Hass und Versöhnung (eBook)

Ein ehemaliger Neonazi und eine Holocaust-Überlebende begegnen sich
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2021 | 1. Auflage
272 Seiten
cbt Jugendbücher (Verlag)
978-3-641-25827-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Hass und Versöhnung -  Reiner Engelmann
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»Hass wird gelernt. Und wenn man Hass lernen kann, kann man auch lernen zu lieben.« Nelson Mandela
Emil ist wütend, dass er gegen seinen Willen umziehen muss. In der neuen Stadt lehnt der Jugendliche alles ab und zieht sich immer mehr zurück - bis ein Klassenkamerad ihm eine völlig neue Welt eröffnet: die Welt der rechten Musik. Die Texte voller Wut, Hass und Gewalt sprechen Emil aus der Seele. Über diesen Zugang rutscht er immer tiefer in die rechte Szene ab. Zusammen mit seinen Kameraden richtet er seine Wut gegen alle, die in seinen Augen anders und damit minderwertig sind. Seine zahlreichen Straftaten bringen ihn schließlich ins Gefängnis, was sich für Emil als große Chance erweist. Er nimmt an einem Aussteigerprogramm aus der rechten Szene teil und findet langsam den Weg zurück in die »normale« Welt. Dabei hilft ihm die Begegnung mit einer Frau, die als Kind den Holocaust überlebt hat. Die Zeitzeugin Anne erzählt Emil von ihren Erfahrungen, die sie durch jene menschenverachtende Macht der Nationalsozialisten machen musste, die Emil einmal verherrlicht hat - und öffnet ihm damit die Augen.
Ergreifend, besonders, hochaktuell - ein ehemaliger Neonazi und eine Überlebende des Holocaust erzählen sich gegenseitig ihre Geschichte

Reiner Engelmann wurde 1952 in Völkenroth geboren. Nach dem Studium der Sozialpädagogik war er im Schuldienst tätig, wo er sich besonders in den Bereichen der Leseförderung, der Gewaltprävention und der Kinder- und Menschenrechtsbildung starkmachte. Für Schulklassen und Erwachsene organisiert Reiner Engelmann regelmäßig Studienfahrten nach Auschwitz. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Anthologien und Bücher zu gesellschaftlichen Brennpunktthemen. Für sein engagiertes Wirken in der Gedenk- und Erinnerungsarbeit wurde Reiner Engelmann mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet.

Prolog

Emil Landmann, Oktober 2015

Emil schaute sich in dem Raum um. Klein war der. Winzig. Er fühlte sich beengt. Ein Druck in der Brust verstärkte das Gefühl noch. Sein Herz schlug bis zum Hals. Jetzt nur nicht schwach werden, dachte er, nicht aufgeben, sonst habe ich verloren, bevor es richtig losgeht. Seine feuchten Hände wischte er an den Hosenbeinen ab.

Er schaute sich um. An der linken Wand stand eine Pritsche, sonst gab es nichts. Durch das vergitterte Fenster an der Stirnseite des Raums warf die Morgensonne ein paar Strahlen auf den Boden.

Den Druck von den Fußfesseln, die ihm die beiden Polizisten eben abgenommen hatten, spürte er noch deutlich an den Knöcheln. Von den Handschellen sah er die roten Abdrücke an seinen Handgelenken. Auf der langen Fahrt von der Haftanstalt bis zu diesem Ort hatte er sich total verkrampft und die Hände nach außen gedrückt, als ob er die Fesseln zerreißen wolle. Fast taub hatten sich die Hände angefühlt. Jetzt rieb er sie, damit sie wieder durchblutet wurden und das Kribbelgefühl nachließ.

Gut, dass er hier in dieser engen Zelle nicht lange würde bleiben müssen. Eine Stunde vielleicht oder auch zwei. So hatte man ihm gesagt. Hier in der Zelle, die zum Gerichtsgebäude gehörte, musste er warten, bis der Prozess begann. Der Prozess! Gegen ihn! Lächerlich! Er, Emil Landmann, war Angeklagter!

Emil kannte die Vorwürfe, die gegen ihn erhoben wurden. Sein Anwalt hatte sie ihm Punkt für Punkt erläutert. Sein Anwalt? Nein, es war nicht sein Anwalt, das Gericht hatte ihm einen Pflichtverteidiger zur Seite gestellt. Er hatte keinen gewollt, er fühlte sich unschuldig. Und die Anklagepunkte, die man gegen ihn erhob? Er fühlte sich nicht als Angeklagter. Er sah sich als Retter!

In seinen Gesprächen mit Emil versuchte der Anwalt, eine Strategie für die Verhandlung zu entwickeln. Emil hörte ihm zu und schwieg. Sagte nichts. Weder zu den Vorwürfen noch zu den Ideen des Anwalts.

Er, Emil Landmann, hatte einen anderen Blick auf die Dinge. Er hatte das getan, was getan werden musste. Darin sah er nichts Strafbares. War es etwa strafbar, sich für sein Land einzusetzen? Für sein Land, für sein Deutschland, damit es auch weiterhin sein Deutschland bleiben konnte? Sein Deutschland sollte erhalten bleiben, nicht aussterben, nicht von den unzähligen Flüchtlingen aus verschiedenen Kulturkreisen bevölkert werden. Deutschland sollte deutsch bleiben, mit seiner deutschen Kultur. Dafür kämpfte er.

Wann würde die Tür endlich aufgeschlossen? Emil war ungeduldig. Die Zeit schien stillzustehen. In kleinen Trippelschritten lief er in der Zelle auf und ab. An den Wänden entdeckte er Schriftzeichen. Undeutlich zwar, aber bei genauem Hinsehen doch lesbar. Ein paar Namen erkannte er … Ronny … Steve … Ricky … Peter … und ganz oft FUCK! Womit hatten seine Vorgänger in diesem Raum die Wörter in die Wand geritzt? Mit den Fingernägeln? Er probierte es. Es funktionierte. Die Farbe ließ sich leicht einritzen.

Womit kann ich diese Wand verzieren?, überlegte er. Mit einem Hakenkreuz? Nein, das würde sicher schnell auffallen und man würde es gegen ihn verwenden. Er entschied sich für eine Triskele*, die war weniger bekannt. Damit konnte er sich gut identifizieren.

Nach einer gefühlten Ewigkeit wurde die Zellentür endlich aufgeschlossen. Zwei Polizisten betraten den Raum, legten ihm wieder Handschellen und Fußfesseln an.

»Muss das sein?«, fragte Emil und zeigte nach unten.

»Seitdem einer mal das Weite gesucht hat, ist es Vorschrift!«, bekam er zur Antwort.

In kleinen Schritten, links und rechts von den beiden Polizisten begleitet, wurde er durch den langen Flur in den Gerichtssaal geführt. Eine Schulklasse war offenbar auch auf dem Weg dorthin. Er wurde von den Jugendlichen angestarrt wie ein Monster. Sie hätten ihn doch auch unbemerkt vom Publikum in den Gerichtssaal führen können, fand er. Emil versuchte den Blicken auszuweichen und schaute zu Boden.

In den Zuschauerreihen saßen schon mehrere Leute, vorwiegend ältere Männer. Warum die wohl hier sind?, überlegte Emil. Was erwarten sie?

Auch ein paar Redakteure der lokalen Presse saßen auf den für sie reservierten Stühlen.

Emil wurde zu dem Platz neben seinem Anwalt geführt, die Handschellen und Fußfesseln wurden abgenommen.

Die Zuschauerreihen füllten sich mit den Schülerinnen und Schülern.

Und dann – Emil konnte es nicht fassen: seine Eltern. Sie saßen im Publikum und nickten ihm zu.

Der Staatsanwalt in schwarzer Robe betrat den Raum, nahm seinen Platz links vom Richtertisch ein, legte ein Aktenbündel vor sich auf den Tisch und blätterte darin herum, ohne ein einziges Mal aufzusehen.

Auch die Gerichtsschreiberin hatte ihren Platz eingenommen.

Emil schaute sich um. Für ihn war das alles neu. Er war noch nie in einem Gerichtssaal gewesen, nicht als Zuschauer, auch nicht als Zeuge, geschweige denn als Angeklagter.

»Noch ist Zeit zum Reden«, sagte der Anwalt neben ihm, als er merkte, dass Emil unsicher geworden war.

Doch Emil zuckte mit den Schultern. Was sollte er jetzt noch sagen? Erneut wischte er seine schweißnassen Hände an den Hosenbeinen ab. Oder sollte er doch noch reden, jetzt? Würde das noch was bringen? In seinem Kopf herrschte Chaos. Sein Anwalt bemerkte es. Emil musste sich konzentrieren, versuchen, zur Ruhe zu kommen. Er war nicht sicher, ob ihm das gelingen würde.

Die Tür hinter dem Richtertisch öffnete sich, der Richter, ein älterer grauhaariger Mann, und zwei Schöffen betraten den Sitzungssaal.

Alle im Raum erhoben sich von ihren Plätzen.

Der Richter legte ein Aktenbündel vor sich auf den Tisch, schaute in die Runde und nickte.

»Nehmen Sie bitte Platz«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Bevor wir mit der Verhandlung beginnen«, fuhr er fort, »muss ich zunächst die Anwesenheit aller Beteiligten feststellen.«

Nacheinander rief er die Namen auf, nickte und gab schließlich dem Staatsanwalt ein Zeichen, die Anklageschrift zu verlesen.

Anne Schöps, Juni 1944

Anne rannte. Denken konnte sie nicht mehr. Nur noch rennen. Zurückschauen durfte sie nicht. Hinter ihr waren die Schüsse. Das Ziel lag vor ihr. Nur welches? Wo sollte sie hin? Sie konnte nicht denken, nicht fühlen, nur laufen. Schneller, immer schneller. In ihren Beinen spürte sie noch Kraft. Sie hörte den Ruf eines Wachpostens, dass sie stehen bleiben solle, sonst müsse er schießen, doch ihre Beine gehorchten ihr nicht. Weiterlaufen, weiterlaufen, ein Ziel suchen, ankommen, in Sicherheit sein – nur so würde sie ihre Beine wieder unter Kontrolle bekommen.

Es war Abend, die Straßen waren menschenleer. Das war gut. Die Dunkelheit bot ihr Schutz. In der Dunkelheit war sie nicht so leicht zu sehen. Sie irrte durch Straßen und enge Gassen. Wie von einer unsichtbaren Hand geführt, steuerte sie auf ein Haus zu. Sie kannte das Haus. Sie kannte auch die Menschen, die in dem Haus wohnten. Ihre Schritte wurden langsamer, am Eingang blieb sie stehen. Sie klopfte. Die Tür wurde geöffnet. Sie kannte die Frau, die im Flur stand. Ängstlich schaute sie Anne an.

»Darf ich reinkommen?«, bat Anne.

»Nein! Verschwinde! Mein Mann kommt gleich nach Hause, und wenn er dich sieht, geht er zu den Deutschen. Du weißt, was dann mit dir passiert!«

Die Frau knallte die Tür zu.

Wieder musste Anne laufen, durch Straßen und Gassen irren, ohne festes Ziel. Wo sollte sie hin? Ein Zurück gab es nicht! Sie musste etwas finden, eine Unterkunft, Menschen, die sie aufnahmen, ihr Schutz gaben. Menschen, die keine Angst vor den Deutschen hatten. Gab es das? Sie wusste es nicht, hoffte es aber. Die Hoffnung war das Letzte, was ihr blieb.

Das Gesicht einer Freundin tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Ob sie es dort versuchen sollte? Würden sie und ihre Eltern so mutig sein, ein jüdisches Mädchen aufzunehmen?

Wieder musste sie laufen, Straßen passieren, aufpassen, nicht entdeckt zu werden, das richtige Haus finden. Doch sie kannte sich aus, fand die richtige Straße.

Dort war es! Sie hatte das Haus gefunden. Ein richtiges Wohnhaus. Ein erleuchtetes Fenster. Dahinter wohnte eine Familie. Die Familie ihrer Freundin. So etwas gab es also noch. Ein normales Leben.

Anne stand vor der Haustür. Sie hoffte. Sie klopfte. Die Tür öffnete sich. Wieder ein entsetzter Blick.

»Kann ich reinkommen?«, bat sie, nun schon zum zweiten Mal. »Ich will auch kein Essen!«

»Du kannst nicht bleiben!« Die Worte der Mutter ihrer Freundin ließen keinen Zweifel aufkommen.

Aber wenigstens durfte Anne ein paar Minuten ins Haus. Das Zimmer war noch so eingerichtet, wie sie es in Erinnerung hatte. Bilder an den Wänden, in der Mitte ein großer Tisch mit Stühlen, in der Ecke der Kamin, in dem das Feuer loderte, eine angenehme Wärme verbreitete.

Wie lange hatte sie ein solches Zimmer nicht mehr gesehen, geschweige denn darin gewohnt? Früher mal, ja, als noch Frieden war. Als noch keine Jagd auf Juden gemacht wurde.

»Kann ich zu Danielle?«, fragte sie. Wie lange hatte sie ihre Freundin nicht mehr gesehen.

»Das geht nicht, sie schläft schon«, sagte die Mutter.

»Bitte, nur ein kurzer Blick!«, flehte Anne die Frau an.

Leise öffnete die Mutter die Zimmertür. Da lag sie. Danielle. Ihre langen blonden Haare fielen über das Kissen. Eine Federdecke war über den Körper gebreitet. Danielle schlief ganz friedlich.

Wann hatte Anne...

Erscheint lt. Verlag 15.11.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte 2. Weltkrieg • ab 14 • Ausstieg rechte Szene • eBooks • Fremdenfeindlichkeit • Geschichte • Holocaust • Holocaust-Überlebende • Judenverfolgung • Jugendbuch • mit Unterrichtsmaterial • Neonazi Buch • Neonazis • rechte Gewalt • Rechte Szene • Rechtsextremismus • Schullektüre • Schwarzer, Wolf, Skin • Ukraine • Vergangenheitsbewältigung • Weltkrieg • Young Adult • Zeitzeuge • Zusatzmaterial
ISBN-10 3-641-25827-8 / 3641258278
ISBN-13 978-3-641-25827-6 / 9783641258276
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