Die Rückkehr der Gewohnheiten (eBook)

Journalgedichte
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2022 | 1. Auflage
76 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77217-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Rückkehr der Gewohnheiten -  Jürgen Becker
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In diesem Buch, entstanden 2020/21, versammeln sich Gedichte, Notate, Satzreihen, Prosastücke zu einem Journal, in dem das tägliche Geschehen, die Erfahrung von Krise, das Fortwirken der Vergangenheit Seite für Seite mitgeschrieben haben. »Augenblicke entscheiden, wo es langgeht, wohin sich das Geschehen bewegt ... Sätze aus einem Früher, das nicht aufgehört hat, im Hier und Heute mitzusprechen.«
Es ist die Fortsetzung eines Selbstgesprächs, das »hervorkommt aus dem Schatten des früher Gesagten«, und das heißt auch: der Verfasser vergegenwärtigt Impulse und Motive, die seine früheren Texte durchziehen; er lässt sich auf Wiederholungen ein, wo es darum geht, im zuvor Gesagten den verborgenen Rest des Nichtgesagten, das Übersehene oder Vergessene, zu entdecken. »Eine Erinnerung wiederholt sich, aber sie scheint sich verändert zu haben, denn jetzt erzählt sie alles ganz anders.«
So kommt die Vergangenheit mit Neuigkeiten, die mit den Neuigkeiten der Gegenwart korrespondieren; so kehren Gewohnheiten zurück, die vielleicht vergessen, aber nie verschwunden waren. Und dabei kreuzen sich Erfahrungen und entstehen Zusammenhänge, die etwas kenntlich machen von den Widersprüchen und Täuschungen, den Ungewissheiten und Möglichkeiten unserer gegenwärtigen Existenz.

<p>J&uuml;rgen Becker wurde 1932 in K&ouml;ln geboren und verbrachte dort seine Kindheit. W&auml;hrend der Kriegs- und Nachkriegsjahre, zwischen 1939 und 1947, lebte er in Erfurt. Nach Aufenthalten in Osterwieck/Harz und Waldbr&ouml;l kam er 1950 nach K&ouml;ln zur&uuml;ck. 1953 Abitur. Nach kurzem, abgebrochenem Studium begann er seine Existenz als freier Schriftsteller; seinen Lebensunterhalt bestritt er jahrelang mit wechselnden T&auml;tigkeiten, als Arbeiter und Angestellter, als Werbeassistent und Journalist. Er arbeitete f&uuml;r den WDR und in den Verlagen Rowohlt und Suhrkamp. Zwanzig Jahre lang, bis 1993, leitete er die H&ouml;rspielredaktion des Deutschlandfunks.</p> <p>Gro&szlig;e Aufmerksamkeit fand J&uuml;rgen Becker mit seinem ersten Prosabuch <i>Felder</i> (1964); die beiden folgenden B&uuml;cher <i>R&auml;nder</i> (1968) und <i>Umgebungen </i>(1970) festigten seinen Ruf als Verfasser experimenteller Literatur. Zugleich wirkte er mit seinen ersten H&ouml;rspielen (<i>Bilder, H&auml;user, Hausfreunde</i>) am Entstehen des &quot;Neuen H&ouml;rspiels&quot; mit. In seinem 1971 ver&ouml;ffentlichten Fotobuch<i> Eine Zeit ohne W&ouml;rter</i> verschmolz er seine literarische Arbeit mit dem visuellen Medium. Die k&uuml;nstlerischen Grenz&uuml;berschreitungen der Avantgarde hatte er 1965 bereits mit dem Band <i>Happenings</i> dokumentiert, einer Gemeinschaftspublikation mit dem Happening-K&uuml;nstler Wolf Vostell.<br /> In den Siebziger und achtziger Jahren konzentrierte sich J&uuml;rgen Becker auf die Lyrik. Die in dieser Zeit entstandenen Gedichtb&uuml;cher - darunter <i>Das Ende der Landschaftsmalerei</i> (1974), <i>Odenthals K&uuml;ste</i> (1986), <i>Das Gedicht der wiedervereinigten Landschaft</i> (1988) - plazierte die Kritik in die obersten R&auml;nge der zeitgen&ouml;ssischen Poesie. Gleichzeitig schrieb J&uuml;rgen Becker weiterhin H&ouml;rspiele und die beiden Prosab&uuml;cher <i>Erz&auml;hlen bis Ostende</i> (1980) und <i>Die T&uuml;re zum Meer</i> (1983). Dazu korrespondierte er weiterhin mit dem visuellen Medium: <i>Fenster und Stimmen </i>(1982), <i>Frauen mit dem R&uuml;cken zum Betrachter</i> (1989), <i>Korrespondenzen mit Landschaft </i>(1996) entstanden nach Collagen seiner Frau, der Malerin Rango Bohne, <i>Ger&auml;umtes Gel&auml;nde</i> (1995) nach Bildern seines Sohnes, des Fotografen Boris Becker.<br /> Wende und Wiedervereinigung wirkten entscheidend auf das Schreiben J&uuml;rgen Beckers ein. Die Wiederentdeckung der ...

– fortsetzend das Selbstgespräch, und wie es hervorkommt

aus dem Schatten des früher Gesagten, an der langen Leine

von etwas, das man Kontinuum nennt.

                Regenfelder, Februar

fängt an; tagsüber Licht in den Häusern. Ob man

es merkt oder nicht, fast täglich hört eine Epoche auf.

Hausdächer aus den dreißiger Jahren; Straßen mit Biographien,

die wegen Verdacht der Nachprüfung unterliegen; Windböen,

ein paar krachende Ziegel. Der Deutschlandfunk bringt

keine Verkehrsmeldungen mehr.

             Stille liegt noch

zwischen Westwall und Maginot-Linie im Februar 40: Zeilen

für einen Lebenslauf, der hineinreicht ins Blickfeld

zwischen Baukränen und dem Himmel Berlins. Jahrzehnte

schreiben mit in einer Küchentisch-Chronik, in der, ob

mit richtig oder falsch geschriebenem Namen, jeder von uns

vorkommt.

     Der Vormittag. Ein Chinese taucht auf,

und Passanten wechseln die Straßenseite.

Zuhause sehe ich, daß die Zeitung, die ich

an der Tankstelle kaufte, von gestern ist.

Der Nachmittag. Gestern war, als mein Vater

noch lebte und von Leuten erzählte,

die alle deutschfreundlich waren in Ländern

vor und nach dem Krieg.

          Im Nachbarland

Stimmen, die es anders erzählen, und ob man

zuhörte oder aus dem Zimmer ging –

               Schnitt.

Nachrichten stündlich. Die Züge fuhren wieder,

eingleisig im Osten, zweigleisig im Westen, bis

wo eine Brücke im Wasser lag.

             Variationen

in einer Reihenfolge, die sich an die Daten hält.

Mit Daten nur, das ist so eine Sache, die

einmal vertraut, dann wieder verwirrend erscheint.

Sicher, im Rückblick rutschen die Bilder zusammen,

und so wird ungenau, was du sagst. Zuverlässig

bleibt der Bleistift, der erst schreibt, wenn die Hand

ihn bewegt –

      Wenn nachts die weiße Katze

draußen auf der Bank liegt, ein heller Streifen

sich unter den Vorhängen herzieht, das Licht

im Garten des unbewohnten Hauses angeht

und die kreisenden Scheinwerferarme sich kreuzen

über den dunklen Rändern der Stadt –

                Augenblicke

entscheiden, wo es langgeht, wohin sich

das nächste Geschehen bewegt; von alleine passiert

nichts. Und was du mitbekommst, reicht nicht aus,

um all die Zusammenhänge zu sehen, ohne die

kein Wasserkessel summt, der Bildschirm schwarz,

die nächste Seite leer bleibt.

Was tut man, wenn man nichts tun kann.

Es schneit. Der Schnee bleibt nicht liegen.

Es schneit weiter.

Schweigeminuten, die sich wochenlang hinziehn.

Dann helfen Zitate weiter.

Der alte Schrank, der alte Ausgehanzug.

Und wieder kommt Post nicht, auf die ich warte

seit Wochen. Die Sache mit Großmutter und ihrem Enkel,

damals im Garten, bleibt stumm ein Geheimnis;

den alten Geschwistern, die darüber reden, hört

keiner zu. Das Photoalbum der Familie

zieht keine öffentliche Spur … fast schon

ein Trost, daß man unter sich bleiben und bestimmen kann,

wann die Gräber eingeebnet werden

               – vielleicht ein Versuch,

die Zeit aufzuhalten und geräumtes Gelände

zurückzugewinnen. Weit kommst du nicht mehr, aber

fang nicht damit an, deine Schritte zu zählen; allein

dein Schatten, falls Sonne vorhanden, begleitet dich.

Sonntagmorgen. Beim Frühstückmachen schneide ich mir

in den Finger. Ich denke, die Blutorange vom Discounter

will mich warnen vor dem Paradies. Draußen im Geäst

baumeln schlaffe Luftballons, und ich lese Seite 3

aus der Sonntagszeitung vor.

            Zeitgenossen

mit Durchblick, fliegender Wechsel zwischen Küchenstuhl

und rotem Teppich. Im Inneren nagen die Zweifel,

aber der Sog der Drehtür läßt kein Innehalten zu.

Nicht alles sagen, was man weiß; im Radio kann man

das Stirnerunzeln nicht hören oder wenn einer immer nur

nickt.

   Hört man die Veränderung in der Stimme … man hört

sie nicht; auch die Kinderzeit-Stimme, bis in den April

der Todesanzeige, behielt ihren eisklaren nordischen Klang

(einmal im Jahr ging das Telefon). Erst spät, nach

einem langen Schweigen, liegt etwas wie Sandpapier

zwischen den Geräuschen des Sprechens, das zögernd

über schmale Atemwege kommt. Kein Wortlaut

für mobilmachende Mitteilungen; die Muschel springt nicht

auf; gelassen rollt die Dünung hin und her

                 – kann sein,

daß man mit jedem Wort das Falsche sagt. Dennoch,

im Krisenfall versteht man sich. Möglich auch, daß

man das Richtige sagt und damit die Krise erst

auslöst. So oder so, es kommt auf die Art

des Verstehens an, auf Vorgänge im Hintergrund,

die fürs Protokoll nicht vorgesehen sind. Mitbringsel,

die Nachspeise, das Mienenspiel der Beteiligten,

die Stimmungslage läßt sich ja steuern. Rollkoffer,

Twitter, der Fahrer weiß wohin –

              Gegenden, Städte,

die man nicht wiedersehen wird. Man blättert

in der Reisebeilage und schaut den Zugvögeln nach.

Seekarten, Stadtpläne liegen verstaubt im Regal.

Der Landweg führt zum Briefkasten gegenüber;

zu Wasser geht es quer über die Pfützen im Hof;

der Wolkenzug überm Vorort stiftet den Luftweg.

Im Wandschrank der Geruch von alten Lederkoffern, und

läßt man nachts das Fenster offen, hört man,

wie auf der Autobahn das Meer rauscht.

Weitere Variationen. Am nächsten Morgen

Rührei mit Tomaten. Toronto läßt grüßen; beim

Wiedersehen gab es den Coffeeshop nicht mehr.

Vergessen den Wortlaut der Gespräche, die wir

in drei Sprachen versuchten, aber geblieben ist

ein Spurenverlauf, der bis in diese Zeilen führt.

Daß etwas davon kenntlich wird, wundert mich,

denn die Entfernung hat sich beschleunigt,

die Verwischungen breiten sich aus …

                aber das kennen

wir ja. Das Früher: ein Repertoire. Es ist verfügbar

für jeden Fragebogen. Es liefert Zitate, wo es

um Anklage geht, um die Rechtfertigung, ums Verstehen,

wenn es an der Erfahrung fehlt, an Augenzeugen,

am Dabeigewesensein. Man kann es als Muster

benutzen, das zu jeglichem Verhalten paßt, ob

Persilschein, Blütezeit, Verkehrsdelikt, Rutschgefahr.

Andernfalls, wäre es wie vermintes Gelände, wie Gartengefilde

mit Selbstschußanlage, dann stünde man zögernd da;

man scheute das Risiko, die Nutznießerei

mit einer Verletzung, Verstümmelung zu bezahlen.

Wie hätte ich selber in diesem Früher … man muß

sich schon fragen und nicht so tun, als sei

im Nachhinein alles im Lot. Im Nachhinein: die Chronik

der Ungewißheit und des Erschreckens, ein imaginärer Text,

in dem so viele Stimmen mitgeschrieben haben, fremde

und allzu vertraute, ein Ensemble der Widersprüche,

Täuschungen und Möglichkeiten … Zu Lebzeiten

kein Ende in Sicht, in Sicht wie der Horizont,...

Erscheint lt. Verlag 19.6.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Lyrik / Dramatik Lyrik / Gedichte
Schlagworte aktuell • Alltag • Corona • Coronapandemie • Coronavirus • Covid-19 • Erinnerung • Existenz • Gedichte • Gegenwart • Journal • Krise • Krisenerfahrung • Krisensituation • neues Buch • Neuigkeiten • Notate • Pandemie • Prosa • Selbstgespräch • Tagesgeschehen • Ungewissheit • Vergangenheit • Vergessen • Zeitgeschehen
ISBN-10 3-518-77217-1 / 3518772171
ISBN-13 978-3-518-77217-1 / 9783518772171
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