Denkerin der Stunde (eBook)

Über Hannah Arendt
eBook Download: EPUB
2020
100 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75336-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Denkerin der Stunde -  Richard J. Bernstein
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Warum Hannah Arendt die Denkerin der Stunde ist.

»Begreifen«, schreibt Hannah Arendt in ihrem Hauptwerk ›Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft‹, bedeute, »sich aufmerksam und unvoreingenommen der Wirklichkeit zu stellen, was immer sie ist oder war«. Zur Lebenswirklichkeit der 1906 geborenen Arendt gehörten Antisemitismus und Gestapo-Haft ebenso wie Flucht, Staatenlosigkeit und die Erfahrung, von der US-Regierung systematisch über den Vietnamkrieg belogen worden zu sein. 45 Jahre nach ihrem Tod gehören zu unserer Gegenwart die schrecklichen Zustände in Flüchtlingslagern auf Lesbos oder in Libyen, der Aufstieg autoritärer Bewegungen und ein US-Präsident, der selten die Wahrheit sagt.»Liest man Hannah Arendt heute«, so Richard J. Bernstein, »überkommt einen ein fast schon unheimliches Gefühl zeitgenössischer Relevanz.« Bernstein, der Arendt als junger Professor noch selbst kennengelernt hat, bietet anhand zentraler Themen einen kompakten Überblick über das Denken der Theoretikerin und zeigt, inwiefern ihr Werk die heutigen finsteren Zeiten erhellen kann.

Richard J. Bernstein, geboren 1932, ist Professor für Philosophie an der New Yorker New School for Social Research, an der auch Hannah Arendt bis zu ihrem Tod im Jahr 1975 lehrte.

»Ein wunderbares Buch.«
Jerome Kohn

Staatenlosigkeit und Flüchtlinge


Wie abstrakt unsere Theorien auch klingen oder wie überzeugend unsere Argumente erscheinen mögen: Ich habe immer geglaubt, daß dahinter Ereignisse und Geschichten stehen, die zumindest für uns die volle Bedeutung dessen, was wir da zu sagen haben, in nuce enthalten. Das Denken selbst – sofern es mehr ist als eine technische, logische Operation, die elektronische Maschinen weit besser ausführen können als das menschliche Gehirn – erwächst aus der Aktualität von Begebenheiten; Momente lebendiger Erfahrung müssen seine Anhaltspunkte bleiben, wenn es sich nicht verlieren soll in den Höhen, zu denen das Denken aufsteigt, oder in den Tiefen, in die es hinabsteigen muß.3

Diese Passage macht ein grundlegendes Merkmal von Hannah Arendt als politischer Denkerin deutlich. Sie war der Ansicht, seriöses, ernsthaftes Denken müsse in der eigenen gelebten Erfahrung gründen. Arendts primäre Erfahrung in der Zeit, als sie aus Deutschland entkam, aus Frankreich floh und nach New York gelangte, war die eines staatenlosen deutsch-jüdischen Flüchtlings. Hätte Arendt keine Unterstützung von Flüchtlingsorganisationen bekommen, hätte sie kein Visum und keine finanzielle Unterstützung erhalten, um in die USA reisen zu können. Als sie in New York eintraf, wurde sie von Hilfsorganisationen in bescheidenem Maße dabei unterstützt, dort heimisch zu werden. Ihr ganzes Leben lang waren viele von Arendts engsten Freunden ebenfalls Flüchtlinge, die vor den Nazis geflohen waren. Ihre gelebte Erfahrung als staatenloser Flüchtling prägte ihr frühestes Denken in Paris und New York. Wie Arendt berichtet, war sie sich als Kind ihres Jüdischseins kaum bewusst. Doch in den zwanziger Jahren erfuhr sie die Bösartigkeit des nationalsozialistischen Antisemitismus am eigenen Leib. In einem Fernsehgespräch mit Günter Gaus, in dem sie über diese Zeit in ihrem Leben sprach, sagte sie: »Ich gelangte zu einer Erkenntnis, die ich damals immer wieder in einem Satz ausgedrückt habe, darauf besinne ich mich: ›Wenn man als Jude angegriffen ist, muß man sich als Jude verteidigen.‹ Nicht als Deutscher oder als Bürger der Welt oder der Menschenrechte oder so.«4

In den dreißiger und vierziger Jahren beschäftigten sich ihre Schriften überwiegend mit der Judenfrage und dem Zionismus. Sie wurde regelmäßige Kolumnistin der deutsch-jüdischen Zeitung Aufbau, die in New York erschien und vor allem von anderen deutsch-jüdischen Exilanten gelesen wurde. Mit Feuereifer plädierte sie für die Schaffung einer internationalen jüdischen Armee, die Hitler bekämpfen sollte – und zwar noch bevor die USA in den Zweiten Weltkrieg eintraten. 1943, gerade einmal zwei Jahre nach ihrer Ankunft in New York, veröffentlichte sie in einer etwas entlegenen jüdischen Zeitschrift den Essay »We Refugees« (»Wir Flüchtlinge«). Sie schrieb über dieses Thema höchst kenntnisreich, witzig, ironisch und doch auch zutiefst melancholisch. Gleich zu Beginn des Artikels erklärt sie: »Vor allem mögen wir es nicht, wenn man uns ›Flüchtlinge‹ nennt. Wie selbst bezeichnen uns als ›Neuankömmlinge‹ oder ›Einwanderer‹.«5 Einst sei ein Flüchtling jemand gewesen, der aufgrund irgendeiner Tat oder einer politischen Überzeugung gezwungen war, Zuflucht zu suchen. Das aber habe sich geändert, denn die meisten derjenigen, die flohen, hätten nicht einmal im Traum daran gedacht, radikale Ansichten zu vertreten. Arendt erklärt, sie seien nicht wegen irgendetwas, was sie gesagt oder getan hätten, zur Flucht gezwungen gewesen, sondern, weil die Nazis sie alle als Angehörige der jüdischen Rasse dazu verdammt hätten. »Mit uns hat sich die Bedeutung des Begriffs ›Flüchtling‹ gewandelt. Von nun an sind ›Flüchtlinge‹ Menschen, die das Pech hatten, mittellos in einem neuen Land anzukommen und auf die Hilfe der Flüchtlingskomitees angewiesen zu sein.«6 Viele Flüchtlinge würden so tun, als seien sie optimistisch, und hofften, sich in einem neuen Land ein neues Leben aufbauen zu können. Arendt spottet über die Absurditäten des Bemühens, sich in einem neuen Land möglichst schnell anzupassen, und erzählt die Geschichte von einem deutschen Juden, der wie sie nach Frankreich geflohen war. Kaum dort angekommen, »gründete er einen dieser Anpassungsvereine, in welchen deutsche Juden sich wechselseitig versicherten, dass sie schon Franzosen seien. In seiner ersten Rede sagte er: ›Wir sind in Deutschland gute Deutsche gewesen, und deshalb werden wir in Frankreich gute Franzosen sein.‹ Das Publikum applaudierte begeistert, und keiner lachte; wir waren glücklich, dass wir gelernt hatten, unsere Loyalität unter Beweis zu stellen.«7 Doch die traurige Wahrheit, so Arendt, sei, dass wir unser Zuhause, unseren Beruf und unsere Sprache verloren hätten. Wir haben viele Familienangehörige und Freunde verloren, die in Konzentrationslagern ermordet wurden. Wir bekamen den »freundlichen Rat«, zu vergessen und nicht über den vergangenen Schrecken zu reden. Niemand will etwas davon wissen. Doch dieser vermeintliche Optimismus hat etwas Oberflächliches und Falsches an sich. Ein solcher Optimismus kann sich leicht in sprachlosen Pessimismus verwandeln – und manche von uns haben irgendwann sogar den Gashahn aufgedreht und Selbstmord begangen.

Arendt wusste nur zu gut, dass sie über wenig populäre Fakten sprach. Sie hatte das Gefühl, dass sich hinter der Fassade optimistischer Heiterkeit ein fortwährender Kampf gegen die Verzweiflung und eine tiefe Irritation ob der eigenen Identität verbargen. Arendt war stets viel unabhängiger als viele ihrer Mitflüchtlinge, doch sie schrieb:

Je weniger wir frei sind zu entscheiden, wer wir sind oder wie wir leben wollen, desto mehr versuchen wir, eine Fassade zu errichten, die Tatsachen zu kaschieren und in Rollen zu schlüpfen. Wir wurden aus Deutschland vertrieben, weil wir Juden sind. Doch kaum hatten wir die Grenze zu Frankreich passiert, da wurden wir zu »boches«. Man sagte uns sogar, wir müssten diese Bezeichnung akzeptieren, wenn wir wirklich Hitlers Rassentheorien bekämpfen wollten. Sieben Jahre lang spielten wir die lächerliche Rolle von Leuten, die versuchten, Franzosen zu sein – oder zumindest künftige Staatsbürger; aber bei Kriegsausbruch wurden wir trotzdem als »boches« interniert. Dabei waren in der Zwischenzeit die meisten von uns tatsächlich derart loyale Franzosen geworden, dass wir nicht einmal einen französischen Regierungserlass kritisieren konnten; folglich erklärten wir, dass unsere Internierung rechtens sei. Wir waren die ersten »prisonniers volontaires«, die die Geschichte je gesehen hat. Nach dem Einmarsch der Deutschen musste die französische Regierung nur den Firmennamen ändern; man hatte uns eingesperrt, weil wir Deutsche waren, jetzt ließ man uns nicht frei, weil wir Juden waren.8

Eindringlich beschreibt Arendt das sorgenvolle Schicksal jüdischer Flüchtlinge, die von einem Land ins nächste getrieben wurden, doch ihr ging es um ein tiefer liegendes Problem. Sie wollte das Phänomen der Massen staatenloser Menschen und Flüchtlinge verstehen, von dem Europa seit dem Ersten Weltkrieg heimgesucht worden war. Und so beschließt sie »Wir Flüchtlinge« mit einer allgemeineren These zu den politischen Folgen dieses neuen Massenphänomens. »Die von einem Land ins andere vertriebenen Flüchtlinge repräsentieren heute die Avantgarde ihrer Völker – vorausgesetzt, dass sie ihre Identität behalten. Zum ersten Mal gibt es keine separate jüdische Geschichte mehr, sondern die jüdische Geschichte ist verknüpft mit der Geschichte aller anderen Nationen. Die Gemeinschaft der europäischen Völker zerbrach, als – und weil – sie den Ausschluss und die Verfolgung seines schwächsten Gliedes duldete.«9

Der Essay »Wir Flüchtlinge«, der auf Arendts persönlichen Erfahrungen mit ihren Mitflüchtlingen beruht, stellt grundlegende Fragen zu Staatenlosigkeit und Flüchtlingen. Noch unmittelbarer beschäftigt sie sich damit in einem bemerkenswerten Kapitel in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, das den Titel »Der Niedergang des Nationalstaates und das Ende der Menschenrechte« trägt. Dort schreibt sie: »Staatenlosigkeit ist das neueste Phänomen, die Staatenlosen sind die neueste Menschengruppe der neueren Geschichte.«10 Und weiter:

Ihre Existenz lässt sich kaum nur auf einen einzigen Faktor zurückführen, aber wenn wir uns die...

Erscheint lt. Verlag 17.8.2020
Übersetzer Andreas Wirthensohn
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Religion / Theologie
Schlagworte Black lives matter • Deutsches Historisches Museum • Diktatur • Exil • Flucht • Flüchtlinge • Freiheit • frei zu sein • George Floyd • Heidegger • Kolonialismus • Margarethe von Trotta • Polizeigewalt • Rassismus • Totalitarismus • Trump
ISBN-10 3-518-75336-3 / 3518753363
ISBN-13 978-3-518-75336-1 / 9783518753361
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