Es steht geschrieben / Der Blinde (eBook)

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2020 | 2. Auflage
336 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60837-3 (ISBN)

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Es steht geschrieben / Der Blinde -  Friedrich Dürrenmatt
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»Der Blinde stellt den Glauben an sich als eine elementare Kraft dar, unabhängig von seinem Inhalt. Die Handlung spielt im Dreißigjährigen Krieg und ist erfunden ­ wenn auch beeinflußt vom biblischen Hiob. In der Ruine seines Palastes wird ein blinder Herzog im Glauben gelassen, er besitze noch die Macht, die er verloren hat, und sein Land sei verschont geblieben. Der Herzog wagt den Glauben in der Erkenntnis, daß es für einen Blinden keine andere Möglichkeit gibt, als blind zu glauben. An seiner Blindheit zerbricht schließlich die Realität der Sehenden, und die geglaubte Realität des Blinden wird wirklich.«

Friedrich Dürrenmatt wurde 1921 in Konolfingen bei Bern als Sohn eines Pfarrers geboren. Er studierte Philosophie in Bern und Zürich und lebte als Dramatiker, Erzähler, Essayist, Zeichner und Maler in Neuchâtel. Bekannt wurde er mit seinen Kriminalromanen und Erzählungen ?Der Richter und sein Henker?, ?Der Verdacht?, ?Die Panne? und ?Das Versprechen?, weltberühmt mit den Komödien ?Der Besuch der alten Dame? und ?Die Physiker?. Den Abschluss seines umfassenden Werks schuf er mit den ?Stoffen?, worin er Autobiografisches mit Essayistischem verband. Friedrich Dürrenmatt starb 1990 in Neuchâtel.

Friedrich Dürrenmatt wurde 1921 in Konolfingen bei Bern als Sohn eines Pfarrers geboren. Er studierte Philosophie in Bern und Zürich und lebte als Dramatiker, Erzähler, Essayist, Zeichner und Maler in Neuchâtel. Bekannt wurde er mit seinen Kriminalromanen und Erzählungen ›Der Richter und sein Henker‹, ›Der Verdacht‹, ›Die Panne‹ und ›Das Versprechen‹, weltberühmt mit den Komödien ›Der Besuch der alten Dame‹ und ›Die Physiker‹. Den Abschluss seines umfassenden Werks schuf er mit den ›Stoffen‹, worin er Autobiografisches mit Essayistischem verband. Friedrich Dürrenmatt starb 1990 in Neuchâtel.

Zu Beginn knien drei Wiedertäufer auf der Bühne. Sie sind hager, haben lange Bärte, ungekämmte Haare und unbeschreibliche Kleider am Leib, die Wangen hohl, die Augen schwarz umrandet, doch kann vom durchdringenden Zwiebelgeruch abgesehen werden. Man braucht diese sauberen Brüder nicht so wichtig zu nehmen, daß für sie eine eigene Szenerie gebaut würde – Gott bewahre –, es genügt, sie vor dem bloßen Vorhang auftreten zu lassen, wie denn auch während des ganzen Spiels der Regisseur und die Schauspieler sich viele Einfälle erlauben dürfen, denn wir geben nicht mehr als einige dürftige Noten und Farben zu einer kunterbunten Welt, die gestern genau so war wie heute und morgen.

DER MITTLERE WIEDERTÄUFER

Gott verhüllte sein Antlitz, da erlosch die Sonne im Meer und die Schiffe brannten über den Wassern.

Die Wale wurden ans Land geschwemmt.

Die Berge sanken und die Wälder öffneten sich, aus der Tiefe brach Feuer.

Die Leichen der Menschen deckten die Ströme und hingen an den Ästen der Bäume.

Die Totenvögel mästeten sich.

Sie wurden feiß wie Säue, daß sie nicht mehr fliegen konnten.

Die Verdammten verließen die Höhle, welche sich zur Mitte der Erde hinabsenkte.

Ihre Leiber schoben sich vor die Gestirne der Nacht.

Sie glitten von den Felsen gleich Drachen der Mitternacht, vom Geklirr ihrer Schwingen erbebten Himmel und Erde.

DER WIEDERTÄUFER ZUR LINKEN

Sie erhoben sich, zu töten, und zogen aus wider die Täufer.

Diese aber sind reinen Leibes, und der Herr hat unter ihnen seinen Tempel errichtet.

Sie haben alle Sünden von sich geworfen, wie der Bräutigam seine Kleider von sich wirft, wenn die Nacht der Hochzeit gekommen.

Sie sind die Heiligen, erwählt, zur Rechten des Herrn zu sitzen.

Sie sind getauft, wie Johannes es tat mit dem Gott.

Jedes Ding ist ihnen gemeinsam, und wenn der Bruder spricht zum Bruder: Gib mir dein Kleid, mich friert, so bekommt er das Kleid, und wenn er spricht: Gib mir dein Brot, mich hungert, so bekommt er das Brot, und wenn der Bruder zum Bruder also redet: Gib mir dein Weib, daß ich Kinder Gottes mit ihm zeuge, so wird ihm das Weib zuteil.

Aber Gott gefiel es, seine Knechte dem Bösen auszuliefern, denn so einer ein Schwert will, hält er das Eisen ins Feuer.

DER WIEDERTÄUFER ZUR RECHTEN

Die Verdammten warfen sich über die Täufer, wie Wölfe sich über die Schafe werfen in der Winternacht.

Sie wurden in Käfige gezwängt und ersäuft, in den Boden gegraben bis zum Hals und einen Kessel über den Kopf und zwei Ratten unter den Kessel.

Sie verbrannten an Pfähle genagelt und mit Pech bestrichen. Die Männer wurden entmannt, und den Weibern stießen sie glühendes Eisen in den Schoß.

Ihre Augen wurden gestochen, ihre Hände abgehauen und ihre Zungen herausgerissen.

Tausende und Abertausende sanken dahin, denn der Herr prüfte sie.

DER MITTLERE WIEDERTÄUFER

Die Täufer fanden Gnade vor Gott.

Sein Zorn wandte sich gegen die, welche sprechen: Es ist kein Gott, oder ihn lästern und falsche Lehren verbreiten und Götzen anbeten, welche sie Heilige nennen. Er hat sie in die Hände der Täufer gegeben, denn er will, daß seine Knechte das Unkraut verbrennen.

Die Täufer sollen die Verdammten austilgen und ihren Samen erwürgen.

Ihre schwangeren Weiber sollen sie an die Wände nageln und ihnen die Kinder aus dem Bauch schneiden und die Ungeborenen hineinpressen in die aufgeschlitzten Wänste der Pfaffen.

Den Töchtern der Hölle sollen sie die Kleider vom Leibe reißen und mit ihnen tun, wie man mit Huren tut, und sie den Hunden vorwerfen, daß die Hunde satt werden am Hurenfleisch.

Der Erdkreis in seiner Unermeßlichkeit wird in die Hände der Täufer fallen durch die Macht seiner Knechte, die unwiderstehlich ist, wie der Blitz, der vom Himmel fällt, und wie der Strom, der zum Meere fließt.

DER WIEDERTÄUFER ZUR LINKEN

Der Herr schmiedete sein Schwert und sah, daß es gut war.

Zum Zeichen des Bundes gab Er seinen Knechten eine Stadt, von der sie die Erde bezwingen werden und wo ihnen ein neuer Salomo entstehen wird.

Also ziehen die Täufer aus allen Ländern gen Münster in Westfalen.

Gesegnet sei die Stadt, die vor uns liegt in der Abendsonne.

Gesegnet ihre Türme und Dächer, vergoldet vom späten Strahl des Lichts.

Bald werden die letzten Ungläubigen aus ihr fliehen, und der Bischof wird mit seinen Kebsweibern und Lustknaben den Tempel seiner Götzen verlassen.

Die erbärmlichen Lutheraner werden ihr entweichen wie Schelme.

Aus der Stadt aber werden einst die Täufer brechen, tausendmal tausend und zehnmal hunderttausend, die Feinde mit dem Schwert zu überwinden und das Meer mit ihrem Blute zu färben.

DER WIEDERTÄUFER ZUR RECHTEN

Dann endlich wird der Tag kommen, der verheißen ist, wo Er, allen sichtbar, in feuriger Wolke sitzen wird, Gericht zu halten über Gerechte und Ungerechte.

Er wird den ehernen Spruch fällen, der gelten wird von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Die Ungläubigen und Irregeleiteten wird Er zu ewiger Qual verdammen, daß sie hinabsinken in die Nacht.

Die Täufer aber werden Gnade finden vor Seinen Augen. Ein neuer Himmel wird sein und eine neue Erde. Eine neue Seele und ein neuer Leib.

Wir werden eins sein mit Ihm, der wiedergeboren ist in uns.

Ehre sei Gott in der Höhe!

Die drei, welche gegen das Ende ziemlich ins Feuer geraten sind, treten ab, doch wird es das Orchester nicht unterlassen können, ihnen einige parodistische Töne nachzusenden. Darauf erscheint ein Mönch vor dem noch geschlossenen Vorhang, der aber, während jener spricht, sich öffnet, so daß eine Szene sichtbar wird, die dem Folgenden zu entnehmen ist.

DER MÖNCH

Ihr werdet mir zugeben, meine Damen und Herren, ihr werdet mir zugeben, daß jene drei, die eben noch an dieser Stelle so entsetzlich geheult, ungehobelte und recht ungepflegte Kerle gewesen sind.

Daher wird es jedermann verstehen, wenn ihr euch über die Täufer eine schlechte Meinung gebildet, und ihr habt im großen und ganzen ja recht.

Es sind Tröpfe, ich weiß, arme Tröpfe,

Anhänger einer Sekte, die von Bäckermeistern, Goldschmieden, Kürschnern und verworrenen Predigern erfunden wurde, deren Dummheit euch nur insofern in Verlegenheit bringen kann, als ihr nicht wißt, ob ihr lachen sollt oder weinen.

Doch müssen mir Kenner unter euch beistimmen – gesetzt, es sitzen einige in diesem Saal –, daß mit solchen Schreihälsen wunderbar Weltgeschichte gemacht werden kann.

Was mich nun selbst betrifft,

so heiße ich Maximilian Bleibeganz

oder, wie man mich im Kloster zu nennen liebte, dem ich entlaufen: Bruder Maximus,

einerseits geboren am 31. Dezember 1499, anderseits am 1. Januar 1500,

in jener Mitternacht also, in der das alte Jahrhundert Gott sei Dank ein Ende und das neue leider Gottes einen Anfang nahm. Ich bin nicht historisch, ich habe nie gelebt und dies nie bereut, im Gegenteil, ich bin überzeugt, daß jede Art von Existenz mit Nachteilen verbunden ist, die nicht wieder wettzumachen sind. Ich komme denn auch in diesem Spiel nur selten vor, vielleicht zwei- oder dreimal,

ja, es trifft bisweilen zu,

daß ich überhaupt nicht aufzutreten brauche, weil der Regisseur mich wegläßt, um das Stück zu kürzen, oder weil er gerade einen Schauspieler zu wenig hat:

Und auch jetzt, indem ich zu euch rede,

bin ich nicht viel anderes als eine Verlegenheitspause, da der Vorhang zwar hinter meinem Rücken in die Höhe gegangen ist, aller Augen auf die Bühne geheftet sind, aber niemand recht weiß, wie es weitergehen soll. Doch hoffe ich ein wenig – und es könnte euch und uns viel helfen, wenn es zuträfe –, daß der Name der Wiedertäufer durch all die Jahrhunderte, die zwischen meiner Zeit und der eurigen als eine undurchdringliche Mauer liegen – denn wer könnte zurück in Vergangenes –, daß dieser Name also jenen gewissen Klang bewahrt haben möge,

der euch dafür Gewähr schenken könnte,

daß ihr genügend Blutbäder, Kriegsgeschrei, Folterszenen, erlaubte und unerlaubte Liebe für euer Geld zu sehen bekommt,

und ich kann euch versichern,

daß ihr Karl den Fünften sogar, den Kaiser, höchst natürlich auf dem Thron werdet sitzen sehen.

Richtet also die Blicke, wenn ich bitten darf, auf diese Hauswand, euch in voller Breite gegenüber,

samt jener Ecke, mir zur Rechten, um die sich eine Straße krümmt.

Wir befinden uns in Münster,

einer Stadt in Westfalen,

nicht sehr groß, so an die fünfzehntausend Seelen,

die, leider unsichtbar, uns alle mit Kirchen, Palästen, Straßen und Brunnen umgibt.

Ganz links, in jener Beuge der Straße, bemerkt ihr einen Karren, und in ihm Johann Bockelson aus Leyden, der sehr vernehmbar schläft, in einem Kleide,

das bedenkliche Löcher und Risse an bedenklichen Stellen aufzuweisen hat.

Nun, er wird auch so den Damen gefallen, denn er ist ein schöner Mann, und manche wird im stillen hoffen, einmal die erwähnten Löcher stopfen zu dürfen.

Von rechts kommen zwei Straßenkehrer,

eindrucksvoll vertrottelte Figuren,

davon der eine besonders pathetisch verarmt ist.

Gott sei seiner Armut gnädig.

Das Spiel beginnt.

Bewahrt das Gute, vergeßt das Mittelmäßige und lernt vom Schlechten! Ab.

ERSTER STRASSENKEHRER

Es ist ein frischer...

Erscheint lt. Verlag 16.3.2020
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Lyrik / Dramatik Dramatik / Theater
Schlagworte 20. Jahrhundert • Blindheit • Drama • Dramen • Dreißigjähriger Krieg • Dürrenmatt • Erkenntnis • Herzog • Hiob • Klassiker • Literatur • Macht • Realität • Schweiz • Theater • Theaterstück
ISBN-10 3-257-60837-3 / 3257608373
ISBN-13 978-3-257-60837-3 / 9783257608373
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