Das Konsortium oder: Die ungenaue Zeit -  Martin Gries

Das Konsortium oder: Die ungenaue Zeit (eBook)

(Autor)

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2020 | 1. Auflage
384 Seiten
Verlag Carl Ueberreuter
978-3-7641-9253-2 (ISBN)
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Herren der Zeit 1. Gesetz: Die Leuchttürme gehören dem Konsortium. Wer sie nutzt, zahlt. 2. Gesetz: Die Sterne gehören dem Konsortium. Wer sie beobachtet, stirbt. 3. Gesetz: Die Zeit gehört dem Konsortium. Wer Zeit genau misst, stirbt. Das Konsortium fackelt nicht lange. Als auffliegt, dass Mariettas Vater heimlich an einer genauen Uhr gearbeitet hat, wird er sofort verhaftet. Entsetzt nimmt Marietta die Uhr aus ihrem Versteck und ergreift die Flucht. Ganz woanders erbt Charles, Sohn eines Leuchtturmbauers, einen Sextanten und beginnt, die Sterne zu beobachten. Als das Aufmerksamkeit erregt, muss er ebenfalls fliehen. Auf verschlungenen Wegen lernen Marietta und Charles sich kennen. Beide besitzen sie etwas, das die Grundfesten des Konsortiums erschüttern kann ...

Martin Gries wurde 1972 geboren und studierte Erziehungswissenschaften. Heute ist er pädagogischer Leiter der »Bücherpiraten«, ein mehrfach ausgezeichnetes Kinderliteraturhaus, und führt Werkstätten zum Thema Kreatives Schreiben durch. Der Autor lebt in Lübeck.

Martin Gries wurde 1972 geboren und studierte Erziehungswissenschaften. Heute ist er pädagogischer Leiter der »Bücherpiraten«, ein mehrfach ausgezeichnetes Kinderliteraturhaus, und führt Werkstätten zum Thema Kreatives Schreiben durch. Der Autor lebt in Lübeck.

3. Kapitel


Marietta


Sie haben etwas gesucht. Alles ist umgestoßen. Sogar die schwere Druckerpresse, die Standuhren und – oh nein – auch die Werkbank. Sein Werkzeug liegt überall verteilt. Da weiß ich, er ist nicht hier. Sie haben ihn mitgenommen. Ich sehe trotzdem in jedem Raum nach. Er ist weg. Alles, was in Schubladen war, liegt auf dem Fußboden verstreut.

Er wusste es. »Die Zeit kann nicht dem Konsortium gehören. Egal, was die vom Dritten Gesetz behaupten«, sagte er dann. Er konnte sich darüber in Rage reden, wenn wir allein waren. Er wurde nachdenklich. »Marietta, irgendwann werden meine Uhren zu genau. Das Dritte Gesetz wird es erfahren.«

»Von mir nicht!«, rief ich.

»Ich weiß. Sie werden es trotzdem erfahren.« Er wirkte besorgt. »Falls sie mich mitnehmen …« Er winkte meinen Widerspruch ab. »Doch. Sie werden mich mitnehmen, Marietta. Dann musst du dieses Paket zum Großherzog bringen.«

Es war die Uhr, die er seit einigen Jahren für den Großherzog entwarf. »So genau, dass man die Sonne danach stellen kann.« Genauer, als es das Gesetz erlaubt.

Er zeigte mir, welche Dielen ich drücken musste, welchen Riegel ich im Nebenraum zurückschieben musste, in welcher Richtung ich den Hebel unterm Tisch drehen musste und wo sich das Geheimfach befand, in dem er die Uhr verwahrte.

Die Uhr schmiegt sich in meinen Handteller. Sie ist kaum größer. Ich kann Vaters Wunderwerk der Verkleinerung fast umfassen. Es ist unglaublich, dass ein Uhrwerk so winzig und so präzise sein kann. Ich spüre all die Gewissheit in ihr. Mein jahrelanges Schweigen wiegt wie eine Felswand. Hätte ich einer anderen Seele etwas angedeutet, wäre unser Leben beendet. Ich habe das Unaussprechliche verinnerlicht. Und nun verlangt Vater auszusprechen, was nicht sein darf. Einem anderen zeigen, was wir versteckten. Mit unserem Leben. Ich kenne den Großherzog nicht. Trotz allem muss ich losrennen. Gegen die Felswand rennen. Keinen Ausweg erhoffen.

»Marietta?« Unser Nachbar, Meener van Rijn, kommt ins Haus. Er versucht auf nichts zu treten. »Marietta, du darfst das Siegel des Dritten Gesetzes nicht brechen. Sie werden wiederkommen.«

Ich wische meine Tränen aus dem Gesicht, ziehe den Rotz hoch und packe das Paket in mein Bündel. Vater lässt mir keine Wahl. Ich stoße Meener von Rijn zur Seite und renne aus dem Haus.

Die Monotram zum Palast. Ich renne die Treppen zur Station hoch, springe in den nächsten Waggon. Ich will keinen Sitzplatz, sondern bleibe stehen. So kann ich die Gassen und Straßen unter uns besser im Auge behalten. Muss den Kopf verdrehen. An den anderen Fahrgästen vorbei.

Der Mann, der auf dem Fensterplatz sitzt, versucht Abstand zu halten. Unten sehe ich Männer und Frauen in ungewohnten Uniformen. Schwarz wie alle Uniformen. Doch diese haben dunkelgrüne Streifen – nicht rote wie die auf dem Markt. Das müssen die Uniformen des Dritten Gesetzes sein.

Mir kommen Zweifel, ob es so eine gute Idee war, die Monotram zu nutzen. Hier kann ich nicht raus. Wenn sie an der Haltestelle beim Palast auf mich warten, habe ich keine Chance. Mir krampft sich der Magen zusammen. Ich spüre Schweiß auf meiner Stirn und kriege kaum Luft. Der Mann am Fenster guckt schon. Er reicht mir ein Taschentuch und ein Lächeln. Ich schüttele dankend den Kopf, lehne mich ans Fenster und atme tief durch.

Die Luft tut gut und ich zwinge mich, wieder gerade zu stehen. Vor uns hängen sehr viele Monotrams an der Schiene. Sie fahren nur stückchenweise weiter. Eine Rauchsäule hinter der nächsten. Ich gucke nach hinten. Auch dort bildet sich eine Schlange. Weiter hinten noch mehr aufsteigender Rauch. ›Sie durchsuchen die Wagen!‹, schießt es mir durch den Kopf. Wir sind noch ein ganzes Stück von der Haltestelle am Palast entfernt.

Alle Passagiere merken, dass es nicht weitergeht. Die, die zu zweit unterwegs sind, stecken die Köpfe zusammen und tuscheln. Ich erstarre. Meine Füße fühlen sich an, als ob Bleigewichte an ihnen hängen. Trotzdem gehe ich zum Tramführer. Er sieht angestrengt aus, aber freundlich.

»Was ist denn los?«, frage ich.

»Das weiß ich auch nicht«, antwortet er und wischt sich die Stirn. »Kann noch dauern.«

»Das ist … schade.« Meine Gedanken rasen. Ich fühle mich wie in einem Käfig, von dem man ahnt, dass eine der Türen nicht geschlossen wurde. Ich muss sie nur finden.

»Hmmja«, brummt er.

»Schade, weil … weil ich es eilig habe.«

Er schaltet einen Hebel. Die Tram schnauft und Dampf hüllt den Führerstand ein. Wir rollen einige Meter weiter.

»Und von der Haltestelle muss ich dann zu Fuß noch wieder zurück.« Meine Augen suchen die Strecke vor uns ab.

»Tja, Mejouffrouw, da kann man nichts machen.« Er schaltet wieder, wieder Schnaufen und Rollen. »Sie sehen ja den Stau. Ich kann ja schlecht überholen.«

Ich sehe eine Ladestelle vor uns.

»Überholen bestimmt nicht. Aber es würde auch nichts ausmachen, wenn die Tram kurz anhält.« Ich zeige auf die Ladestelle vor uns. Ein kleiner Abzweig führt zu einem Speicher.

Der Tramführer dreht sich um und guckt mich das erste Mal an.

»Das ist nur für Gütertransporte.« In seiner Stimme liegt, dass er so etwas noch nie gemacht hat. Nüchtern sagt er es, ohne Widerwillen. Vielleicht neugierig. Ich ahne, dass er meine offene Käfigtür sein könnte.

Ich würde ihn gerne zur Seite schubsen, um selber zu lenken. Ich zwinge mich dazu, es nicht zu tun. Ich versuche charmant, selbstbewusst, unschuldig und unaufdringlich zu wirken. »Sie würden keine Zeit verlieren. Die Tram fällt nur wenige Meter zurück und die holen Sie sofort wieder auf. Ich hüpfe einfach rüber. Ein winziger Sprung.«

Er sieht mich lange an. Dann lächelt er. »Na gut.«

Ich lächle zurück. »Vielen Dank, Meneer.«

»Mejouffrouw!« Er nickt und lüpft kurz seine Mütze.

Dann schaltet er und nimmt den Abzweig. Die Tram schwebt zum sechsten Stock des Speichers. Ich stelle mich an die Tür der Tram. Sobald der Wagen steht und die Dampfwolke den Blick auf die Speichertür freigibt, nickt der Tramführer mir zu. Ich mache die Tür auf und springe rüber zum Speicher. Beinahe stoße ich den Kopf am Haken unter der Winde. Zwei junge Burschen haben mich beobachtet und nutzen ebenfalls die Gelegenheit, zu Fuß schneller zu sein als in einer stillhängenden Tram. Sie springen mir nach.

»Jetzt ist es gut!«, höre ich den Tramführer streng rufen. Er schließt die Tür und winkt mir zu. Meine Lippen formen still »Danke«. Ich deute einen Knicks an.

Im Speicher riecht es nach Korn. Es ist nicht richtig hell. Trotzdem finde ich das Treppenhaus schnell. Die Burschen sind schon runtergelaufen. Sie lachen und rufen laut und voller Übermut. Sie nehmen immer mehrere Stufen auf einmal. Auf der Treppe kommt uns ein Packer entgegen. Sie erwischen ihn an der Schulter.

»Hey!«, ruft er und versucht den Sack auf den Schultern wieder ins Gleichgewicht zu bringen. »Das ist kein Bahnhof hier!«, brüllt er den beiden hinterher, zieht jedoch Sekunden später höflich die Mütze vor mir und zwingt sich zu einem freundlichen Gesicht.

Wenn sie einen Rock sehen, verändern sich die Menschen. Keine Zeit, die Augen zu verdrehen. Nicht einmal innerlich.

Unten auf der Straße blicke ich nach oben. Die Schlange der Monotramwagen ist noch länger geworden und steht jetzt völlig. Alle zischen, schnaufen und prusten vor sich hin. Ich presse Vaters Paket an mich und eile zum Palastplatz.

Die Menschen streben in geduckter Aufmerksamkeit ihren Zielen entgegen. Der Platz vor dem Palast ist voller Uniformen. Uniformen mit grünen Streifen. Ich wusste nicht, wie viele Diener des Dritten Gesetzes es gibt. Angesichts des Unübersehbaren versucht jeder so übersehbar zu sein wie möglich. Sobald ich daran denke, unauffällig zu sein, falle ich mir selber auf.

Im Schatten der Arkaden gehe ich zum Dienstboteneingang. Die Küchenmagd nickt mir zu. Die Köche heben die Köpfe nicht. Die Diener lotsen um mich herum wie um ein altbekanntes Möbelstück. Sie erkennen in mir die Botin des Uhrmachers wieder, die ein und aus geht.

Die Wände im Palast sind dick. So dick, dass zwei Diener aneinander vorbeigehen können, ohne etwas zu verschütten. Außerhalb der Wände stört so keine arbeitende Hand den Eindruck der großherzoglichen Gäste.

Ich nehme die ohnmächtigen Gänge, die die Mächtigen nie sehen. Ich komme darin bis zum Audienzsaal, ohne einer Uniform zu...

Erscheint lt. Verlag 17.2.2020
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte Abenteuerroman • Alternative Vergangenheit • Astronomie • Breitengrad und Längengrad • Dampfmaschinen • Fantasywelt • Fiktive Welt • gegen Regime wehren • Geschenk für Jungs • Geschenk für Mädchen • Homosexualität • Jugendbuch ab 14 Jahren • Leuchtturm • Liebesgeschichte • Liebesroman für Mädchen • Literarischer Jugendroman • Macht der Konzerne • Monopol • Navigation • Rebellen • Revolution • Steampunk • Steampunk Roman • sterne beobachten • Uhrmacher • Weltkonzerne • Zeitmessung
ISBN-10 3-7641-9253-4 / 3764192534
ISBN-13 978-3-7641-9253-2 / 9783764192532
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