Wir Tiere (eBook)

Eine neue Geschichte der Menschheit
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
320 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-24897-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wir Tiere -  Melanie Challenger
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Eine vollkommen neue Geschichte der Menschheit.
Wir Menschen sind die neugierigsten, emotionalsten, einfallsreichsten, aggressivsten und gleichzeitig verwirrendsten Tiere auf dem Planeten. Doch wie gut kennen wir uns wirklich? Hadern wir mit unserer eigenen tierischen Natur und vernachlässigen damit einen zentralen Aspekt unseres Menschseins? Challengers revolutionäres Buch kombiniert neueste wissenschaftliche Erkenntnisse aus Natur- und Umweltgeschichte, Biologie und Philosophie, und führt uns thematisch von den frühen Agrargesellschaften über die Antike und die Moderne bis hinein in die nahe Zukunft der künstlichen Intelligenz.

Melanie Challenger studierte Literatur und Sprache an der Universität Oxford. Nach dem Studium arbeitete sie zunächst als Librettistin für klassische Musik, bevor sie sich der Erforschung naturgeschichtlicher und bioethischer Themen widmete. Ihr erstes Buch »On Extinction« zählte laut Publisher's Weekly zu den besten Sachbüchern des Jahres 2012. Sie ist außerdem preisgekrönte Lyrikerin. Unter Anderem adaptierte sie als Librettistin das Tagebuch von Anne Frank als Chorwerk für James Whitbourn, der dafür mit einem Grammy geehrt wurde. Für ihre Arbeiten über die kanadischen Inuit erhielt Melanie den renommierten Darwin Now Award. Die British Antarctic Survey machte sie für ihre Arbeiten über die Geschichte des Walfangs zum Fellow. Derzeit ist sie Mitglied des Nuffield Council on Bioethics und lebt mit ihrer Familie mitten in einem Waldstück.

Der unauslöschliche Stempel


Der Mensch mit allen seinen edlen Eigenschaften, mit der Sympathie, welche er für die Niedrigsten empfindet, mit dem Wohlwollen, welches er nicht bloß auf andere Menschen, sondern auch auf die niedrigsten lebenden Wesen ausdehnt, mit seinem gottähnlichen Intellekt, welcher in die Bewegungen und die Konstitution des Sonnensystems eingedrungen ist, [trägt] mit allen diesen hohen Kräften doch noch in seinem Körper den unauslöschlichen Stempel eines niederen Ursprungs.

Charles Darwin, The Origin of Species

Die Welt wird heute von einem Tier beherrscht, das sich nicht als Tier begreift. Und die Zukunft wird von einem Tier entworfen, das kein Tier sein will. Die Folgen bleiben nicht aus. Denn wenn die Geschichte vor ein paar Millionen Jahren bei einem aufrecht gehenden Affen mit einem Faustkeil begann, ist sie inzwischen bei einem haarlosen Primaten angelangt, der mit seinen Werkzeugen nach den Molekülen des Lebens greift.

Der Mensch selbst ist heute eine weitaus stärkere evolutionäre Kraft als die sexuelle Auslese oder die selektive Zuchtwahl. Mithilfe der Entdeckungen der Genforschung und Gentechnik können wir auf vielfältige Weise in die organische Struktur von Tieren eingreifen, auch in unsere eigene. Wir erschaffen Nagetiere mit menschlichen Leber- und Nervenzellen. Wir züchten Lachse, die nach unserem Terminkalender wachsen. Wissenschaftler können das Erbgut so manipulieren, dass sich todbringende Mutationen durch eine ganze Population von Wildtieren verbreiten.

Der Rest der Biosphäre befindet sich derweil in der Krise. In den Meeren, Wäldern, Wüsten und Steppen verschwinden Arten mit atemberaubender Geschwindigkeit. Aus geologischer Sicht sind wir Menschen eine Eiszeit, eine furchtbare Naturgewalt. Unsere Städte und Fabriken hinterlassen ihre Spuren im Erdreich, in den Zellen von Tiefseelebewesen und in den Teilchen hoch oben in der Stratosphäre. Bedauerlicherweise wissen wir nicht, wie wir uns dem Leben gegenüber verhalten sollen. Was auch daran liegt, dass wir nie für uns geklärt haben, welche Bedeutung andere Lebensformen haben – wenn sie denn überhaupt eine haben.

Wir können uns bestenfalls darauf einigen, dass wir eine Sonderstellung einnehmen. Seit Jahrhunderten leben wir so, als hätten wir nichts mit der Tierwelt zu tun. Wir glauben, dass wir über eine Zutat von einzigartigem Wert verfügen, etwa die Vernunft oder das Bewusstsein. In den Augen der Religionen sind wir keine Tiere, sondern Wesen mit einer Seele. Weltliche Religionen wie der Humanismus feiern unseren Sieg über den Aberglauben. Und die meisten von uns gehen wie selbstverständlich davon aus, dass zwischen uns und dem Rest der Tierwelt eine Art magische Grenze verläuft.

Die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier war nie problemlos, doch in den letzten Jahrhunderten war sie immer schwerer zu rechtfertigen. Wir tun so, als stünden unsere Bedürfnisse über denen aller anderen Lebewesen. Aber wenn wir im menschlichen Tier nach etwas suchen, das wir als »Person«, als »sittliches Wesen« oder gar als »Seele« bezeichnen können, geraten wir in arge Schwierigkeiten. Wir enden bei dem Irrglauben, dass wir irgendetwas an uns haben, das nicht organisch und an sich gut oder wertvoll ist. Was schließlich darin gipfelt, dass manche von uns unsterblich werden, ihr Gehirn optimieren oder gleich zur Maschine mutieren wollen.

Was nicht heißen soll, dass es keine benennbaren Unterschiede zwischen uns und dem Rest des Lebens gäbe. Denn dass wir der Welt bewusst gegenübertreten, ist ein atemberaubender Beleg dafür, wie weit sich das Leben entwickeln kann. Wir tauschen uns über abstrakte Vorstellungen aus und schlagen Abbilder von uns selbst aus Steinen. Wie ein Schwarm von Staren scheint unser Erleben mehr zu sein als die Summe unserer Teile. Von frühester Kindheit an verfügen wir über ein Identitätsgefühl, ein Kaleidoskop von Erinnerungen. Zu den Werkzeugen, mit denen wir unser Überleben und unsere Fortpflanzung sichern, gehören Fantasie und Täuschung, Selbstbeherrschung und Zukunftsvision. In einer Mischung aus Sinneseindrücken, Emotionen, verborgenen Impulsen und intimen Erzählungen träumen wir und malen uns die Zukunft aus.

Der menschliche Geist ist ein faszinierendes Naturphänomen. Doch unsere spezifische Intelligenz, zu der auch unser subjektives Bewusstsein gehört, bereichert uns nicht nur, sondern sie gestattet uns auch ein flexibleres Verhalten, insbesondere gegenüber unseren Artgenossen.

Nicht umsonst bestehen wir seit frühester Zeit darauf, dass unser Erleben einen Sinn und Wert hat, der den starren Verhaltensmustern anderer Tiere abgeht. Muss es nicht etwas geben, das sich nicht auf das bloß Tierische reduzieren lässt? So mancher meint, wenn wir keine Kultur hätten, wären wir den übrigen Lebewesen dieser Erde ähnlicher und müssten wieder mit Köpfchen und Körperkraft die zum Überleben nötigen Kalorien heranschaffen. Künstler vermitteln diese Botschaft gern und zeichnen das Bild eines den Naturgewalten unterworfenen Menschen. Doch gerade darin erkennen wir das Potenzial eines Bewusstseins, das – soweit wir wissen – in unserem Sonnensystem einmalig ist. Und da ist er wieder, dieser sonderbare Widerspruch, dass wir auf der einen Seite so offensichtlich mit allem in unserer Welt verwandt und auf der anderen so auffällig anders sind.

Wir sind das mythische Wesen, das unsere Vorfahren einst an Höhlenwände gezeichnet haben – der Therianthrop, halb Tier, halb Gott. Wir sind tierischer Körper – der Teil von uns, der blutet und altert – und dann ist da der einzigartige Teil, der unserer Intelligenz, unserem Bewusstsein, unserem Geist zu entspringen scheint. Wie der Philosoph George Kateb schreibt, sind wir »das einzige Tier, das nicht nur Tier, und die einzige natürliche Art, die teils unnatürlich ist«. Dem begegnen wir überall. Wir sind Tiere, wenn wir einander umarmen und als blutverschmierte Neugeborene aus dem Mutterleib kommen, aber nicht, wenn wir einen Eid ablegen. Wir sind Tiere, wenn wir unsere Zähne in das Fleisch auf unserem Teller schlagen, aber nicht am Arbeitsplatz. Wir sind Tiere, wenn wir auf dem Operationstisch liegen, aber nicht, wenn wir von Gerechtigkeit sprechen. Dieser Riss durch das Menschsein soll uns vor der Sinnlosigkeit der kreatürlichen Existenz bewahren, und er ist das Fundament, auf dem wir unsere ganze Welt errichten. Er hebt uns an die Spitze des Lebens. So kommt es, dass wir die menschliche Welt für reich halten, und die Tierwelt daneben für ihren blassen Schatten, und dass wir unser eigenes Wohl als das höchste erdenkliche Gut ansehen.

Es gibt durchaus Menschen, die glauben, dass wir ein Tier ohne besondere Herkunft und Bestimmung sind, und dass wir sogar ein ausgesprochen räuberisches Tier sind, auf das die Welt auch gut verzichten könnte. Doch kaum jemand handelt nach dieser Überzeugung. Wir alle leben so, als sei die menschliche Welt bedeutsam und unser Verhalten mehr oder weniger gut so.

Vielleicht könnte man es dabei bewenden lassen. Doch unser Tiersein verfolgt uns. Viele unserer Grundüberzeugungen rühren aus der Weigerung anzuerkennen, dass wir organische Wesen sind. Wir fühlen uns unwohl mit den tierischen Aspekten unseres Daseins. Tiere leiden und sterben ohne Sinn und Zweck. Als ein Wesen, das mit Eichen genauso verwandt ist wie mit Quallen und allen anderen Lebensformen, wären wir von Krankheitserregern, Verletzungen und Umweltveränderungen bedroht. Alles, was uns lieb und wert ist, muss aus der ungezähmten Landschaft befreit werden. Ein Tier zu sein wäre uns peinlich. Schlimmer noch: Es wäre gefährlich.

Doch die Geschichte lässt uns hoffen, dass wir anders sind als das restliche irdische Gesocks. Unser wahres Wesen bewahrt uns vor dem tierischen Los. Wo andere Tiere leiden und sterben, werden wir erlöst – ob durch das Paradies, eine glänzende Zukunft oder eine Maschine. Wir können uns über unsere tierischen Körper und unsere organische Natur erheben. Die unbeherrschbaren Naturgewalten können unserem eigentlichen Wesen nichts anhaben. So leben wir in einem sonderbaren Nebel des Vergessens. Indem wir uns einreden, dass uns ein realer und radikaler Bruch von allen anderen Lebewesen trennt, werden wir uns selbst zum unauflöslichen Rätsel.

Daher ist unser Verhältnis zu unserem Tiersein gestört. Mit einem Anflug von Panik denken wir daran, dass wir in einer chaotischen Welt leben. Vieles von dem, was uns lieb und teuer ist – unsere Beziehungen, das Gefühl von Verliebtsein und Liebe, Schwangerschaft und Geburt, die Freude des Frühlings, die Lust an einer guten Mahlzeit –, ist körperlich, weitgehend unbewusst und vor allem tierisch. Und auch unsere größten Ängste – vor Leid, Demütigung, Einsamkeit, Schmerz, Krankheit, Tod – entspringen tierischen Instinkten und den gemeinsamen Bedürfnissen aller Lebewesen. Was ist der wesentliche Teil unseres Erlebens? Die animalischen, körperlichen Empfindungen? Oder das geistige Flackern einer eigenwilligen, Geschichten erzählenden Intelligenz? Leider werden wir aus beidem nicht schlau. Mit unserer vielschichtigen Welterfahrung können wir uns durchaus einreden, dass wir die harsche Wirklichkeit des Tierseins hinter uns gelassen haben. Doch das ist ein Irrtum. Das menschliche Leben mag eine Mischung sein aus Fleisch und Traum, doch auch unsere Träume sind noch immer die eines Tiers. Sie sind nicht über den Körper erhaben, der sie hervorbringt. Es wäre Unsinn zu glauben, unsere Gaben hätten uns zu etwas gemacht, das nicht tierisch ist.

So leben wir hinter einer unsichtbaren Membran, durch die wir jederzeit hindurch und auf die andere Seite fallen können. Wir...

Erscheint lt. Verlag 23.8.2021
Übersetzer Jürgen Neubauer
Zusatzinfo mit zahlreichen Abbildungen
Sprache deutsch
Original-Titel How to be Animal: A New History of What it Means to Be Human
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Beziehung Mensch-Tier • Biologie • eBooks • Geschichte • Homo sapiens • Klima • Kulturgeschichte • Mensch • Mensch als soziales Wesen • Selbstfindung • Tierintelligenz • Umwelt • Yuval Noah Harari
ISBN-10 3-641-24897-3 / 3641248973
ISBN-13 978-3-641-24897-0 / 9783641248970
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