Serge und Jane (eBook)
368 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-2690-7 (ISBN)
Günter Krenn, geboren 1961, Studium der Philosophie und Theaterwissenschaft an der Universität Wien. Zahlreiche Publikationen zum Film u. a. über Billy Wilder, Louise Brooks und Walter Reisch. Er lebt in Wien und ist dort Mitarbeiter des Österreichischen Filmmuseums. Im Aufbau Verlag ist von ihm 'Die Welt ist Bühne. Karl-Heinz Böhm. Die Biographie' lieferbar und im Aufbau Taschenbuch 'Romy Schneider. Die Biographie' sowie 'Romy & Alain. Eine Amour fou'.
Günter Krenn, geboren 1961, Studium der Philosophie und Theaterwissenschaft an der Universität Wien. Zahlreiche Publikationen zum Film u. a. über Billy Wilder, Louise Brooks und Walter Reisch. Er lebt in Wien und ist dort Mitarbeiter des Österreichischen Filmmuseums. Im Aufbau Verlag ist von ihm "Die Welt ist Bühne. Karl-Heinz Böhm. Die Biographie" lieferbar und im Aufbau Taschenbuch „Romy Schneider. Die Biographie“ sowie „Romy & Alain. Eine Amour fou“.
Olia & Iossip
Einer Familienlegende zufolge besiegelte ein gestohlenes Ölbild die Entscheidung eines jungen, kunstsinnigen Ukrainers, sich zu Beginn der 1910er Jahre anstelle der Malerei lieber der Musik zuzuwenden. So erzählt es zumindest eine innerfamiliär tradierte Geschichte, und viele Protagonistinnen und Protagonisten der folgenden Seiten verstehen sich gut auf das Fabulieren beim Erfinden oder Umdeuten von Ereignissen. Möglicherweise begründete sich der Spartenwechsel auch auf einen gewissen Talentmangel, den sich der Jüngling bis dahin nicht eingestehen wollte und nunmehr nicht mehr musste. Er ist aschkenasischer Jude, heißt Sergej Iossip Ginzburg – der Nachname wird aus dem Kyrillischen später als Ginsburg transkribiert – und wurde am 27. März 1896 in Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, geboren.8 Er hat vier Brüder und eine Schwester und sein Leben wird lange Zeit eine beinahe unendliche Odyssee werden, die fast 3000 Kilometer weit entfernt in Europa endet.
Mit fünf Jahren lebt Iossip in Mariupol am Asowschen Meer. Nachdem sein Vater Hérich im Jahre 1904 den zaristischen Einberufungsbefehl in den Japanisch-Russischen Krieg verweigert, flieht die Familie von dort nach Weißrussland und kehrt nach der russischen Niederlage im darauffolgenden Jahr wieder in die Ukraine zurück.9 Ohne Hérich allerdings, erzählt die Familiensaga, der verließ die Familie, um sich nach Westen abzusetzen, und soll dabei bis nach England gelangt sein. Es gibt neben martialischen auch andere Motive für die verbliebenen Ginsburgs, über eine Ausreise aus der Ukraine nachzudenken. Erste Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung dort werden bereits im 19. Jahrhundert verzeichnet, 1905 folgen weitere, die eine Auswanderungswelle Richtung Mittel- und Westeuropa zur Folge haben. Um Krieg und Gewalt zu entgehen, werden die Ginsburgs noch einige Reisen in ihrem Leben unternehmen müssen.
Iossip plant seine Zukunft dennoch zunächst in seinem Geburtsland, und er hat dafür sehr konkrete Pläne. Während sich die Zerrissenheit der seit Jahrhunderten immer wieder unter diversen Imperien aufgeteilten Ukraine in einer mitunter gewaltvollen Suche nach eigener Identität manifestiert, hat der junge Ginsburg seine eigentliche Heimat anderswo definiert. Das Wort Kunst, so betont er, hätte er zeitlebens stets in Großbuchstaben geschrieben. Mit neunzehn Jahren ist der begabte Pianist Absolvent eines Konservatoriums und hat es bei Musikwettbewerben bereits zu Auszeichnungen gebracht. Neben der Musik fasziniert ihn auch die Malerei. Interessiert verfolgt er zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Konflikt zwischen der traditionellen naturalistischen Darstellungsweise und dem radikalen Bruch durch die Avantgarde. Auch in dieser Kunstform versucht er sich, liefert Talentproben, ist noch unsicher, womit er sich lieber beschäftigen möchte, bis das Schicksal für ihn entscheidet. Auf einer Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn führt Iossip das selbst gefertigte Porträt einer von ihm verehrten Frau mit sich, eine Liebe, mindestens so ewig wie eine solche Zugfahrt, das ihm während der Reise abhandenkommt, woraufhin er schwört, nie wieder einen Pinsel in die Hand zu nehmen. Wenn die Geschichte nicht von Dostojewski, Turgeniew oder Gogol erfunden wurde, dann stammt sie wohl von Ginsburg. Fest steht, dass Iossip fortan nur mehr als Musiker tätig sein wird. Die Liebe zur Malerei wird er später an seinen Sohn vererben, und sie wird auch für diesen lebenslang eine unerfüllte bleiben.
1916 ist Iossip wieder in der Ukraine ansässig, diesmal in Jekaterinoslaw, dem späteren Dnipropetrowsk und heutigem Dnipro. Sein Ziel ist nun, dass sich sein Konterfei bald in St. Petersburg oder Moskau in einem Kupferschild an der Haustür widerspiegelt, auf dem der Titel eines Konservatoriumsprofessors zu lesen ist. Es sollte anders kommen. Seit 1914 tobt der Erste Weltkrieg, ein Teil der Ukraine steht unter der Verwaltung der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, der andere gehört zum Russischen Reich. Ukrainer kämpfen also in manchen Schlachten gegen ihre eigenen Landsleute, sogenannte »Kleinrussen« auf zaristischer Seite gegen die »Ukrainische Legion« in der k.-u-k.-Armee.
Iossip entgeht einem Einberufungsbefehl vonseiten Russlands und lässt sich 1917 in Feodossija nieder, einer Hafenstadt auf der Krim, wohnt dort bei der Familie Besman in der St. Katherinenstraße, um den acht Kindern Musikunterricht zu geben. In eines davon verliebt er sich: Olia, der Name ist ein Diminuitiv von Olga, eigentlich heißt die Dame Brucha Goda Besman. Geboren am 15. Januar 1894 in Feodossija, ist sie zwei Jahre älter als er und verfügt über einen ausdrucksstarken Mezzosopran. Iossip begleitet sie am Klavier und sie ihn bald durchs Leben. Er ist geprägt von Sentimentalität und Melancholie, sie gesegnet mit Humor und Selbstironie. Das scheint eine gute Mischung zu ergeben, denn die Beziehung hält ein Leben lang. Auf frühen Fotografien posieren sie nebeneinander im Atelier. Das ordentlich gescheitelte, damals noch volle dunkle Haar Iossips wellt sich mit elegantem Schwung, sein freundliches Wesen findet seine Entsprechung in einem sanft gerundeten Gesicht, aus dem zwei Augen erst durch einen Kneifer, später durch eine Brille mit fast eulenartiger Dignität auf die Welt blicken. Am liebsten hat er Notenblätter vor Augen oder lässt, ohne etwas damit fixieren zu müssen, Musik, deren Ablauf in seinem Kopf gespeichert ist, von dort aus in die Finger strömen, deren Bewegungen sein Instrument zum Klingen bringen. Olia steht auf dem Foto hinter ihm, wie sie das symbolisch und faktisch ihr Leben lang tun wird. In ihrem hübschen Gesicht beeindrucken zwei wache Augen, die Lebenssituationen meist schneller erkennen, als ihr Mann dazu in der Lage ist. Später wird Iossip dies die glücklichste Zeit in seinem Leben nennen: 21 Jahre alt, verliebt, sein finanzielles Auskommen durch Studenten gesichert, endlich in einer freundlichen Stadt angekommen und in der Lage, sich zwei Leidenschaften hinzugeben: Olia und der Musik. Auch den Namen seiner Frau hat er wohl zeitlebens in Großbuchstaben geschrieben. Ihre gemeinsame unbeschwerte Zeit in der vertrauten Stadt hat allerdings nur als Erinnerung in Erzählungen und ein paar Fotografien die Zeit überdauert, wie sich Olias älteste Tochter fast hundert Jahre später überzeugen konnte: »Ich war im Jahr 2005 einmal in Feodossija und habe versucht, Spuren meiner Eltern wiederzufinden, aber das war ein Ding der Unmöglichkeit, da die Stadt mehrere Kriege durchlebt hatte.«10
Die Russische Revolution, die 1917, im selben Jahr, als Olia und Iossip noch von einer gemeinsamen Zukunft in der Ukraine träumen, in Petrograd ausbricht, passt gar nicht in das Zukunftsbild des jungen Liebespaares. Die sozialpolitischen Ziele der Revolutionäre in dem von zaristischem Absolutismus unterdrückten Land sind ihnen vermutlich nicht egal, sie erleben jedoch in erster Linie die Gewalt und Brutalität bei deren Umsetzung – und das auf beiden Seiten. Olia wird als Krankenschwester in ein Armeespital nach St. Petersburg beordert, an die 2000 km in Richtung Norden ans andere Ende des Reiches, wie ihre Tochter schildert: »Sie kam dort inmitten der Oktoberrevolution an und fand für meinen Vater eine Stelle als Sekretär im Krankenhaus. Er bestieg also in Feodossija mit einem großen Laib Brot als Proviant einen Zug, doch es herrschte ja bereits Krieg. Immer wieder hielten deshalb sowohl Menschewiken als auch Bolschewiken Züge an und töteten alle, die eine Uniform anhatten, darunter auch Studenten.«11 Dieser Umstand bringt Iossip in Lebensgefahr, denn ihn kleidet die für Musikstudenten übliche schwarze Uniform mit Goldknöpfen. Dass er sich bei einem solchen militärischen Überfall vor den marodierenden Soldaten einmal unter dem ausladenden Rock einer Bäuerin versteckt hat, stammt in diesem Falle nicht von Günter Grass aus dessen Blechtrommel, sondern – wiederum – von Ginsburg. Iossip trifft wohlbehalten in St. Petersburg ein und heiratet Olia dort am 18. Juni 1918. Im selben Jahr wird die Zarenfamilie als Symbol der alten Ordnung ermordet, der Entschluss der Ginsburgs, der Ukraine den Rücken zu kehren, steht zu jener Zeit bereits fest, denn Iossip möchte, ganz im Sinne der Familientradition, der Einberufung in die Armee, egal für welche Seite, entgehen. Die Machtkämpfe und das anarchische Durcheinander nach der Ermordung des Zaren nützen die Ukrainer zur Ausrufung der »Ukrainischen Volksrepublik« und erklären 1918 ihre Unabhängigkeit von Russland. Die Bolschewiken versuchen postwendend, das Land zurückzuerobern. Auf Bitten der Ukraine unterstützen deutsche und österreichisch-ungarische Truppen den neuen Staat. Die Hoffnung der Ukrainer, ihre Unabhängigkeit durch den Friedensvertrag von Brest-Litowsk zu gewährleisten, zerschlägt sich bald. Nach der Niederlage der Mittelmächte im Oktober 1918 stellen sowohl Polen als auch die neu gegründete Sowjetunion Ansprüche auf die Ukraine und teilen das Land 1920 unter sich auf. Bis 1991 lebt die Idee eines unabhängigen Staates nur im Namen »Ukrainische Sowjetrepublik« weiter, in diesem Jahr erlangt die Ukraine nach der Auflösung der Sowjetunion ihre Souveränität zurück, doch wie die Geschichte gezeigt hat, auch dieses Mal nicht für immer.
Ihre gemeinsame kurze Zeit in der Ukraine werden Olia und Jossip nie vergessen, die Krim ihnen ein Leben lang als verlorene Heimat verklärt im Gedächtnis bleiben. »Odessa ist fest in der Hand von Verliebten. Friedliche Leute, sanft, aber offenherzig. Die Mädchen und ihre Liebhaber zieren sich nicht. Die öffentlichen Plätze quellen über von jungen...
Erscheint lt. Verlag | 15.2.2021 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | 60er Jahre • Alain Delon • Andrew Birkin • Birkin Basket • Blow up • Boris Vian • Brigitte Bardot • Catherine Deneuve • Chansons • Charlotte Gainsbourg • Edith Piaf • France Gall • Francoise Hardy • Georges Brassens • Glamourpaar • Jacques Doillon • Jane Birkin • Je t'aime moi non plus • Juliette Gréco • La Javanaise • l'amour • La piscine • London • Lou Doillon • Lulu Gainsbourg • Marianne Faithfull • Michel Piccoli • Mireille Mathieu • Monkey Diaries • Nouvelle Vague • Paris • Romy Schneider • Serge Gainsbourg • Vanessa Paradis |
ISBN-10 | 3-8412-2690-6 / 3841226906 |
ISBN-13 | 978-3-8412-2690-7 / 9783841226907 |
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