Die Frist (eBook)
160 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60849-6 (ISBN)
Friedrich Dürrenmatt wurde 1921 in Konolfingen bei Bern als Sohn eines Pfarrers geboren. Er studierte Philosophie in Bern und Zürich und lebte als Dramatiker, Erzähler, Essayist, Zeichner und Maler in Neuchâtel. Bekannt wurde er mit seinen Kriminalromanen und Erzählungen ?Der Richter und sein Henker?, ?Der Verdacht?, ?Die Panne? und ?Das Versprechen?, weltberühmt mit den Komödien ?Der Besuch der alten Dame? und ?Die Physiker?. Den Abschluss seines umfassenden Werks schuf er mit den ?Stoffen?, worin er Autobiografisches mit Essayistischem verband. Friedrich Dürrenmatt starb 1990 in Neuchâtel.
Friedrich Dürrenmatt wurde 1921 in Konolfingen bei Bern als Sohn eines Pfarrers geboren. Er studierte Philosophie in Bern und Zürich und lebte als Dramatiker, Erzähler, Essayist, Zeichner und Maler in Neuchâtel. Bekannt wurde er mit seinen Kriminalromanen und Erzählungen ›Der Richter und sein Henker‹, ›Der Verdacht‹, ›Die Panne‹ und ›Das Versprechen‹, weltberühmt mit den Komödien ›Der Besuch der alten Dame‹ und ›Die Physiker‹. Den Abschluss seines umfassenden Werks schuf er mit den ›Stoffen‹, worin er Autobiografisches mit Essayistischem verband. Friedrich Dürrenmatt starb 1990 in Neuchâtel.
Zweiter Teil
Vier Wochen später. Der Thronsaal hat sich auf eine gespenstische Weise verändert. Es ist, als hätte sich vor das alte Bild ein neues Bild geschoben, durch welches das alte schimmert. Zwar sind die alten Möbel noch da, auch der Sandsteinthron, der Schreibtisch, die Couch hinter dem Paravent, doch nun ist eine technische Welt eingebrochen; einerseits die medizinische: überall Mattscheiben mit Röntgenbildern, Kontrollapparate, Ärzte, haufenweise Krankenschwestern, einige von ihnen verschwinden mit einem oder gar zwei Medizinern bisweilen hinter dem Paravent, andrerseits hat sich das Fernsehen breitgemacht: Scheinwerfer, Kabel, Kameras, Techniker. Vor dem Publikum sind an der Rampe einige Fernsehapparate aufgestellt, mit der Mattscheibe gegen die Bühne. Zu Beginn des zweiten Teils ist eine Massenszene bei ständigem Lichtwechsel. Zwar ist der Lüster nun erloschen, dafür leuchten die Scheinwerfer. Wer vom immer noch lebenden, schwer leidenden Generalissimus kommt oder zu ihm geht, wird von Fernsehkameras verfolgt; dann ist das Licht gleißend. Wer hineingeht, wird geschminkt, wer herauskommt, wird abgeschminkt. Wo dies geschieht, Probleme der Regie, nicht meine, am besten je nach Notwendigkeit der Bühne. Die Mattscheiben der Röntgenfotos dagegen und die Herz- und Hirnüberwachungsapparate werfen ein – gegenüber den Scheinwerfern – geradezu humanes Licht. Zu Beginn sind der Herzog von Saltovenia und der Herzog von Valdopolo immer noch mit Fußball beschäftigt. Sie sitzen links vorne, unter der Zentnerlast ihrer Orden fast zusammenbrechend, eng zusammengerückt und nehmen in einem Zuber ein gemeinsames Fußbad. In der Mitte, auf dem Kanapee, räkeln sich die Professoren Goethel und Gnägelmann, zwei dicke Kolosse in grüner und blauer Chirurgentracht. Goethel mit Schmissen und Glatze, Gnägelmann mit gewaltiger Hornbrille und kurzgeschnittenem rotem Haar. Bisweilen sprechen sie Dialekt, doch sonst reines Deutsch. Um die beiden Professoren herum haben sich Champagnerflaschen angesammelt. Vor dem Schreibtisch sitzt untröstlich der Erzbischof im roten Kardinalsgewand, ein prachtvoller Bariton, sein linkes Bein und sein Kopf verbunden, die Mitra auf einem Stuhl. Hinter dem Schreibtisch läßt sich Exzellenz von James einseifen. Ferner irgendwo im Hintergrund der Staatssekretär Sebulon.
ERZBISCHOF stöhnt
Unser Kopf.
EXZELLENZ
Was brauchten Sie auch zu den Klapperschlangen hineinzustürmen, Erzbischof.
ERZBISCHOF
Um mit den alten Damen für den Generalissimus zu beten.
EXZELLENZ
Die schäumen vor Wut, weil er noch nicht gestorben ist. Genug eingeseift, James.
ERZBISCHOF
Die Unseligen stürzten sich Harpyien gleich auf uns. Stöhnt Unser Bein.
EXZELLENZ
Zum Glück mangelte es nicht an Ärzten, Sie zusammenzuflicken.
Aus dem Fernsehgerät die Stimme des betenden Nostromanni.
NOSTROMANNI
Pater noster, qui es in coelis: sanctificetur nomen tuum.
ERZBISCHOF
Aufhören!
EXZELLENZ
Warum denn, Erzbischof, Nostromanni assistiert dem Kardinal hervorragend. Er spielt ihn an die Wand.
ERZBISCHOF
Einhalten!
NOSTROMANNI
– Adveniat regnum tuum. Fiat voluntas tua, sicut in coelo et in terra –
EXZELLENZ
Nostromanni ahmt Sie täuschend nach, Erzbischof.
ERZBISCHOF
Schluß damit!
EXZELLENZ
Er lispelt wie Sie.
ERZBISCHOF
Auf der Stelle verbieten! Sofort abbrechen!
EXZELLENZ
Ton abstellen, Sebulon.
SEBULON
Ton abstellen.
Goethel erwacht, als der Ton abgestellt wird.
GOETHEL
Wat brüllt det Männeken?
GNÄGELMANN erwacht
I verschtoh ne nöd. I verschtoh nüt.
GOETHEL
Was gurgeln Sie da, Collega?
GNÄGELMANN
Entschuldigung, nämlich ich habe Dialekt gesprochen. Eigentlich Mittelhochdeutsch, sprachhistorisch gesehen.
GOETHEL
Interessant, Collega. Prösterchen. Trinkt Gnägelmann zu.
GNÄGELMANN
Prost.
ERZBISCHOF
Eine Blasphemie!
GOETHEL
Hat sich der Gottesmann immer noch nicht abgeregt?
ERZBISCHOF
Das Sterben eines Menschen wird verhöhnt.
GNÄGELMANN
Ich verstehe die Landessprache nicht, Collega Goethel.
ERZBISCHOF
Die heiligen Sakramente werden mißbraucht.
GOETHEL
Skandal. Von Deutsch hat niemand einen blassen Schimmer.
GNÄGELMANN
Deutsch ist keine Weltsprache mehr.
ERZBISCHOF
Unsere heilige Kirche wird lächerlich gemacht.
GOETHEL
Gnägelmann, Gnägelmann, unsagbar, wo wir kulturell gelandet sind: Goethe und Thomas Mann sprachen noch ein Deutsch, das verstand der Kosmos. Da waren wir noch die geistige Weltmacht kat’exochēn.
GNÄGELMANN
Prost.
GOETHEL
Prösterchen.
Sie schlafen wieder ein.
Inzwischen beginnt James, Exzellenz zu rasieren.
EXZELLENZ
James, du gehst heute brutal mit mir um. Ich bin nicht der Generalissimus, und du bist kein Mediziner.
James wetzt das Messer noch einmal.
ERZBISCHOF
Exzellenz, Wir leugnen die Notwendigkeit dieser täglichen Fernsehreportagen ja nicht.
Sebulon erhebt sich im Hintergrund.
SEBULON
Die sensationellste Live-Übertragung seit der ersten Mondlandung. Nur ergreifender.
ERZBISCHOF
Wir bitten, nicht unterbrochen zu werden.
SEBULON
Verzeihung.
EXZELLENZ
Reden Sie weiter, Erzbischof, aber nur nicht aufregen: Hauptsache, daß James mich nicht schneidet.
ERZBISCHOF
Exzellenz, Wir bestreiten es nicht: Das Volk ist ergriffen mitzuerleben, wie ein Christ mit dem Tode ringt – und der Generalissimus ist ein Christ, das hat er stets betont. Wenn aber die Massenmedien den einsamen Kampf eines Menschen mit seinem Schöpfer manipulieren und neben dem Kardinal einen Schauspieler Unserer Maske –
EXZELLENZ
Kein Grund. Niemand manipuliert. Der Generalissimus leidet echt.
ERZBISCHOF
Aber Wir, Exzellenz, Wir sind nicht echt! Stöhnt. Unser Bein!
GNÄGELMANN wacht auf
Was den Kirchenvater wohl jetzt wieder in Rage bringt?
ERZBISCHOF
Unser Kopf! Beginnt verzweifelt herumzuhumpeln.
GOETHEL wacht auf
Ick jloobe, det Männeken betet inbrünstig.
GNÄGELMANN
Scheint nicht an uns Ärzte zu glauben.
GOETHEL
Unlogisch, Collega. Wer an Gott glaubt, glaubt auch an die Medizin. Drehen Sie mal den Knopf, Gnägelmann, ob der Generalissimus noch so schön stöhnt.
Gnägelmann dreht an einem Apparat. Durch einen Lautsprecher kommt Stöhnen.
GOETHEL
Stöhnt eindrucksvoll, Gnägelmann. Tönt prachtvoll.
GNÄGELMANN
Und das nach mehr als drei Wochen.
GOETHEL
Kammerkomplex phänomenal.
GNÄGELMANN
Nach einer Herztransplantation und einer Magenresektion.
GOETHEL
Chapeau. T-Wellen göttlich.
GNÄGELMANN
Nach der Amputation beider Beine –
GOETHEL
War eigentlich unnötig, Collega.
GNÄGELMANN
Arkanoff bestand darauf.
GOETHEL
Er wollte selber mal glänzen.
GNÄGELMANN
Die künstliche Niere zeigt wieder einmal, was sie kann.
GOETHEL
Hilft auch. Aber am meisten hilft der Glaube, Collega, der Glaube. Weil der Generalissimus stockkatholisch ist, hält er durch. Wir zwei Atheisten wären längst im Nirwana. Bin neugierig. Wenn sich der geistliche Rummel verzieht, na, greif ich heute abend mal ein bißchen ein, Collega, unter uns geflüstert. Ich nehme eine kleine Leberprobe vor. Zwar auch nicht nötig, aber nun, einen Helden haben wir nicht jeden Tag unter dem Messer.
Der Erzbischof hat einen Blick hinter den Paravent geworfen.
ERZBISCHOF
Nein! Nimmermehr!
GOETHEL
Jetzt jault der Gottesmann aber mächtig auf.
ERZBISCHOF
Gott, erbarme dich unser!
GOETHEL
Pathetisch, die Brüder, was? Prösterchen.
GNÄGELMANN
Prost.
Beide schlafen wieder ein. Im Lautsprecher weiter Stöhnen. Der Erzbischof kommt nach vorn.
ERZBISCHOF
Exzellenz! Auf diesen Palast konzentrieren sich die Gebete der Nation, und Wir sind ihrer unwürdig.
EXZELLENZ
Wie gehen Sie denn bloß wieder mit Ihren Nerven um, Erzbischof? Wenn Nostromanni Sie aufregt, werfen Sie doch einfach keinen Blick mehr auf den Bildschirm.
ERZBISCHOF
Wir warfen keinen Blick auf den Bildschirm, Wir warfen einen hinter den Paravent.
EXZELLENZ
Und?
ERZBISCHOF
Ein Arzt kopuliert mit einer Krankenschwester.
EXZELLENZ
Nun? Dreißig Ärzte und an die fünfzig Krankenschwestern versuchen mit allen medizinischen Künsten, unseren armen Generalissimus wieder aufzumuntern, und...
Erscheint lt. Verlag | 16.3.2020 |
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Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Lyrik / Dramatik ► Dramatik / Theater |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • Drama • Dürrenmatt • Klassiker • Komödie • Literatur • Machtkampf • Machtpolitik • Politik • Schweiz • Sterben • Theaterstück • Tod • Tyrann |
ISBN-10 | 3-257-60849-7 / 3257608497 |
ISBN-13 | 978-3-257-60849-6 / 9783257608496 |
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