Rosie (eBook)

Szenen aus einem verschwundenen Leben

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
211 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-76573-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Rosie -  Rose Tremain
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Geboren 1943 in London, ist Rose Tremain umgeben von zerstörten Familien und einer Stadt in Trümmern. Vordergründig ist ihre Familie zwar intakt, doch fehlt es an Zuneigung und Liebe. Ihre einzige Vertraute ist das Kindermädchen Vera, die für Rose wie eine Mutter ist. Ihre »richtige« Mutter Jane hingegen steckt ihre Töchter kurzerhand ins Internat, denn sie will die verlorene Zeit nachholen, hat der Krieg ihr doch die Jugendjahre genommen. Im Internat knüpft Rose prägende Freundschaften - vor allem aber findet sie das, was für ihr Leben bestimmend sein wird: den unbedingten Willen, zu schreiben.

Rose Tremains Kindheits- und Jugenderinnerungen bewegen durch die große Aufrichtigkeit der Autorin, bestechen durch ihren ungeschönten Blick - und das Bedürfnis danach, die eigene Mutter verstehen zu wollen.



<p>Rose Tremain wurde 1943 geboren und wuchs in London auf.<strong> </strong>Sie studierte ein Jahr lang an der Pariser Sorbonne, ging zurück in ihre Heimat und begann ein Anglistikstudium an der University of East Anglia in Norwich, das sie 1967 abschloss. Dort lehrte sie später von 1988-1995 als Dozentin <em>creative writing</em>. Vorher war sie Lehrerin an einer Privatschule für Jungen. Rose Tremain veröffentlichte Romane, Kurzgeschichten, schrieb aber auch für Film, Funk und Fernsehen. Ihr Roman <em>Zeit der Sinnlichkeit </em>wurde 1995 mit Robert Downey Jr., Hugh Grant und Meg Ryan verfilmt (<em>Restoration</em>). Ihr Roman <em>The Road Home</em>, der im Suhrkamp Verlag unter dem Titel <em>Der weite Weg nach Hause </em>erschien, wurde 2008 mit dem Orange Prize for Fiction ausgezeichnet. Tremain lebt mit ihrem Lebenspartner, dem Biographen Richard Holmes, in London und Norwich. Im Jahr 2020 wurde sie von der Queen in den Adelsstand erhoben. Ihr Werk erscheint auf Deutsch im Suhrkamp und Insel Verlag.</p>

Paradies


Daran kann ich mich erinnern: wie ich in meinem Kinderwagen liege und in einen weißen Himmel blicke. Am Himmel sind Striche gezogen, wie Notenlinien. Flatternde Schatten sinken herab und landen auf den Linien: Vögel auf Telegrafendrähten.

Meine Mutter hat immer behauptet: »Daran kannst du dich auf keinen Fall erinnern. Babys können gar nichts wahrnehmen, weil sie über keine Wörter verfügen. Dein Gehirn wird so leer gewesen sein wie der Himmel, den du angeblich gesehen hast.«

Ich erinnerte sie jedes Mal daran, dass der Himmel nicht leer war. Er war voller niederstürzender Notenvögel. Sie ließen sich auf den Drähten nieder. Und sie entgegnete dann: »Sei nicht albern. Das hast du erfunden. Deine erste echte Erinnerung – du wirst vielleicht drei oder vier gewesen sein – könnte am ehesten eine an Linkenholt gewesen sein.«

Also gut. Dann eben Linkenholt. Das habe ich klar und deutlich vor Augen. Das große Haus stand auf einem Hügel in Hampshire, wo stets ein starker Wind wehte. Eine Schönheit ist es nie gewesen. Die Farbe seiner korallenroten Ziegel war zu grell. Seine weiß gestrichenen Giebel waren zu massiv. Man fühlte sich an einen klobigen Dreimaster erinnert, der auf den Wellen einer wunderschönen grünen Landschaft ritt. Doch meine gesamte Kindheit hindurch sehnte ich mich danach – nach dem Moment, wenn ich durch die schwere Haustür trat und das vertraute Parfüm einatmete. Was war das für ein Parfüm? Eine Mischung aus Bienenwachsmöbelpolitur, Metallputzmittel, französischen Zigaretten und Hunden. Es war der Geruch von Heimat.

Es war nicht meine Heimat.

Gut Linkenholt gehörte meinen Großeltern Roland und Mabel Dudley. Meine ältere Schwester Jo und ich fuhren nur dreimal im Jahr dorthin – in den Weihnachtsferien, zu Ostern und im Sommer. Doch unsere Liebe zu dem Haus war unermesslich. Unser Alltag im dunklen Nachkriegslondon war smogbelastet, beengt und eingeschränkt auf den Schulweg, den Gang zu dem italienischen Laden an der Ecke, den verrußten Parks, der Rollschuhbahn und den Badeanstalten. Aber in Linkenholt waren wir frei. Rund um das Haus auf dem Hügel erstreckten sich 800 Hektar kalkhaltigen Ackerlands, das unserem Großvater gehörte und wo wir in Kordhosen, manchmal auch, wenig überzeugend, als Indianerhäuptlinge verkleidet, auf unseren Raleigh-Fahrrädern umherstromern durften. Diese Felder und Wälder gehörten in den 1950er Jahren mit zu den schönsten Englands. Es ist keine Übertreibung, wenn ich behaupte, dass unser Londoner Leben uns häufig wie eine Art Exil erschien, dem wir sehnlichst zu entkommen suchten, wie ein dunkler Traum, aus dem wir erst in Linkenholt erwachten.

Und dann waren wir endlich da: krochen im Morris Traveller unserer Mutter in einem niedrigen Gang den Linkenholt-Hügel hinauf, fuhren langsam durch das Dorf Linkenholt, vorbei an der Molkerei, am sehr kleinen Cricket-Gebäude, an der Kirche, in der ich getauft wurde, dann die gekieste Einfahrt entlang, an deren Rand drei gewaltige Ulmen wie unruhige Riesen standen.

Und nun der Empfang. Jill, die überfütterte Springer-Spanielhündin, die bellt. Die Haustür, die sich öffnet. Das langsame Erscheinen von Granny und Grandpop im Eingang. Kurzer Kontakt mit dem tabakgetränkten Geruch ihrer Kleidung und mit ihrer Haut – straff und glänzend auf Grandpops Schädel, weich und pudrig bei Granny mit ihren in teigige Falten gesunkenen Wangen –, und dann im Sturmschritt an ihnen vorbei, dorthin, wo wir so sehnsüchtig sein wollten, im Haus, spüren, wie es uns aufnimmt. Schließlich das herrliche Geräusch, wenn unsere Füße gegen die Messingstangen der breiten Stufen stießen.

Das Zimmer, das Jo und ich uns teilten, lag im rückwärtigen Teil, mit Blick auf einen Rosengarten und ein wildes Gehölz dahinter, in dem nachts der Wind seufzte. Zum Geräusch des Winds in den Schlaf hinüberzugleiten, in dem Bewusstsein, dass wir »zu Hause« waren und der kommende Morgen das Paradies, von dem wir immerzu träumten, vor uns ausbreiten würde, war ein einziger Glücksrausch.

Linkenholt liebte uns. So kam es mir jedenfalls vor, als ich »Rosie« war, ein sehr junges, ahnungsloses Mädchen. Der Ort schenkte uns seine Seele und seine Herrlichkeit, aber Granny und Grandpop selbst waren todunglückliche Menschen, denen fast nichts geblieben war, mit dem sie uns hätten beschenken können. Sie hatten ihren ältesten Sohn verloren, der ebenfalls Roland hieß und mit sechzehn an einem geplatzten Blinddarm gestorben war. Als das geschah, war er Internatsschüler in Harrow, weshalb sie ihn nicht einmal sterben sahen. Von den beiden übriggebliebenen Kindern – unserer Mutter Jane und unserem Onkel Michael – liebten sie nur Michael. Doch im letzten Monat des Kriegs, im November 1945, wurde Michael Dudley bei Fürstenau in Deutschland getötet. Er war achtundzwanzig. Roland und Mabel lebten weiter, aber sie wurden nie wieder froh.

Ihnen blieb das eine Kind, das mittlere, das Mädchen Jane, das ihnen offenbar nicht die geringste Freude bereitete. Ihre kostbaren Söhne waren tot. Das Wenige, was sie an Zuneigung noch besaßen, schenkten sie Michaels zwei Söhnen Jonathan und Robert, unseren Cousins. Vielleicht hofften sie heimlich, wenn sie Jo und mich in unserem Indianerschmuck über die Zufahrt davonradeln ließen, ein paar Cowboys hätten sich aus Wyoming, USA, nach Hampshire in England verirrt und würden uns erledigen – und damit auch ihren Versuch, Kinder zu lieben, die ihnen kaum etwas bedeuteten.

Das Seltsame war, dass uns das nichts auszumachen schien. Wir waren – jedenfalls meiner Erinnerung nach – nicht so bedürftig, dass wir den Großeltern unbedingt gefallen wollten oder darauf hofften, von ihnen geherzt und geknuddelt zu werden. Wir liebten Linkenholt, nicht sie. Sie waren reich, und sie hatten um sich herum eine wunderschöne Welt erschaffen, und diese Welt bedeutete uns alles.

Ein kleines Regiment von Dienstboten sorgte dafür, dass diese Welt funkelte. Sie wirbelten unablässig, um die parfümierte Pracht der großen Eingangshalle sowie die Lavendelpfade, die Obstbäume und die Lorbeergänge in dem riesigen Garten in Schuss zu halten. In der Küche bereitete Florence, die Köchin, gewaltige Braten und Nachspeisen zu. In der Milchkammer schlug der alte Mr Abbot gelbe Sahne und eine steife, salzige Butter, die köstlicher war als alle, die ich danach gegessen habe. In den Gewächshäusern offerierte uns Tom, der Chefgärtner, mit seinen sanften, erdverdreckten Händen erlesene reife Erdbeeren und Strauchtomaten, die wie exotische Früchte dufteten.

In London aßen wir gewöhnlich sehr viel Brot mit Marmelade, Frühstücksfleisch, Kraft-Käsescheibletten, Knäckebrot und Cracker, Würstchen im Schlafrock und Büchsenravioli – karges Nachkriegsessen, bei dem wir sehr dünn blieben. Hier in Linkenholt verspeisten wir gebratenes Raufußhuhn, gebackenen Schinken in Honigkruste, Rhabarbercreme, Sirupnapfkuchen, Apfelkuchen mit Sahne. Und wir konnten uns ganz und gar auf diese Wunder konzentrieren. Niemand erwartete, dass wir während der Mahlzeiten groß redeten. Ich glaube, man ging davon aus, dass Mädchen nichts zu sagen haben würden. Wir mussten nur gerade sitzen, uns den Mund hübsch mit weißen Leinenservietten abwischen und nach dem Essen Granny fragen, ob wir aufstehen durften. »Können wir nach unten gehen, Granny?«, sagten wir dann. Aber sie antwortete nie. Sie reagierte immer nur mit einem kurzen finsteren Nicken, das ihr gepudertes Doppelkinn erbeben ließ.

Doch ich glaube, das war uns egal. Ich erinnere mich, dass wir auf der Stelle aus dem Esszimmer, durch die Halle und, vorbei an einem verschlossenen Waffenzimmer, einen langen Flur entlang bis zur Hintertür rannten, wo unsere Fahrräder warteten. Ein, zwei Runden vielleicht um die unruhigen Ulmen, dann ging es fort über die Auffahrt, hinaus ins grenzenlose Grün, durch eine Lärchenlichtung und, die Räder schiebend, einen kalkigen Hügel hinauf in einen großen Wald aus Buchen, Kiefern, Eichen und Eschen, wo Fasane sich fett fraßen für die Jagdsaison. Und wenn wir in aufgekratzterer, verwegenerer Stimmung waren, radelten wir langsam vom Grundstückstor bis ganz nach oben auf den Linkenholt-Hügel, machten einen Moment Pause und schossen dann, so schnell wir konnten, in unglaublichem Tempo den Berg hinunter, vorbei an schemenhaften duftenden...

Erscheint lt. Verlag 8.3.2020
Übersetzer Christel Dormagen
Sprache deutsch
Original-Titel Rosie. Scenes from a vanished life
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Esoterik / Spiritualität
Geisteswissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie
Schlagworte Adieu • Adieu Sir Merivel • Autobiografie • Biografie • Biographie • Der unausweichliche Tag • Der weite Weg nach Hause • Die Farbe der Träume • Die Verwandlung der Mary Ward • Erwachsenwerden • Familie • Frauenliteratur • Frauenroman • Geschenkbuch • Geschenk für Frauen • Geschenk für Freundin • Hampshire • Hamshire • insel taschenbuch 4849 • IT 4849 • IT4849 • Kindheit • Literatur • London • Melodie der Stille • Mutter • Nachkriegszeit • Sir Merivel • Und damit fing es an • Zeit der Sinnlichkeit
ISBN-10 3-458-76573-5 / 3458765735
ISBN-13 978-3-458-76573-8 / 9783458765738
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