Die Rückkehr der Gewohnheiten (eBook)
76 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77217-1 (ISBN)
Es ist die Fortsetzung eines Selbstgesprächs, das »hervorkommt aus dem Schatten des früher Gesagten«, und das heißt auch: der Verfasser vergegenwärtigt Impulse und Motive, die seine früheren Texte durchziehen; er lässt sich auf Wiederholungen ein, wo es darum geht, im zuvor Gesagten den verborgenen Rest des Nichtgesagten, das Übersehene oder Vergessene, zu entdecken. »Eine Erinnerung wiederholt sich, aber sie scheint sich verändert zu haben, denn jetzt erzählt sie alles ganz anders.«
So kommt die Vergangenheit mit Neuigkeiten, die mit den Neuigkeiten der Gegenwart korrespondieren; so kehren Gewohnheiten zurück, die vielleicht vergessen, aber nie verschwunden waren. Und dabei kreuzen sich Erfahrungen und entstehen Zusammenhänge, die etwas kenntlich machen von den Widersprüchen und Täuschungen, den Ungewissheiten und Möglichkeiten unserer gegenwärtigen Existenz.
<p>Jürgen Becker wurde 1932 in Köln geboren und verbrachte dort seine Kindheit. Während der Kriegs- und Nachkriegsjahre, zwischen 1939 und 1947, lebte er in Erfurt. Nach Aufenthalten in Osterwieck/Harz und Waldbröl kam er 1950 nach Köln zurück. 1953 Abitur. Nach kurzem, abgebrochenem Studium begann er seine Existenz als freier Schriftsteller; seinen Lebensunterhalt bestritt er jahrelang mit wechselnden Tätigkeiten, als Arbeiter und Angestellter, als Werbeassistent und Journalist. Er arbeitete für den WDR und in den Verlagen Rowohlt und Suhrkamp. Zwanzig Jahre lang, bis 1993, leitete er die Hörspielredaktion des Deutschlandfunks.</p> <p>Große Aufmerksamkeit fand Jürgen Becker mit seinem ersten Prosabuch <i>Felder</i> (1964); die beiden folgenden Bücher <i>Ränder</i> (1968) und <i>Umgebungen </i>(1970) festigten seinen Ruf als Verfasser experimenteller Literatur. Zugleich wirkte er mit seinen ersten Hörspielen (<i>Bilder, Häuser, Hausfreunde</i>) am Entstehen des »Neuen Hörspiels« mit. In seinem 1971 veröffentlichten Fotobuch<i> Eine Zeit ohne Wörter</i> verschmolz er seine literarische Arbeit mit dem visuellen Medium. Die künstlerischen Grenzüberschreitungen der Avantgarde hatte er 1965 bereits mit dem Band <i>Happenings</i> dokumentiert, einer Gemeinschaftspublikation mit dem Happening-Künstler Wolf Vostell.<br /> In den Siebziger- und Achtzigerjahren konzentrierte sich Jürgen Becker auf die Lyrik. Die in dieser Zeit entstandenen Gedichtbände - darunter <i>Das Ende der Landschaftsmalerei</i> (1974), <i>Odenthals Küste</i> (1986), <i>Das Gedicht der wiedervereinigten Landschaft</i> (1988) - platzierte die Kritik in die obersten Ränge der zeitgenössischen Poesie. Gleichzeitig schrieb Jürgen Becker weiterhin Hörspiele und die beiden Prosabücher <i>Erzählen bis Ostende</i> (1980) und <i>Die Türe zum Meer</i> (1983). Dazu korrespondierte er weiterhin mit dem visuellen Medium: <i>Fenster und Stimmen </i>(1982), <i>Frauen mit dem Rücken zum Betrachter</i> (1989), <i>Korrespondenzen mit Landschaft </i>(1996) entstanden nach Collagen seiner Frau, der Malerin Rango Bohne, <i>Geräumtes Gelände</i> (1995) nach Bildern seines Sohnes, des Fotografen Boris Becker.<br /> Wende und Wiedervereinigung wirkten entscheidend auf das Schreiben Jürgen Beckers ein. Die Wiederentdeckung der Orte und Landschaften zwischen Elbe und Oder, Rügen und Thüringer Wald motivierten seine Gedichtbände <i>Foxtrott im Erfurter Stadion</i> (1993) und <i>Journal der Wiederholungen</i> (1999),...
– fortsetzend das Selbstgespräch, und wie es hervorkommt
aus dem Schatten des früher Gesagten, an der langen Leine
von etwas, das man Kontinuum nennt.
Regenfelder, Februar
fängt an; tagsüber Licht in den Häusern. Ob man
es merkt oder nicht, fast täglich hört eine Epoche auf.
Hausdächer aus den dreißiger Jahren; Straßen mit Biographien,
die wegen Verdacht der Nachprüfung unterliegen; Windböen,
ein paar krachende Ziegel. Der Deutschlandfunk bringt
keine Verkehrsmeldungen mehr.
Stille liegt noch
zwischen Westwall und Maginot-Linie im Februar 40: Zeilen
für einen Lebenslauf, der hineinreicht ins Blickfeld
zwischen Baukränen und dem Himmel Berlins. Jahrzehnte
schreiben mit in einer Küchentisch-Chronik, in der, ob
mit richtig oder falsch geschriebenem Namen, jeder von uns
vorkommt.
Der Vormittag. Ein Chinese taucht auf,
und Passanten wechseln die Straßenseite.
Zuhause sehe ich, daß die Zeitung, die ich
an der Tankstelle kaufte, von gestern ist.
Der Nachmittag. Gestern war, als mein Vater
noch lebte und von Leuten erzählte,
die alle deutschfreundlich waren in Ländern
vor und nach dem Krieg.
Im Nachbarland
Stimmen, die es anders erzählen, und ob man
zuhörte oder aus dem Zimmer ging –
Schnitt.
Nachrichten stündlich. Die Züge fuhren wieder,
eingleisig im Osten, zweigleisig im Westen, bis
wo eine Brücke im Wasser lag.
Variationen
in einer Reihenfolge, die sich an die Daten hält.
Mit Daten nur, das ist so eine Sache, die
einmal vertraut, dann wieder verwirrend erscheint.
Sicher, im Rückblick rutschen die Bilder zusammen,
und so wird ungenau, was du sagst. Zuverlässig
bleibt der Bleistift, der erst schreibt, wenn die Hand
ihn bewegt –
Wenn nachts die weiße Katze
draußen auf der Bank liegt, ein heller Streifen
sich unter den Vorhängen herzieht, das Licht
im Garten des unbewohnten Hauses angeht
und die kreisenden Scheinwerferarme sich kreuzen
über den dunklen Rändern der Stadt –
Augenblicke
entscheiden, wo es langgeht, wohin sich
das nächste Geschehen bewegt; von alleine passiert
nichts. Und was du mitbekommst, reicht nicht aus,
um all die Zusammenhänge zu sehen, ohne die
kein Wasserkessel summt, der Bildschirm schwarz,
die nächste Seite leer bleibt.
Was tut man, wenn man nichts tun kann.
Es schneit. Der Schnee bleibt nicht liegen.
Es schneit weiter.
Schweigeminuten, die sich wochenlang hinziehn.
Dann helfen Zitate weiter.
Der alte Schrank, der alte Ausgehanzug.
Und wieder kommt Post nicht, auf die ich warte
seit Wochen. Die Sache mit Großmutter und ihrem Enkel,
damals im Garten, bleibt stumm ein Geheimnis;
den alten Geschwistern, die darüber reden, hört
keiner zu. Das Photoalbum der Familie
zieht keine öffentliche Spur … fast schon
ein Trost, daß man unter sich bleiben und bestimmen kann,
wann die Gräber eingeebnet werden
– vielleicht ein Versuch,
die Zeit aufzuhalten und geräumtes Gelände
zurückzugewinnen. Weit kommst du nicht mehr, aber
fang nicht damit an, deine Schritte zu zählen; allein
dein Schatten, falls Sonne vorhanden, begleitet dich.
Sonntagmorgen. Beim Frühstückmachen schneide ich mir
in den Finger. Ich denke, die Blutorange vom Discounter
will mich warnen vor dem Paradies. Draußen im Geäst
baumeln schlaffe Luftballons, und ich lese Seite 3
aus der Sonntagszeitung vor.
Zeitgenossen
mit Durchblick, fliegender Wechsel zwischen Küchenstuhl
und rotem Teppich. Im Inneren nagen die Zweifel,
aber der Sog der Drehtür läßt kein Innehalten zu.
Nicht alles sagen, was man weiß; im Radio kann man
das Stirnerunzeln nicht hören oder wenn einer immer nur
nickt.
Hört man die Veränderung in der Stimme … man hört
sie nicht; auch die Kinderzeit-Stimme, bis in den April
der Todesanzeige, behielt ihren eisklaren nordischen Klang
(einmal im Jahr ging das Telefon). Erst spät, nach
einem langen Schweigen, liegt etwas wie Sandpapier
zwischen den Geräuschen des Sprechens, das zögernd
über schmale Atemwege kommt. Kein Wortlaut
für mobilmachende Mitteilungen; die Muschel springt nicht
auf; gelassen rollt die Dünung hin und her
– kann sein,
daß man mit jedem Wort das Falsche sagt. Dennoch,
im Krisenfall versteht man sich. Möglich auch, daß
man das Richtige sagt und damit die Krise erst
auslöst. So oder so, es kommt auf die Art
des Verstehens an, auf Vorgänge im Hintergrund,
die fürs Protokoll nicht vorgesehen sind. Mitbringsel,
die Nachspeise, das Mienenspiel der Beteiligten,
die Stimmungslage läßt sich ja steuern. Rollkoffer,
Twitter, der Fahrer weiß wohin –
Gegenden, Städte,
die man nicht wiedersehen wird. Man blättert
in der Reisebeilage und schaut den Zugvögeln nach.
Seekarten, Stadtpläne liegen verstaubt im Regal.
Der Landweg führt zum Briefkasten gegenüber;
zu Wasser geht es quer über die Pfützen im Hof;
der Wolkenzug überm Vorort stiftet den Luftweg.
Im Wandschrank der Geruch von alten Lederkoffern, und
läßt man nachts das Fenster offen, hört man,
wie auf der Autobahn das Meer rauscht.
Weitere Variationen. Am nächsten Morgen
Rührei mit Tomaten. Toronto läßt grüßen; beim
Wiedersehen gab es den Coffeeshop nicht mehr.
Vergessen den Wortlaut der Gespräche, die wir
in drei Sprachen versuchten, aber geblieben ist
ein Spurenverlauf, der bis in diese Zeilen führt.
Daß etwas davon kenntlich wird, wundert mich,
denn die Entfernung hat sich beschleunigt,
die Verwischungen breiten sich aus …
aber das kennen
wir ja. Das Früher: ein Repertoire. Es ist verfügbar
für jeden Fragebogen. Es liefert Zitate, wo es
um Anklage geht, um die Rechtfertigung, ums Verstehen,
wenn es an der Erfahrung fehlt, an Augenzeugen,
am Dabeigewesensein. Man kann es als Muster
benutzen, das zu jeglichem Verhalten paßt, ob
Persilschein, Blütezeit, Verkehrsdelikt, Rutschgefahr.
Andernfalls, wäre es wie vermintes Gelände, wie Gartengefilde
mit Selbstschußanlage, dann stünde man zögernd da;
man scheute das Risiko, die Nutznießerei
mit einer Verletzung, Verstümmelung zu bezahlen.
Wie hätte ich selber in diesem Früher … man muß
sich schon fragen und nicht so tun, als sei
im Nachhinein alles im Lot. Im Nachhinein: die Chronik
der Ungewißheit und des Erschreckens, ein imaginärer Text,
in dem so viele Stimmen mitgeschrieben haben, fremde
und allzu vertraute, ein Ensemble der Widersprüche,
Täuschungen und Möglichkeiten … Zu Lebzeiten
kein Ende in Sicht, in Sicht wie der Horizont,...
Erscheint lt. Verlag | 19.6.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Lyrik / Dramatik ► Lyrik / Gedichte |
Schlagworte | aktuell • Alltag • Corona • Coronapandemie • Coronavirus • Covid-19 • Deutschland • Erinnerung • Existenz • Gedichte • Gegenwart • Georg-Büchner-Preis 2014 • Günter-Eich-Preis 2013 • Journal • Krise • Krisenerfahrung • Krisensituation • neues Buch • Neuigkeiten • Notate • Pandemie • Prosa • Selbstgespräch • Tagesgeschehen • Thüringer Literaturpreis 2011 • Ungewissheit • Vergangenheit • Vergessen • Zeitgeschehen |
ISBN-10 | 3-518-77217-1 / 3518772171 |
ISBN-13 | 978-3-518-77217-1 / 9783518772171 |
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