der Nachlässigkeit der Eltern geschuldet, sondern der harten Realität der Nachkriegsjahre: Die Väter waren gefallen oder in Gefangenschaft und der Aufbau des DDR-Sozialismus forderte einen schonungslosen Arbeitseinsatz der Frauen, einschließlich der alleinerziehenden Mütter. Eine Alternative waren die staatlich organisierten „Jungen Pioniere”, denen ich und meine Schwester, warum auch immer, aber nie beitraten. Ich bin überzeugt, dass diese Kinderjahre in Schwerin eine Grundhaltung eingeübt haben, die sich weniger in der Schule, sondern erst später als fruchtbar erwies: der Hang zur kreativen Selbstbeschäftigung und eine ausgeprägte Unfähigkeit zur Langeweile.

Im Gegensatz zum abenteuerlichen Spiel ist meine Erinnerung an die ersten Schuljahre seltsam leer, eine fast absolute Nicht-Erinnerung. Schulweg, Schulgebäude, Lehrer, Mitschüler, Schulfeiern – nur wenige vage Bilder tauchen da auf. Unvergessen ist aber der erste Satz aus dem russischen Lesebuch: „Нина, Нина и kатина, это трактор и двигатель“ – Nina, Nina und Katina, das ist ein Traktor und ein Motor.

Die Ausreise aus der DDR war vor dem Mauerbau relativ einfach und so packte unsere Mutter eines Tages den Koffer und fuhr mit uns in den Westsektor Berlins. Schon wenige Tage später fanden wir uns per Luftbrücke inmitten einer wunderbaren Berglandschaft in Bad Reichenhall wieder. Ich glaube nicht, dass ich diese als Kind angemessen gewürdigt habe, denn als gebürtiger Flachländer fand ich die Berge, hinter denen die Sonne oft schon am Nachmittag verschwand, eher bedrohlich, ebenso die Gewitter, deren gewaltiger Donner minutenlang zwischen den Felswänden widerhallte. Auch gestalteten sich meine Entdeckungstouren in dem unbekannten Gelände schwierig, wie bei einer spontanen Gratwanderung in Turnschuhen und kurzer Lederhose, die nur dank des guten Wetters folgenlos blieb. In schöner Erinnerung ist mir aber das Flusstal der Saalach mit seinen Kiesbetten und verwunschenen kleinen Inseln, wo wir ganze Nachmittage hingebungsvoll spielten, Zeit und Welt vergessend.

2 Die nächste und dauerhafte Station war Heidelberg, wo ich meine Jugend und Gymnasialzeit verbrachte. Es war sicher ein Glücksfall, in einer der schönsten deutschen Städte aufzuwachsen und nicht in einer gesichtslosen Industriestadt der 1950/60er Jahre. Heidelberg war damals nicht so herausgeputzt wie heute, der Bombenkrieg hatte die Stadt zwar verschont, aber die Altstadt war desolat und die Hinterhöfe chaotisch überbaut. Niedrige Mieten zogen Studenten und andere einkommensschwache Gruppen an, darunter die ersten Gastarbeiter aus Italien und der Türkei. Manche nannten die Altstadt mit ihren Kneipen, Nachtleben und Drogen auch Klein-Amsterdam. Aufgemischt wurde das Milieu durch die Amerikaner, die in Heidelberg ihr Hauptquartier hatten und die nächtlichen Streifen der amerikanischen Militärpolizei, die in diversen Kneipen ihre GIs einsammelte, waren ein vertrautes Bild.

Man schickte mich ins Gymnasium Wiesloch, eine Kleinstadt südlich von Heidelberg. Bis heute weiß ich nicht, warum ich dort und nicht in Heidelberg in die höhere Schule ging wie meine Schwester. Ein handfester Vorteil war immerhin, dass mir der tägliche 10-Kilometer-Schulweg mit dem Fahrrad bei Wind und Wetter eine dauerhafte Grundfitness verschafft hat, die auch durch spätere ungesunde Gewohnheiten kaum gelitten hat. Nur an besonders kalten und schneereichen Wintertagen fuhren wir mit einer antiken Kleinbahn, in deren Waggon ein Kohleofen glühte und die in jedem Weiler hielt, weshalb wir das Bähnchen auch „Entenmörder“ nannten.

Anders als die Grundschule ist mir das Kleinstadt-Gymnasium in lebhafter Erinnerung. Die Lehrer, oft ehemalige Kriegsteilnehmer, pflegten aus heutiger Sicht einen bedenklichen, aber unterhaltsamen Unterrichtsstil, letzteres vor allem für diejenigen, die gerade nicht „dran” waren und mit rotem Kopf an der Tafel standen. Ich stelle dazu fest, dass meine heute fast liebevolle Erinnerung an diese Schuljahre sich vor allem an den schrulligen Lehrkräften festmacht, während es von den pädagogisch Korrekten kaum etwas zu berichten gibt, außer vielleicht von einem heftigen Flirt mit der Französischlehrerin. Wo gibt es denn heute noch einen Mathe-Lehrer, der einem Schüler als Berufsempfehlung „Schafhirte auf der Alm” mit auf den Weg gibt? Wer vergleicht heute seine Schüler in schönster Metaphorik mit einem Möbelwagen, der am Röhrbuckel stecken geblieben ist und den es, gemeinsam mit anderen Lehrern, fortzuschieben gilt? Pädagogisch fragwürdig war auch der Musiklehrer, wenn er die im Stimmbruch befindlichen Knaben zwang, nacheinander ein Lied zu krächzen, mit Klavierbegleitung und unter dem Gelächter der ganzen Klasse, insbesondere der Mädchen. Ich stelle mir vor, dass noch heute manch einer der ehemaligen und jetzt 80-jährigen Mitschüler rote Ohren bekommt, wenn er an diese Demütigung denkt.

Es war in der Tat keine Wohlfühl- und Kuschel-Pädagogik, aber auch die schrulligsten Lehrkräfte zeigten ab und an ein menschliches Gesicht. Wie unsere alleinstehende und kinderlose Klassenlehrerin, die uns bei Klassenfahrten und Schulheimaufenthalten „Wildgänse rauschen durch die Nacht” und „Gold und Silber mag ich sehr”, singen ließ, was sie an ihre Studentenzeit erinnerte und zu Tränen rührte. Ich habe den Verdacht, dass ihr unsere Klasse, trotz ihres unerbittlichen Unterrichtsstils, in Wirklichkeit die Familie ersetzte. Im Übrigen verdanke ich es ihrer Geografie-Stunde, dass ich heute noch – zum amüsierten Erstaunen meiner amerikanischen Enkelin – die nordamerikanischen Städte von Nord nach Süd und von Ost nach West lückenlos aufsagen kann.

Generell war in jener Zeit der Selektionsdruck im Gymnasium wesentlich größer als heute. Nur zehn Prozent eines Jahrgangs machten das Abitur und viele waren froh, wenn sie die „mittlere Reife” schafften. Wer diese kritische Schwelle jedoch überschritt, konnte sich auf ein gewisses Wohlwollen beim Abitur verlassen, denn er zählte fast schon zur Elite. Natürlich hatte die Selektion nicht nur...

Erscheint lt. Verlag 3.2.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
ISBN-10 3-7568-9525-4 / 3756895254
ISBN-13 978-3-7568-9525-0 / 9783756895250
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