Um unsere Webseiten für Sie optimal zu gestalten und fortlaufend zu verbessern, verwenden wir Cookies. Durch Bestätigen des Buttons »Akzeptieren« stimmen Sie der Verwendung zu. Über den Button »Einstellungen« können Sie auswählen, welche Cookies Sie zulassen wollen.

AkzeptierenEinstellungen

Entgrenzung (eBook)

Die Biologisierung der Technik und die Technisierung der Biologie
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
208 Seiten
Felix Meiner Verlag
978-3-7873-4292-1 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
18,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Dieser Band beschäftigt sich mit der Biologisierung der Technik und der Technisierung der Biologie, wie sie heute in Robotik, Architektur und Materialdesign zum Tragen kommt, aber auch in der Weise, wie technisches Wissen über Natur produziert und zur Geltung gebracht wird. Ob Flugzeugdesign, klimaangepasste Architektur oder der Einsatz von Robotern im Körperinneren: Die Grenzen zwischen Biologie und Technik verschwimmen zusehends. Wissensproduktion, Produktdesign und Produktherstellung haben dabei ihren Ausgangspunkt in morphologischen Konzepten und Praktiken, die auf eine sehr lange Geschichte der Formerforschung zurückblicken. Marco Tamborini erzählt von der Zirkulation morphologischen Wissens zwischen Biologie, Ingenieurwissenschaft und Architektur seit dem frühen 20. Jahrhundert, untersucht aber auch die damit verbundenen philosophischen Fragen: Was ist Natur, was ist Technik? Worin besteht der Unterschied zwischen Lebendigem und Maschinen? Wie wird technisches Wissen über Natur erzeugt und welchen Einfluss haben dabei soziale und ökonomische Faktoren? Anhand einiger Fallstudien dieser Entgrenzung von Technik und Biologie wird gezeigt, wie die Zirkulation von Wissen mit seiner Produktion verknüpft ist und welche Ursachen und Folgen die Überschreitung der disziplinären und methodischen Grenzen zwischen Biologie und Technik hatte und hat. Der Zugang über das »Rätsel der Form« erweist sich dabei als sinnvoller methodischer Ansatz, mit dessen Hilfe die klassische Wissenschaftsgeschichte um die Untersuchung der Zirkulationsdynamik von Wissen erweitert werden kann.

Marco Tamborini lehrt und forscht in den Bereichen Wissenschaftstheorie, Technikphilosophie und -geschichte am philosophischen Institut der Technischen Universität Darmstadt. Er ist Mitglied der »Jungen Akademie | Mainz« sowie der »Johanna Quandt Young Academy«. Er war Pre-Doc am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte und Visiting Fellow am Clare Hall College (Cambridge University) sowie Gastwissenschaftler an der Scuola Normale Superiore (Pisa) und am BioRobotics Institute (Sant'Anna School of Advanced Studies). Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Geschichte und Philosophie der Evolutionsbiologie, der Morphologie, der Robotik, der Bionik, der bioinspirierten Architektur, der KI und der Paläontologie sowie der Geschichte und Philosophie der Technowissenschaften. Sein letztes Buch, The Architecture of Evolution: The Science of Form in Twentieth-Century Evolutionary Biology, wurde von der University of Pittsburgh Press veröffentlicht.

EINLEITUNG


Die architektonische und ingenieurtechnische Herstellung komplexer Formen wird heute mehr denn je durch das Studium organischer Formen beeinflusst. Mit Hilfe von Robotik und 3D-Druckern lässt sich die Industrie des 21. Jahrhunderts von den organischen Formen der Natur inspirieren und geht den Geheimnissen ihrer Entwicklung und Funktion auf den Grund, um neue Materialien zu schaffen. Das US-Softwareunternehmen Autodesk arbeitete beispielsweise mit dem europäischen Konzern Airbus zusammen, um Flugzeuge zu entwerfen, die weniger wiegen und damit Treibstoff sparen. Dafür scannten sie die Struktur der Blattfäden der riesigen dänischen Seerose. Anhand des Verständnisses der Struktur der Blätter waren sie in der Lage, Materialien zu entwickeln, die die innere Struktur eines Flugzeugs neu gestalteten.

Ein weiteres Beispiel für die Beeinflussung organischer Form im Bereich des Designs ist der interessante Mechanismus, aber auch das Material des Kiefernzapfens zur Herstellung von Fenstern und Rollläden. Ist der Zapfen in trockenem Klima geschlossen, öffnet er sich in feuchter Umgebung. Diese Abhängigkeit der Form von der Veränderung der Luftfeuchtigkeit machten sich die Architekt:innen um Achim Menges zunutze und übertrugen diesen Mechanismus auf die Produktion von Architekturdesign. Das Ziel war es, völlig autonome Wohnungen zu schaffen, die in der Lage sind, Fenster oder Rollläden mit Hilfe von Mechanismen zu öffnen oder zu schließen, die dem Material selbst innewohnen. Diese Materialien bieten dann wichtige Anhaltspunkte, um zu verstehen, wie die organische Form – die der Kiefernzapfen – mit der Zeit die ihr eigene Gestalt und Funktion angenommen hat.

Es zeigt sich ein kontinuierlicher Kreislaufprozess der Verschmelzung von Technischem und Biologischem, der die Grenze zwischen Lebendigem und Technischem aufhebt: Wir treten in eine Ära der Biologisierung der Technik und der Technisierung der Biologie ein. Diesem allgemeinen Trend entsprechend wurden in den letzten Jahren deutschlandweit mehrere interdisziplinäre Exzellenz-Cluster1 eingerichtet, die sich der Untersuchung gerade jener enigmatischen Strukturen der Formveränderung widmen.

In all diesen Fällen haben Wissensproduktion, Produktdesign und Produktherstellung ihren Ausgangspunkt in morphologischen Konzepten und Praktiken, die auf einer sehr langen Geschichte der Formforschung basieren. Beginnend bei Johann Wolfgang von Goethes Form-Untersuchungen ziehen sie sich durch das gesamte 19. und 20. Jahrhundert hindurch.

Dieses Buch erzählt von den Begegnungen zwischen dem Studium biologischer und der Produktion technischer und architektonischer Formen. Begegnungen, die von der Überwindung der Grenzen zwischen biologischen und technischen Disziplinen und Praktiken erzeugt wurden. In den folgenden Kapiteln werden die Prämissen, Ursachen und Implikationen erforscht, die das Studium der organischen Formen und ihre technische Herstellung im 20. und 21. Jahrhundert geprägt haben.

Ich werde mich auf die Zirkulation von morphologischem Wissen zwischen den drei emblematischen Disziplinen Biologie, Philosophie und Architektur konzentrieren. Diese tauschten während des 20. und 21. Jahrhunderts immer wieder Ideen, Praktiken und Techniken zum Verständnis von Form aus. Die Fokussierung auf diese drei Disziplinen wird dabei jedoch lediglich als methodologischer Zugang genutzt, um die Morphologie innerhalb einer transdisziplinären Wissens-, Technik- und Wissenschaftsphilosophie und -geschichte zu untersuchen. Meine Wissenschafts- und Technikphilosophie plädiert in der Tat für eine transdisziplinäre Forschung der Dynamiken der Wissensproduktion. Die folgende Untersuchung ist also als eine interdisziplinär wissenschaftstheoretische, natur- und technikphilosophische Verbindung mit historischen und theoretischen Fragestellungen zu sehen.

Der Begriff der Form ist in den letzten 150 Jahren auf unzählige Arten definiert worden. Organische und technische Formen wurden z. B. als eine Struktur, eine Reihe von Kräften oder eine Kombination von Elementen, Gestalt oder als mystische Entelechie – d. h. als dem Organismus innewohnende Kraft, die seine Entfaltung und Perfektionierung ermöglicht –definiert. Diese Vielzahl von Definitionen impliziert zum einen den rätselhaften Charakter der Form und die Prozesse, die für ihre Entwicklung im Laufe der Zeit verantwortlich sind. Auf der anderen Seite verbergen jedoch diese Begriffsbestimmungen eine vielschichtigere Dynamik der Wissensproduktion: Morphologisches Wissen basiert auf einer direkten und kontinuierlichen Zirkulation von Praktiken, materiellen Objekten und Ergebnissen zwischen Biolog:innen, Ingenieur:innen und Architekt:innen.

Wenn wir demnach den Schwerpunkt darauf legen, wie dieses Wissen durch biologische und technische Disziplinen im 20. Jahrhundert in Bewegung gesetzt wurde und zirkulierte, können wir detaillierter untersuchen, auf welche Art und Weise das Studium biologischer Formen durch Praxiserfahrungen und Technologien aus dem Bereich der Architektur und des Ingenieurwesens beeinflusst wurde, sich konstituierte und umgekehrt. Mit anderen Worten: Wenn wir uns ansehen, wie das Wissen, die Produktion und Untersuchung von Formen zwischen Biologie, Architektur und Ingenieurwissenschaft zirkulierte, eröffnet sich eine neue Perspektive auf die breitere Dynamik der Wissensproduktion.

Dieser Perspektivwechsel wird die Grundlage für das Verständnis der jüngsten Renaissance der zeitgenössischen morphologischen Disziplinen legen. Die Frage, die dieses Buch leitet, lautet daher: Wie wurde das Wissen über die Form generiert, validiert, angepasst und übertragen?

Durch eine Herausarbeitung von emblematischen Fallstudien dieser Entgrenzung während des 20. und 21. Jahrhunderts verfolgt dieses Buch also drei Ziele. Erstens soll gezeigt werden, wie die Zirkulation von Wissen mit seiner Produktion verbunden ist: Die Zirkulation von morphologischem Wissen ist eine unverzichtbare Bedingung sowohl für die Herstellung von technischen Formen als auch für das Studium von biologischen evolutionären Strukturen. Zweitens werden die Prämissen, Ursachen und Folgen der Überschreitung der disziplinären und methodischen Grenzen zwischen Biologie und Technik während des 20. und den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts historisiert und wissenschaftstheoretisch erforscht. Drittens werden philosophische und theoretische Debatten auf ihre Abhängigkeit von der konkreten Arbeit an Formen hin analysiert. Meine Analyse kann daher im Wechselspiel zwischen der Geschichte der unterschiedlichen philosophischen Konzepte der organischen Form und den morphologischen Praktiken, mit denen sie empirisch untersucht wird, verortet werden. Durch die Rekonstruktion historischer Voraussetzungen und ihrer Kontexte werden die konkreten Begegnungen herausgearbeitet. Es wird dabei die konkrete Schnittmenge zwischen philosophischen Theorien und ihren Umsetzungen in morphologischen Praktiken untersucht.

Der ausgewählte Zugang zur Untersuchung des »Rätsels der Form«2 des 20. und 21. Jahrhunderts ist ein integrativer Ansatz, der sich zwei verschiedene Ansätze zunutze macht: Erstens erweitert und überwindet die in diesem Buch genutzte Methode die Debatte über die Charakteristika der sogenannten technowissenschaftlichen Disziplinen, und zwar Disziplinen, bei denen Theorie und Technik nicht mehr trennbar sind; zweitens ist die ausgewählte Methode als Fortsetzung einer bestimmten rezenten Forschungsrichtung in der Wissenschaftsgeschichte und -philosophie zu verstehen: der Hervorhebung der Rolle wissenschaftlicher Praktiken und eines integrativen Ansatzes in Geschichte und Philosophie. Diese gipfelt in der Untersuchung der Zirkulation von Wissen als methodologischem Schlüssel zur Entdeckung der Dynamiken der Produktion von wissenschaftlichem Wissen. In der Erweiterung und Umsetzung dieser Ansätze wird die klassische Wissenschaftsphilosophie in Richtung einer breiteren Wissensgeschichte und -philosophie vorangetrieben.

Dichotomien in der Wissenschaftsforschung des 20. Jahrhunderts


Die historische und philosophische Reflexion über die Entwicklungen der sogenannten technisch-theoretischen Wissenschaften des 20. und 21. Jahrhunderts (wie die oben skizzierte ingenieurwissenschaftlich geprägte Untersuchung organischer Formen) ist stark von einer Reihe von Dichotomien beeinflusst. Diese Dichotomien wurden allerdings oft zu rein rhetorischen Zwecken in die Debatten eingebracht. In anderen Fällen liegen diesen Dichotomien jedoch sehr ernste theoretische, konzeptionelle und praktische Probleme zugrunde.

Zwei der emblematischsten Gegensätze, die das Studium und das historisch-philosophische Verständnis der Morphologie im 20. Jahrhundert charakterisieren, sind diejenigen zwischen Form und Funktion sowie zwischen Form und Materie. Biolog:innen, Architekt:innen und Ingenieur:innen haben jahrzehntelang darüber debattiert, ob die Funktion Vorrang (und Bedeutung) vor der Form hat oder ob das Gegenteil der Fall ist. Bestimmt beispielsweise die Form eines Auges seine Funktion? Bestimmt die Form eines Hauses, das viereckig gebaut ist, seine Funktion bzw. die Funktion seiner Räume? Sind Formen möglich, die neue, noch nicht realisierte Funktionen erlauben? Die gesamte Geschichte der Morphologie im 20. Jahrhundert wird im Lichte des Gegensatzes zwischen Form und Funktion interpretiert.3

Der zweite Gegensatz zwischen Form und Materie ist ebenfalls sehr alt. Er findet sich in den Texten der antiken griechischen Philosophen wieder. Die These, die diesen Gegensatz eint, ist, dass Materie als chaotisch, amorph, subjektiv, schwer quantifizierbar und abhängig von der Verfassung des...

Erscheint lt. Verlag 24.10.2022
Reihe/Serie Blaue Reihe
Blaue Reihe
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie
Schlagworte Anthropologie • Philosophie der Biologie • Robotik • Technikphilosophie
ISBN-10 3-7873-4292-3 / 3787342923
ISBN-13 978-3-7873-4292-1 / 9783787342921
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR)
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,5 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Eine Geschichte der Zuversicht von Homer bis zum Klimawandel

von Jonas Grethlein

eBook Download (2024)
C.H.Beck (Verlag)
21,99