Die Scham, das geheimnisvolle Gefühl (eBook)
380 Seiten
tredition (Verlag)
978-3-347-10608-6 (ISBN)
Psychotherapeut Buchautor Blogautor
Psychotherapeut Buchautor Blogautor
Anthropologische und psychologische Grundannahmen
Ich möchte anfangs mein Menschenbild, meine anthropologischen und psychologischen Vorannahmen skizzieren, damit klar ist, von welchem Hintergrund diese Ausführungen geprägt sind. Nicht jede Leserin muss sich diesen Auffassungen anschließen, und die vorgestellten Ideen und Einsichten können auch dann interessant und hilfreich sein, wenn jemand ein anderes Modell des Menschen vorzieht.
Ich sehe den Menschen als leib-seelische Einheit, nicht als Zusammenfügung von zwei grundsätzlich voneinander getrennten Entitäten. Das Körperliche ist geistig, das Geistige ist körperlich. Stimmungen, die wir erleben, sind zugleich hormonelle Prozesse in unserem Körper, die wiederum durch seelische Vorgänge beeinflusst und verändert werden können. Es gibt keinen Geist ohne Körper und keinen Körper ohne Geist.
Jeder Mensch ist einzigartig. Die Natur ist nicht in der Lage, identische Formen und Gestalten hervorzubringen: Kein Regentropfen und keine Schneeflocke, kein Vogelgezwitscher und kein Grashalm gleicht dem anderen; warum also sollte ein Mensch identisch sein mit einem anderen? Dazu kommt, dass wir keine festgeschriebenen und definierten Wesen sind, sondern solche, die sich beständig verändern, lernen, wachsen und sich anpassen. Das ist es auch, was wir am meisten brauchen – Anerkennung für diese Einzigartigkeit.
Wir sind dicht beschriebene Blätter mit leeren Stellen, wir sind fragil, weil uns vieles leicht aus dem Gleichgewicht bringen kann, und wir verfügen über unendliche Kreativität und Plastizität, sodass wir so viele missliche Situationen, in die wir geraten, bewältigen können. Zerbrechlichkeit und Kraft, Verletzbarkeit und Heilungsfähigkeit sind die Pole, zwischen denen sich die menschliche Existenz bewegt.
Menschen sind soziale Wesen, immer Teil von sozialen Einheiten, in ständiger Wechselwirkung zu anderen Menschen, Einzelpersonen, Gruppen und größeren Gemeinschaften. Deshalb ist die soziale Dimension in jede leib-seelische Einheit hineingeflochten, die ohne sie nicht verständlich ist. Sozial heißt auch politisch, ökonomisch und ökologisch – wir sind eingebunden in das Schicksal der Menschen, die uns nahestehen, und auch jener, die wir gar nicht kennen, den Nächsten und den Fernsten. Wir sind Teil von Entscheidungsprozessen, die die Richtungen festlegen, in die unsere Gesellschaft und die Menschheit als Ganze gehen. Wir bestimmen mit, ob es die Menschheit und die Vielfalt der Natur in absehbarer Zukunft weiter geben wird oder nicht, und wir werden in dieser und vielen anderen Fragen bestimmt durch die entsprechenden Entscheidungen aller anderen Menschen.
Wir sind Projekte im Werden, niemals fertig und niemals endgültig, so wie die Welt um uns herum, an die wir uns beständig neu anpassen müssen und die wir durch unsere Anpassungsprozesse wiederum verändern. Unsere innere Entwicklung hat eine Logik, sie ist also von einem Sinn getragen, den wir im Lauf dieser Entwicklung mehr und mehr zu verstehen lernen. Damit ist die spirituelle Dimension angesprochen, die ich zum Grundbestand des Menschseins zähle. Spiritualität ist nach meinem Verständnis keine abgehobene oder elitäre Erfahrungsebene, keine bestimmte Religionsform oder Selbstüberhöhungstäuschung, sondern zeigt sich im Ganz-zu-sich-selber-Finden. Die spirituelle Berufung besteht darin, möglichst umfassend zu dem Menschen zu werden, der wir sind. Es bedeutet, Menschlichkeit im höchstmöglichen Maß in sich zu verwirklichen und diese Aufgabe bei unseren Mitmenschen zu unterstützen.
Diese Grundannahmen beanspruchen nicht den Rang von absoluten Wahrheiten, vielmehr handelt es sich um Modelle, die sich für mich selbst und für meine Arbeit mit Menschen als praktikabel und sinnstiftend erwiesen haben. Sie decken sich weitgehend mit unseren Alltagserfahrungen und unserem naiven, also nicht theoretisch durchreflektierten Selbstverständnis. Wir tun in unserem Verhalten in fast allen Fällen so, als wären diese oben formulierten Grundannahmen in Geltung. Nur wenn wir über sie reden, also auf einer Meta-Ebene, können wir sie in Frage stellen und in Zweifel ziehen. Doch die verzweigten Themen, die sich aus solchen Metareflexionen ergeben, sind nicht der Gegenstand dieses Buches.
Gefühle
Wir Menschen sind fühlende Wesen. Alles, was wir im Äußeren und von außen erleben, alle visuellen, akustischen und haptischen Reize werden in inneres Erleben übersetzt und verbunden mit einem bestimmten Selbstgefühl. Wir sehen einen blauen Himmel und fühlen uns anders als wenn der Himmel grau ist. Wir hören ein Lied und fühlen uns traurig, und ein anderes Mal angenehm berührt. Wir wachen schlecht gelaunt auf, und weder das strahlende Wetter noch das schönste Gedicht können uns umstimmen. Unsere Innenwelt ist genauso reichhaltig wie unsere Außenwelt, und beide tanzen in jedem Moment miteinander, mal führt die eine, mal die andere.
Gefühle sind Informationsvermittler. Sie geben uns Auskunft über unseren inneren Zustand, immer auch in Bezug auf die gerade aktuellen äußeren Einflüsse. Wir brauchen nur unsere Aufmerksamkeit nach innen richten (weg von den Sachen, die uns gerade interessieren), und schon zeigt sich, wie es uns, d.h. wie es unserem Organismus gerade geht. Sind wir wach oder müde? Sind wir im Gleichgewicht oder verspannt? Hängen wir an etwas Früherem oder Zukünftigem, das uns nicht ganz hier sein lässt und unsere Stimmung trübt?
Wenn wir mehr Erfahrung mit der Achtsamkeit auf unser Fühlen gesammelt haben, gelingt es uns, diesen Informationskanal noch besser zu nutzen. Wir können uns fragen, was uns das gerade spürbare Gefühl sagen möchte, was seine Botschaft ist. Damit verwenden wir unseren inneren Sinn, um in Übereinstimmung mit uns selbst zu kommen, wenn wir uns selbst verloren haben, um ein Ungleichgewicht, das wir bemerken, wieder in Gleichklang zu verwandeln.
Wir können auch noch einen Schritt weiter gehen und nach dem Hintergrund und der Herkunft unserer Gefühle zu fragen. Unser Körper verfügt über ein weit zurückreichendes, wenn auch nicht exaktes Gedächtnis und kann auch Informationen über unsere Anfänge liefern. Es lohnt sich allemal, diese Quelle zur Selbsterkenntnis zu nutzen. Warum tritt dieses Gefühl gerade jetzt auf, was hat es ausgelöst und woher kenne ich das schon?
Die Achtsamkeit auf den Atem ist bei jeder Wendung nach innen von besonderer Bedeutung. An unserer Atmung können wir erkennen, ob wir entspannt oder gestresst sind, ob wir uns wohl fühlen oder an etwas leiden. Die Atembewusstheit bringt uns ganz in den Moment.
Ein Modell für unsere Gefühlslandschaft
Wollen wir lernen, im Reich unserer Gefühle besser zu navigieren, ist eine Landkarte von großem Vorteil. Wir kennen eine große Anzahl von verschiedenen Gefühlen, stärkere und schwächere, hellere und dunklere, klarere und verschwommenere, angenehmere und unangenehmere. Unser Gefühlserleben ist reich an Facetten und Nuancen. Je mehr Aufmerksamkeit wir auf unser Innenerleben richten, desto mehr Spielarten des Gestimmtseins lernen wir kennen und desto sinnvoller ist eine Orientierungshilfe.
Ich nutze gerne das folgende Modell zur Einteilung der Gefühle, das mit der Polyvagaltheorie kompatibel ist, die im 3. Kapitel dargestellt wird. Ich gehe von zwei unterschiedlichen Grundzuständen unserer inneren Verfasstheit und unseres Nervensystems aus. Der eine ist gegeben, wenn wir uns im Außen sicher und im Inneren mit unseren Ressourcen verbunden fühlen. Ich nenne ihn den Wachstumszustand, weil wir in solchen Situationen unsere Reserven stärken und zugleich produktiv und kreativ sein können.
Der andere Zustand herrscht, wenn wir uns von außen bedroht fühlen. Er wird Schutzzustand genannt. Wir verteidigen unser Überleben, das (real oder eingebildet) in Gefahr steht, mit den Reflexen des Kampf-Fluchtverhaltens. Dazu müssen wir auf unsere Reserven zurückgreifen und sie auf maximale und optimale Weise mobilisieren. Andere Funktionen, wie z.B. die empathische Kommunikation, werden zurückgestellt.
Mit dem Wachstumszustand sind Gefühle wie Freude, Lust, Neugierde und Interesse verbunden, also vor allem angenehme Gefühle. Der Schutzzustand aktiviert Gefühle wie Angst, Schmerz, Wut, Scham und Ekel, die wir als unangenehm erleben. Diese Gefühle sollen uns dazu motivieren, die Situation, die sie auslöst, möglichst rasch zum Besseren zu wenden. Im Grund wollen wir also immer von einem Schutzzustand in einen Wachstumszustand gelangen.
Dieses Modell hat gegenüber anderen Gefühlseinteilungen, die z.B. vier oder mehr Grundgefühle (Angst, Freude, Traurigkeit, Wut usw.) unterscheiden, den Vorteil, dass es die Gefühle funktional zuordnet. Es macht auch die intuitive Gegenüberstellung von „guten“ und „schlechten“ Gefühlen verständlich. Zwar haben alle Gefühle ihren Sinn, es gibt also keine unnötigen...
Erscheint lt. Verlag | 24.9.2020 |
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Verlagsort | Ahrensburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Technik |
Schlagworte | Pränatale Psychologie • Pschotherapie • Psychologie • Scham |
ISBN-10 | 3-347-10608-3 / 3347106083 |
ISBN-13 | 978-3-347-10608-6 / 9783347106086 |
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