Waggon vierter Klasse (eBook)

Eine Spurensuche in der Nachkriegszeit

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
352 Seiten
cbt Jugendbücher (Verlag)
978-3-641-25423-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Waggon vierter Klasse -  Robert Domes
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Ein Flüchtlingsmädchen im Deutschland der Nachkriegszeit kämpft gegen das Schweigen
Sommer 1948: Die 16-jährige Martha ist ein Flüchtlingsmädchen aus Ostpreußen. Dass ihre Familie nicht dazugehört, bekommt sie täglich zu spüren. Mit ihrem Vater und zwei Geschwistern ist sie in einem ausrangierten Bahnwaggon am Rand eines bayerischen Dorfes untergekommen. Um den Waggon ranken sich Gerüchte, vor allem um seinen früheren Bewohner Alois Roth. Der Mann ist in der Nazizeit spurlos verschwunden.
Als Martha davon erfährt, wird sie neugierig. Was war Alois Roth für ein Mensch? Warum lebte er in diesem einsamen Waggon? Sie beginnt nachzufragen. Aber im Ort möchte niemand darüber sprechen. Es gibt Dinge, die sollte man besser ruhen lassen, heißt es nur. Doch Martha lässt sich nicht beirren. Sie will herausfinden, was wirklich mit ihm passiert ist.
Der bewegende Roman von Robert Domes (»Nebel im August«) beruht auf wahren Begebenheiten und gründlicher Recherche. Sensibel erzählt er von Kriegstrauma und Verdrängen, von der Frage nach Schuld und der Suche nach der Wahrheit.

Robert Domes, geboren 1961 im bayerischen Ichenhausen, studierte Politik und Kommunikationswissenschaften in München. Er arbeitete jahrelang als Redakteur bei der Allgäuer Zeitung, zuletzt als Leiter der Lokalredaktion in Kaufbeuren, bevor er sich 2002 als Journalist und Autor selbstständig machte. »Nebel im August«, sein erstes Jugendbuch über ein 'Euthanasie'-Opfer im Dritten Reich, wurde auf Anhieb ein großer Erfolg. Inzwischen gibt es davon eine hochkarätige, vielfach ausgezeichnete Verfilmung von Kai Wessel mit Ivo Pietzcker in der Hauptrolle.

Martha
GEISTER


Ich bin begraben. Sand und Kalk rieseln in meinen Mund. Das Heulen der Granaten hallt noch immer als Echo durch die Grüfte. Unter der Erde wimmern die Verschütteten. Ich höre das Weinen der Kinder, die sich an ihre Mütter pressen. Sie haben gelernt, leise zu sein, obwohl das nun völlig egal ist. So oder so wird niemand sie hören. Doch ich höre sie. Ich kämpfe mich mit blutenden Händen durch Schuttberge, die Haare kleben an meinem Gesicht. Rudernd wie eine Ertrinkende wache ich auf.

Die Schwärze bleibt, auch nachdem ich die Augen öffne. Ich habe keine Orientierung, weiß nicht, wo ich bin. Meine Finger betasten das Bett und die glatte Holzwand. Dann spüre ich Erna neben mir, die leise seufzt. Über mir auf der oberen Etage des Stockbetts der ruhige Atem von Karl, vom anderen Ende des Raumes das Schnorcheln von Vater. Ich bin nicht in einem Keller, ich bin in einem alten Bahnwaggon. In Obergünzburg. Im Allgäu. Die erste Nacht in meinem neuen Zuhause. Ich lege mich zurück in das schweißfeuchte Kissen und lausche. Kuhglocken schellen aus der Ferne, vor dem Fenster das Zirpen der Grillen und das Plätschern des Bachs, über dem Dach das sanfte Rauschen der Tannen. Langsam beruhigt sich mein Herz.

Da ist das Weinen wieder. Es kam nicht aus meinen Träumen, es kommt von draußen. Leise und unterdrückt, als würde jemand einem Kind die Hand vor den Mund pressen. Ich versuche, Erna zu wecken. Doch die schläft fest wie immer und dreht sich knurrend weg.

Vorsichtig taste ich mich zur Tür. Sie ist nicht abgesperrt. Vater schließt nie ab. Ich überquere den Bach, der direkt am Waggon vorbeifließt. Rechts säumt dichtes Gebüsch den Damm. Aus der finsteren Wand aus Zweigen und Blättern dringt das Weinen. So hoffnungslos, dass ich am liebsten mitheulen würde.

Ein dornengespickter Pfad führt ins Dickicht, der Eingang ist im Sternenlicht nur vage zu erkennen. Ich gebe mir einen Ruck und trete zwischen die Sträucher. Sofort hört das Klagen auf. Ich starre in die Schwärze und habe das Gefühl, dass ich selbst angestarrt werde. Was immer es ist, Mensch oder Tier, es lässt mich schaudern.

Ohne auf die Dornen zu achten und ohne mich umzuschauen, renne ich zurück zum Wagen. Im Bett horche ich noch lange hinaus in die Julinacht. Doch das Weinen ist verstummt. Selbst die Grillen schweigen.

*

»Ich dachte mir gleich, dass es hier spukt«, flüstert Erna. Sie ist von meinem nächtlichen Abenteuer wie elektrisiert. »Warum hast du mich nicht geweckt?«

»Erna, das kann alles Mögliche gewesen sein. Es war stockdunkel, ich habe nichts gesehen. Und außerdem: Wie soll man dich bitte schön wach kriegen? Dich könnte man in der Nacht davontragen und du würdest es nicht merken.«

Erna boxt mich in den Arm und zieht einen Schmollmund. Wir sitzen auf der Bank vor dem Waggon und genießen die Morgensonne. Vater ist schon früh ins Dorf gegangen, um etwas zu Essen zu besorgen. Karl macht sich im Waggon zu schaffen. Wir hören ihn laut und falsch vor sich hin pfeifen.

»Ich bin sicher, dass es ein Geist ist«, beharrt Erna. »Weißt du noch, gestern Nachmittag, kurz nachdem wir ankamen, ist die Blechtasse aus dem Regal gefallen, obwohl keiner dran war. Und am Abend flackerte die Petroleumlampe, obwohl kein Wind ging. Und dann die Geräusche. Es knarzt und knirscht und raschelt die ganze Zeit. Wie die alten Kutter zu Hause im Hafen.«

Ich senke die Stimme. »Das ist kein alter Kutter, sondern ein Piratenschiff. Die Mannschaft hat sich versteckt und wartet, dass das Meer zurückkommt. Dann nehmen sie uns alle mit nach Afrika.«

Erna wirft sich auf mich und fängt mit ihren flinken Fingern an, mich zu kitzeln. Wir rollen ins taufeuchte Gras. Sie ist im letzten Jahr mit einem Schub gewachsen und passt, obwohl sie drei Jahre jünger ist, inzwischen in meine Kleider. Sie hat mit dreizehn einen Busen und ihre Tage bekommen. Mein kleines Schwesterchen ist ein richtiger Backfisch geworden.

Ich werfe sie von mir ab und wir liegen lachend in der Sonne. Erna schaut auf den Waggon und runzelt die Stirn.

»Der Kasten ist mir unheimlich. Ich will hier nicht bleiben.« Sie seufzt. »Ich will wieder nach Radebeul zu Mutti. Du etwa nicht?«

Bevor ich antworten kann, steht Karl über uns. Er hat die Arme verschränkt, eine Haltung, die er sich von Vater abgeguckt hat.

»Na, toll. Ihr tobt hier rum und ich darf drinnen aufräumen. Vater hat gesagt, dass ab jetzt die Mädchen den Haushalt machen.«

»Das würde dir so passen«, sage ich schnippisch und werfe einen Erdklumpen nach ihm. Karl weicht geschickt aus und der Klumpen kracht gegen die Blechwand. Karl lacht und dreht mir eine Nase. Dann sieht er Ernas erschrockenes Gesicht.

»Keine Sorge, der Karren ist stabil.« Er klopft gegen die Blechkante und es hallt im Waggon wider. »Der bricht nicht so schnell auseinander.«

Aber Erna reagiert nicht. »Ist was?«, fragt Karl irritiert.

»Martha hat einen Geist gesehen«, sagt Erna.

Ich versuche sie mit einem scharfen Blick zu bremsen, aber sie redet weiter. »Genauer gesagt hat sie ihn nicht gesehen, sondern nur gehört. Es war ein schauriges Geheule. Heute mitten in der Nacht. Hast du nichts gehört?«

Karl schüttelt den Kopf und schaut mich fragend an.

»Es war mehr so, als ob ein Kind weint. Oder mehrere. Irgendwie seltsam – und ein bisschen gespenstisch.«

In Karls Gesicht breitet sich ein Grinsen aus, dann prustet er los und kriegt sich nicht mehr ein vor Lachen.

»Was ist daran so lustig?«, fragt Erna.

»Kommt mit«, sagt Karl und ist schon hinter dem Waggon verschwunden.

Wir folgen ihm in das Gebüsch, vor dem ich in der Nacht zurückgeschreckt bin. Jetzt am Tag sieht es friedlich und harmlos aus. Schon nach wenigen Metern, keinen Steinwurf vom Waggon entfernt, geben die Büsche eine Lichtung frei. Hier sind im Halbschatten sechs quadratische Betonbecken aneinandergereiht. Jedes so groß wie ein Doppelbett und gut einen halben Meter tief. Sie sind bis zur Hälfte mit Wasser gefüllt, das einen scharfen Gestank verbreitet. Auf den Becken liegen schwere Eisengitter, die mit Vorhängeschlössern gesichert sind.

Karl stellt sich wie ein Zirkusdirektor daneben und grinst.

»Da hast du deine Geister.«

Durch die Gitter blicken uns kleine Pelztiere mit Augen wie Glasmurmeln neugierig an. Sie sind so groß wie Stallhasen, haben ein graubraunes Fell und einen langen, dünnen Schwanz. Die Vorwitzigen unter ihnen machen Männchen und drücken ihre Nasen durch die Gitter. Unter ihren dicken Schnurrbärten leuchten orangefarbene Nagezähne hervor.

Erna bleibt in sicherem Abstand stehen. »Iiiih, das sind ja Ratten«, sagt sie angeekelt.

Karl verdreht die Augen. »Das sind keine Ratten. Das sind Nutrias. So was Ähnliches wie Biber.«

Es müssen mindestens fünfzig Tiere sein. Beim Näherkommen sehe ich, dass es Durchlässe zwischen den Becken gibt. Das Ganze ist wie eine Wohnung mit mehreren Zimmern.

Ich beuge mich hinunter und halte die Hände ans Gitter. Eine der Nutrias schnuppert daran. Ihre feuchte Nase wandert über meine Handflächen, dabei kitzeln mich die Barthaare an den Fingern. Es ist eine zärtliche Berührung.

»Und was hat das mit den Geistern zu tun?«, fragt Erna.

»Sie weinen in der Nacht«, sagt Karl. »Es hört sich an wie kleine Kinder.«

Die Nutria hat nun genug geschnuppert und reibt ihre haarige Wange an meiner Hand. Dieses kleine Pelzknäuel versteht mich. Es fühlt meinen Kummer und meine Sehnsucht.

»Du warst das also«, flüstere ich. »Du hast mich durch die Büsche angeschaut. Du wolltest mich gar nicht vertreiben. Du wolltest, dass ich zu dir komme und dich tröste.«

Als würde es mich verstehen, schaut das Tierchen hoch zu mir. Seine glänzenden Knopfaugen blicken mir bis in die Seele. Sie sehen jeden Riss, jede Verletzung, sie sehen die vielen Tränen, die ich nicht geweint habe.

»Wenn ich hier eingesperrt wäre, würde ich auch weinen«, sagt Erna, die immer noch auf Abstand bleibt.

Ich muss schlucken.

»Was passiert denn mit denen?«, fragt Erna.

Karl fährt sich mit der Hand quer über den Hals. »Daraus macht man Pelzmäntel.«

Ich fahre hoch. »Pelzmäntel? Wer kommt denn auf die Idee?«

Karl zuckt mit den Achseln. »Scheint gerade schwer in Mode zu sein.«

Als ich zurück zum Gehege schaue, ist die Nutria weg. Sie hat sich in die hinteren Becken zu ihrer Herde zurückgezogen.

Wie uns Karl erklärt, werden die Nutrias von einem Mann aus dem Dorf gezüchtet. Er heißt Greisel, aber alle nennen ihn nur Bienenkönig. Schon in der dritten Generation hält die Familie Bienenvölker rund um das Dorf und handelt mit Honig. Eines seiner Bienenhäuser steht wenige Meter vom Waggon weg auf der Wiese, gleich neben dem Plumpsklo. Der Bienenkönig hat auch sonst viele Tiere und er hat als Erster im ganzen Umkreis eine Nutriazucht eröffnet.

»Dann könnte er ja jetzt auch Biberkönig heißen«, kichert Erna.

Karl rollt mit den Augen und erzählt weiter. Der Bahnwaggon diente dem Bienenkönig als Lager, zum Schleudern des Honigs, zum Gerben der Felle oder einfach, um sich im Winter aufzuwärmen. Als Vater in Obergünzburg eine Wohnung für die Familie suchte, überließ Greisel ihm den Wagen.

Im Dorf selbst ist schon lange nichts mehr zu finden. Die vielen Flüchtlinge haben alles belegt. Komplette Großfamilien quetschen sich in Abstellkammern und Geräteschuppen. Selbst Garagen, Ställe und zugige Heuschober werden als Wohnung genutzt. Wer...

Erscheint lt. Verlag 13.12.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte ab 14 • Aufarbeitung des Nationalsozialismus • Auschwitz • eBooks • Flüchtlingsschicksal • Flucht und Vertreibung • Geschichte • Heul doch nicht, du lebst ja noch • Holocaust • Jugendbuch • Mauthausen • Nachkriegszeit • Nebel im August • Obergünzburg • Schullektüre • Unterrichtsmaterial Nationalsozialismus • Young Adult
ISBN-10 3-641-25423-X / 364125423X
ISBN-13 978-3-641-25423-0 / 9783641254230
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