Emigranten (eBook)

und andere Stücke
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2022 | 1. Auflage
400 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61083-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Emigranten -  Slawomir Mrozek
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AA, der Intellektuelle, und XX, der Gastarbeiter, teilen sich einen Kellerraum als Unterkunft und gehen sich nach Kräften auf die Nerven. Zwar sind sie beide Emigranten desselben Landes, doch sind die Verbindungen zwischen dem politischen Flüchtling und dem sich für materiellen Wohlstand abschuftenden bäuerlichen Gastarbeiter nur allzu brüchig. Am Silvesterabend kommt es zum Showdown.

Slawomir Mrozek, geboren 1930 in Borzecin bei Krakau, studierte Architektur, Kunstgeschichte und Orientalistik. In Polen war er zunächst als Karikaturist erfolgreich, bevor er als Schriftsteller in Erscheinung trat. 1957 erschien sein erstes Buch mit satirischen Erzählungen. Es folgten seine Stücke (darunter ?Tango?, ?Emigranten?, ?Polizei?, ?Striptease?), mit denen er Weltruhm erlangte. In Deutschland gehören sie zu den meistgespielten Theaterstücken überhaupt. 1962 verließ er Polen und beantragte 1968, als Reaktion auf die Niederschlagung des Prager Frühlings, in Frankreich politisches Asyl. Nach langen Jahren in Paris und später in Mexiko kehrte er 1996 in seine Heimatstadt Krakau zurück. Die letzten Jahre lebte er in Nizza, wo er 2013 verstarb.

Slawomir Mrozek, geboren 1930 in Borzecin bei Krakau, studierte Architektur, Kunstgeschichte und Orientalistik. In Polen war er zunächst als Karikaturist erfolgreich, bevor er als Schriftsteller in Erscheinung trat. 1957 erschien sein erstes Buch mit satirischen Erzählungen. Es folgten seine Stücke (darunter ›Tango‹, ›Emigranten‹, ›Polizei‹, ›Striptease‹), mit denen er Weltruhm erlangte. In Deutschland gehören sie zu den meistgespielten Theaterstücken überhaupt. 1962 verließ er Polen und beantragte 1968, als Reaktion auf die Niederschlagung des Prager Frühlings, in Frankreich politisches Asyl. Nach langen Jahren in Paris und später in Mexiko kehrte er 1996 in seine Heimatstadt Krakau zurück. Die letzten Jahre lebte er in Nizza, wo er 2013 verstarb.

Musik. Eine Geige und eine Flöte. Nach einem Augenblick bricht die Geige mitten im Takt ab, die Flöte spielt weiter.

GEIGER

Ich liebe Sie. Ich liebe Sie vom ersten Augenblick an. Ich liebe Sie, seit ich Sie drüben im Fenster gesehen habe. Als Sie unsere Nachbarin wurden, habe ich mich auf den ersten Blick in Sie verliebt. Und jetzt, wo Sie so nah bei mir sind, liebe ich Sie endgültig und ausweglos. Mein Schicksal liegt in Ihren Händen. Was sagen Sie? Lieben Sie mich auch? Darf ich mir Hoffnung machen? Und wenn schon keine große Hoffnung, dann wenigstens eine kleine Hoffnung? Eine Spur von Hoffnung? Ein Fünkchen? Ein viertel Fünkchen? Bitte, antworten Sie mir sofort. Bitte, unterbrechen Sie … Titel des Werkes für Flöte und Geige … und antworten Sie. Ich bitte Sie, ich fordere von Ihnen, ich befehle Ihnen! Ich habe das Recht zu fordern … ich habe doch wohl das Recht … weshalb antworten Sie nicht? Pause. Wenn Sie mir nicht sagen wollen, daß Sie mich auch lieben, dann sagen Sie mir wenigstens, daß Sie mein Geständnis gehört haben, daß Sie wissen … Sie schweigen. Pause. Erscheine ich Ihnen lächerlich? Machen Sie sich über mich lustig? Vielleicht wollen Sie mir nicht die Wahrheit sagen, um meine Gefühle nicht zu verletzen. Danke für Ihr Mitleid, das brauche ich nicht. Glauben Sie, mir liegt was daran? Glauben Sie, mir liegt was an Ihnen? An Ihnen! Haha! Pause. Aber schweigen Sie denn wirklich? Sie antworten mit dem Instrument, Sie sprechen zu mir durch die Musik. Es ist nicht wahr, daß Musik nichts ausdrückt als Musik, reine Musik, Musik an sich. Ach, alle diese armseligen Dilettanten, alle diese Ignoranten, diese Pseudomusiker, diese gefühlvollen Musikantenseelen, sie haben ja recht, wenn sie behaupten, daß Musik den Gesang der Vögel, das Brausen des Windes und der Ströme wiedergibt, daß sie Landschaften malt, Sonnenaufgänge und -untergänge, daß sie menschliche Gefühle darstellt und die Dramen der Seele. Ja, sie haben recht. Ein Glück, daß ich schon am Anfang meiner Karriere erkenne, daß es reine Musik nicht gibt. Ich will keine reine Musik, ich will keine Musik ohne Sie. Nieder mit der reinen Musik! Wenn Sie … Titel des Werkes … spielen, dann sprechen Sie zu mir. Sie reden mit mir. Pause. Ja, aber worüber? Was bedeutet das? Was heißt … Titel des Werkes …? Ich höre zu und versuche, es in die menschliche Sprache zu übersetzen, aber ohne Erfolg. Ich bin mir nicht sicher … Oder bedeutet das alles doch nichts? Ich verstehe es nicht, ich verstehe überhaupt nichts. Was würde ich darum geben, wenn ich jetzt … Name des Komponisten …, den Komponisten dieses … Titel des Werkes …, treffen und ihn fragen könnte: »Was wollten Sie mit … Titel des Werkes … ausdrücken, insbesondere mit diesem … genauere Bezeichnung eines Satzes oder einer Solostelle … für Flöte? Aber bitte ohne Umschweife, ohne Kunstgeschwätz. Sagen Sie mir aufrichtig, was Sie beim Komponieren dieses Werkes gedacht haben.« Heftig. Bitte, hören Sie wenigstens einen Augenblick auf, werfen Sie dieses verdammte Instrument weg! Musik, ich pfeife auf Musik, reine oder unreine! Bitte, erzählen Sie mir etwas von sich, ohne Musik! Einfach, menschlich! Pause. Entschuldigen Sie, ich habe mich hinreißen lassen. Ja, die Musik … Frauen lieben so etwas. Oh, ich kenne die Frauen. Welche Zweideutigkeit … Sie ziehen sich die Musik an wie ein Kleid. Sie verbergen sich in der Musik wie … wie eine Nymphe im Dickicht. Ja, wie eine Nymphe, ein phantastischer, klassischer Vergleich. Jeder weiß, daß sie im Hain lebt, aber sie versteckt sich hinter den Blättern. Jedoch nicht ganz. Man meint, sie zu sehen, aber wiederum nicht ganz. Sie entschwindet ins Lorbeerdickicht, lacht oder singt … Trotz ihrer Nacktheit verhüllt. Sie lockt, verspricht nichts, verweigert nichts. Darum geht es doch, nicht wahr, nichts deutlich zu sagen. Dazu dient den Frauen die Musik. Ach Frauen, ich kenne euch! Sie glauben mir nicht? Haha, ich laß mich von euern Tricks nicht einwickeln. Pause. Entschuldigen Sie. Wenn Sie es wünschen, folge ich Ihnen, obwohl ich selbst nicht weiß, wohin und warum. Und obwohl ich eigentlich nichts begreife. Er spielt wieder Geige. Einen Augenblick lang hört man beide Instrumente im Duo, dann von fern ein Türenschlagen. Die Geige hört auf zu spielen. Nach einem Augenblick auch die Flöte.

FLÖTISTIN

Warum sagst du nichts?

GEIGER

Das ist meine Mutter.

FLÖTISTIN

Wo?

GEIGER

Unten. Ich hab gehört, wie die Tür zugefallen ist. Sie kommt früher nach Hause, als ich dachte.

FLÖTISTIN

Aha. Dann sei still, wenn du mir nichts zu sagen hast. Wieder Duo.

GEIGER

nach einer Pause Meine Mutter liebt mich sehr. Pause. Nach einem Augenblick hört die Geige auf zu spielen. Hören Sie? Oh, jetzt … hören Sie nur … Die Flöte schweigt, Pause.

FLÖTISTIN

Ich höre nichts.

GEIGER

Stille. Hab ich mich etwa geirrt? Von weitem langsame Schritte. Ah, sie kommt die Treppe hoch!

FLÖTISTIN

Wer?

GEIGER

Meine Mutter.

FLÖTISTIN

ungeduldig Ach, deine Mutter. Die Flöte spielt weiter.

GEIGER

Sie vergöttert mich. Die Geige spielt wieder mit. Sie hat mich sehr, sehr … Die Flöte schweigt.

FLÖTISTIN

Du spielst falsch. Die Flöte spielt weiter.

GEIGER

Sie möchte, daß ich eine große Karriere mache. Was glauben Sie – ob sie uns hört? Sie hört uns ganz sicher. Natürlich hört sie uns, wenn wir … Titel des Werkes … spielen. Wenn wir schon ihre Schritte hören, dann hört sie auch die Geige und die Flöte … Die Flöte hört auf.

FLÖTISTIN

Und was folgt daraus?

GEIGER

O ja, reden Sie!

FLÖTISTIN

Was?

GEIGER

Ganz gleich, was. Irgendwas. Wenn Sie reden, können Sie nicht flöten. Wenn Sie reden, kann man die Flöte nicht hören.

FLÖTISTIN

Worauf willst du hinaus?

GEIGER

Ausgezeichnet. Reden Sie weiter, nur nicht laut. Reden Sie leise, so leise wie möglich …

FLÖTISTIN

wird lauter Was sind das für Unverschämtheiten …

GEIGER

Ich bete Sie an, wenn Sie reden, aber ich bete Sie noch mehr an, wenn Sie flüstern. Oder wissen Sie was? Am besten, Sie reden überhaupt nicht. Hören Sie auf, Flöte zu spielen, und hören Sie auf zu reden. Schweigen ist Gold. Man hört Schritte, jetzt sehr viel näher als vorher.

FLÖTISTIN

Du verbietest mir zu reden?!

GEIGER

Nein, ich bitte Sie nur, nicht zu reden. Außerdem werde ich auch schweigen. Wir werden beide schweigen.

FLÖTISTIN

Ich denke gar nicht daran!

GEIGER

Nicht reden und nicht spielen. Keinen Ton! Bitte, legen Sie die Flöte weg, geben Sie sie mir. Die Geige schweigt. Man hört die Schritte immer näher. So, die legen wir hier hin. Oder wissen Sie was? Wir legen sie in den Schrank. Oder nein, besser unter den Schrank … Nein, unter den Tisch! Ruhen Sie sich aus, essen Sie was, möchten Sie Konfekt? Hier ist Konfekt. Oder Sie legen sich ein wenig hin und schlafen. Ja, am besten Sie schlafen ein, ich decke Sie mit dem Plaid zu. Oder noch besser – mit dem Teppich. Ja. Ich decke Sie mit dem Teppich zu, das tut gut, das ist warm und mollig, Sie werden sehen, wie im Himmel. Ich wickele Sie in den Teppich ein. Sie wollen nicht? Aber warum denn nicht, das ist ein sehr schöner Teppich, fast ein Perser. Geräusch eines Gerangels. Sie kommen hierher, und zwar sofort! In den Teppich! Unter den Teppich! Ich werde Sie … werde Sie … einwickeln.

FLÖTISTIN

Bist du verrückt? Laß mich los! … Was machst du denn? Die Schritte kommen näher. Man hört ein zweites Türenschlagen, jetzt ganz nahe. Die Schritte verstummen. Das Gerangel hört ebenfalls auf. Ein Augenblick Stille. Was fehlt dir denn? Du bist ganz blaß!

GEIGER

Zu spät. Sie ist schon im Salon. Sicher horcht sie an der Tür. Man hört die Geige. Sie horcht immer, wenn ich Geige spiele. Sie hat mich gezwungen, Geiger zu werden. Sie hat beschlossen, aus mir einen Virtuosen zu machen, als ich noch ein Säugling war, gleich nach dem Tod...

Erscheint lt. Verlag 27.4.2022
Übersetzer Christa Vogel
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Lyrik / Dramatik Dramatik / Theater
Schlagworte 20. Jahrhundert • Anthologie • Drama • Dramen • Einakter • Einwanderer • Gastarbeiter • Intellektueller • Keller • Konflikt • Polen • Sammlung • Showdown • Silvester • Theaterstück • Unterkunft
ISBN-10 3-257-61083-1 / 3257610831
ISBN-13 978-3-257-61083-3 / 9783257610833
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