Metamorphosen (eBook)

Das Leben hat viele Formen. Eine Philosophie der Verwandlung

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
208 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27002-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Metamorphosen - Emanuele Coccia
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Was ändert sich für uns Menschen, wenn wir uns nicht länger als Individuen betrachten, sondern als Teil des einen Lebens auf der Erde? Die Raupe baut einen Kokon, verwandelt sich in einen Schmetterling und verändert damit grundlegend ihre Form. Diese Beobachtung führt Emanuele Coccia zu der Annahme, dass auch der Mensch kontinuierlich Metamorphosen durchläuft: Der Fötus wird zum Erwachsenen, der sich am Ende seines Lebens in Atome auflöst und von anderen Lebewesen aufgenommen wird. Coccia verbindet Philosophie und Evolutionsbiologie in seiner Neuvermessung unserer Existenz. Und ermöglicht uns ein neues Verständnis davon, wie wir als Menschen mit der Welt verbunden sind.

Emanuele Coccia, geboren 1976, ist Professor für Philosophiegeschichte an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Er promovierte in Florenz und war Assistenzprofessor für Geschichte der Philosophie in Freiburg. 2018 erschien sein preisgekröntes Buch Die Wurzeln der Welt auf Deutsch und wurde zum Erfolg, 2020 folgte Sinnenleben. Eine Philosophie. Sein Werk wird in mehrere Sprachen übersetzt.

»Coccia definiert das Verhältnis zwischen Mensch und Natur neu.« Peter Wohlleben

Einleitung


Die Kontinuität des Lebens


Im Anfang waren wir alle ein Leben. Wir teilten uns denselben Körper und dieselbe Erfahrung. Seither hat sich nicht viel verändert. Wir haben unsere Lebensformen und Seinsweisen vervielfältigt. Und noch heute sind wir alle ein und dasselbe Leben. Seit Millionen von Jahren wird dieses Leben von Körper zu Körper, von Individuum zu Individuum, von Spezies zu Spezies, von Reich zu Reich weitergegeben. Gewiss, es wandert und wandelt sich. Und doch beginnt das Leben jedes einzelnen Lebewesens nicht mit der eigenen Geburt: Es ist sehr viel älter.

Betrachten wir unsere Existenz. Unser Leben, also das, was wir als das Intimste, am wenigsten Mitteilbare in uns begreifen, kommt nicht von uns, hat nichts Exklusives, nichts Persönliches: Es wurde uns von anderen weitergegeben, hat schon andere Körper belebt, andere Quäntchen der Materie als jene, die uns beherbergen. Neun Monate lang war das Unaneigenbare und Unzuschreibbare am Leben, das uns belebt und erweckt, eine physische, materielle Evidenz. Wir waren der Körper, die Stimmungen, die Atome unserer Mutter. Wir sind dieses Leben, das den Körper mit einem anderen teilt, das sich fortsetzt und versetzt wird.

In unserem Atem setzt sich der Atem eines anderen fort, in unseren Adern fließt das Blut eines anderen; die DNA, die wir von jemand anderem bekommen haben, modelliert und gestaltet unseren Körper. So, wie unser Leben lange vor unserer Geburt begonnen hat, endet es erst lange nach unserem Tod. Unser Atem versiegt nicht in unserem Leichnam: Er wird noch all diejenigen versorgen, die mit ihm einen Festschmaus feiern werden.

Ebenso wenig ist unsere Menschheit ein originäres, autonomes Produkt. Auch sie ist eine Fortsetzung und eine Metamorphose früheren Lebens. Genau genommen ist sie eine Erfindung der Primaten — einer anderen Lebensform —, die sie aus ihrem Körper, ihrem Atem, ihrer DNA, ihrer Lebensweise abzuleiten vermochten, um das sie belebende und bewohnende Leben in einer anderen Weise existieren zu lassen. Sie haben diese Form an uns weitergegeben und leben durch die menschliche Lebensform weiter in uns fort. Im Übrigen sind die Primaten selbst nichts anderes als ein Experiment, ein Fehdehandschuh, den andere Spezies, andere Lebensformen hingeworfen haben. Die Evolution ist eine Maskerade, die in der Zeit abläuft, nicht im Raum. Der es, von Ära zu Ära, einer jeden Spezies ermöglicht, eine neue Maske aufzusetzen, die sich von der des Erzeugers unterscheidet; und allen Töchtern und Söhnen, nicht wiedererkennbar zu sein und die Eltern nicht wiederzuerkennen. Dennoch sind die Mütter-Spezies und die Töchter-Spezies, allem Wechsel der Masken zum Trotz, eine Metamorphose des einen Lebens. Jede einzelne Spezies ist ein Patchwork aus Teilen, die sie von anderen Spezies übernommen hat. Wir, die lebenden Spezies, haben nie aufgehört, uns Teile, Umrisse, Organe auszutauschen, und was wir sind, jede und jeder von uns, gemeinhin »Spezies« genannt, ist nichts weiter als die Gesamtheit aller Techniken, die ein Lebewesen von den anderen übernommen hat. Diese Kontinuität der Umwandlung ist der Grund, warum jede Spezies unendlich viele Züge mit Hunderten anderer Spezies gemein hat. Augen, Ohren, eine Lunge, eine Nase, warmes Blut zu haben, diese Tatsache haben wir mit Millionen anderer Individuen, mit Tausenden anderer Spezies gemein — und in all diesen Formen sind wir nur zum Teil menschlich. Jede Spezies ist eine Metamorphose all derer, die ihr vorausgegangen sind. Ein Leben, das sich einen neuen Körper bastelt, eine neue Gestalt, um auf andere Weise zu existieren.

Die tiefere Bedeutung der darwinschen Evolutionstheorie, von der die Biologie und der öffentliche Diskurs nichts wissen wollen, ist: Die Spezies sind keine Substanzen, keine realen Entitäten. Sie sind »Lebensspiele« (in demselben Sinne, wie man von »Sprachspiel« spricht), unbeständige und notwendigerweise ephemere Konfigurationen eines Lebens, das mit Vorliebe von einer Form zur anderen wandert und zirkuliert. Wir haben längst nicht alle Konsequenzen aus der darwinschen Eingebung gezogen. Die Behauptung, die Spezies seien durch eine genealogische Beziehung miteinander verbunden, bedeutet nicht nur, dass die Lebewesen eine Großfamilie oder einen Klan bilden. Sie bedeutet vor allem, dass die Identität einer Spezies ganz und gar relativ ist: Wie die Affen die Eltern sind und die Menschen, ihre Kinder, nur durch sie und im Vergleich zu ihnen menschlich sind, so ist jede und jeder von uns nicht im absoluten Sinne eine Tochter oder ein Sohn, sondern nur im Verhältnis zur Mutter und zum Vater. Die Formel der Kontinuität (und der Metamorphose) mit den anderen Spezies ergibt sich ausschließlich aus der spezifischen Identität.

Diese Betrachtungen lassen sich auf alle Lebewesen übertragen. Zwischen dem Lebendigen und dem Nicht-Lebendigen besteht keinerlei Gegensatz. Nicht nur, dass alles Lebendige in einer Kontinuität mit dem Nicht-Lebendigen steht, es ist auch dessen Fortsetzung, Metamorphose und äußerster Ausdruck.

Das Leben ist immerzu Reinkarnation des Nicht-Lebendigen, ein Bastelwerk des Minerals, ein Karneval der irdenen Substanz eines Planeten — Gaia, der Erde —, der seine Gesichter und Seinsweisen im kleinsten Teilchen des eigenen, verschiedenartigen, heterogenen Körpers unablässig vervielfacht. Das Ich ist ein Vehikel für die Erde, ein Schiff, mit dem der Planet reisen kann, ohne sich fortzubewegen.

Von den Gestalten in uns


Lange vor dem Zeitalter der sozialen Medien waren Fotos von einem selbst selten: Sie retteten einige seltene Augenblicke vor dem Vergessen und schluckten die Farbe und das Licht des Lebens, das sie verkörperten. Sie wurden in dicken Alben aufbewahrt, die selten durchgeblättert und noch seltener gezeigt wurden — als wären es heilige Bücher, die nur Eingeweihten enthüllt werden durften. Diese Alben enthielten normalerweise nichts Schriftliches, sondern bedurften langer mündlicher Erklärungen. Denn sich in sie zu vertiefen, bedeutete jedes Mal, eine Evidenz wiederzuentdecken, die wir lieber vergessen würden.

Auf diesen Seiten nahm das Leben die Gestalt einer langen Parade autarker Silhouetten an, die breite dunkle Schattenkränze voneinander trennten. Ungeachtet der Unähnlichkeit der Gestalten fiel es mehr als leicht, sich in diesem seltsamen Defilee der Körperhüllen unserer Vergangenheit wiederzuerkennen. Trotzdem begleitete ein Schauder die Abfolge dieser Figuren, die sich anschickten, »ich« an unserer Stelle zu sagen. Das Album schien den Zeitunterschied aufzuheben und die Bilder wie in einem Polyptychon einer vielköpfigen Großfamilie auszustellen. Es verwandelte sie im Zuge einer seltsamen Dissoziation in fast eineiige Zwillinge, die ein Parallelleben zu führen schienen. Unsere Existenz kam uns plötzlich wie die titanische Bemühung vor, von einem Leben zum anderen, von einer Gestalt zur anderen zu wechseln, wie eine Reise der Reinkarnation in diese Körper und Situationen, obwohl sie so weit voneinander entfernt waren wie das Insekt vom menschlichen Körper des Gregor Samsa. Bei anderer Gelegenheit erzeugte seine Magie eine genau entgegengesetzte Wirkung: Das Album durchzublättern, bedeutete, den Rausch der vollkommenen Gleichwertigkeit zwischen den verschiedenartigsten Gestalten zu empfinden. Unser aktuelles Ich entpuppte sich, ohne identisch zu sein, als vollkommen gleichwertig mit unserem Ich als Kind von einem Meter Größe, das kaum über eine Wiese laufen konnte, oder mit unserem Ich als Jugendliche oder Jugendlicher mit dem Pickelgesicht und der Gammelfrisur. Die Unterschiede sind riesig, dennoch drückt jede dieser Gestalten das gleiche Leben gleich kraftvoll aus. Diese Alben waren der exakteste Ausdruck der Koinzidenz von Leben und Metamorphose.

Die Gestalt des Lebendigen im Erwachsenenalter macht uns immer noch perplex. Wir erkennen dieser Altersstufe eine Vollkommenheit und Reife zu, die wir den anderen absprechen. Als wäre alles, was davor war, nur die Vorbereitung für diese Silhouette, die für uns bestimmt war, und alles, was danach kommt, nur Verfall und Zerstörung. Dabei ist nichts irriger als das. Unser Erwachsenenleben ist nicht vollkommener, mehr das unsrige, menschlicher, erfüllter als das Leben des zweizellularen Embryos kurz nach der Befruchtung des Eies oder das Leben des Greises an der Schwelle zum Tod. Mehr noch, alles Leben muss, um sich zu entfalten, eine irreduzible Vielzahl von Gestalten durchlaufen, ein ganzes Volk von Körpern,...

Erscheint lt. Verlag 15.3.2021
Übersetzer Caroline Gutberlet
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Métamorphoses
Themenwelt Geisteswissenschaften Religion / Theologie
Schlagworte Aristoteles • Bestseller • Charles Darwin • darf man Tiere essen? • Das geheime Leben der Bäume • Evolutionsbiologie • gaia • Individualismus • Individualität • Klimakrise • Kunst • Land Art • Leben auf der Erde • Leben nach dem Tod • Mensch und Natur • Mensch und Umwelt • Mode • Natur • Naturphilosophie • Ökologie • ökologisch Bauen • Peter Wohlleben • Pflanzen • Philosophie • Stefano Mancuso • Unser Planet • Viren • was kommt nach dem Tod? • Wurzeln der Welt • Zukunft
ISBN-10 3-446-27002-7 / 3446270027
ISBN-13 978-3-446-27002-2 / 9783446270022
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