Sicherheit ist eine verdammt fiese Illusion -  Kyra Groh

Sicherheit ist eine verdammt fiese Illusion (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
384 Seiten
Atrium Verlag AG Zürich
978-3-03880-138-2 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
13,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Manchmal stellt Mia sich vor, ihre Krankheit wäre eine beneidenswerte Superkraft. Tatsächlich ist es im Alltag aber ganz schön problematisch, wenn man keine Schmerzen empfinden kann und blindlings in alle Gefahren läuft. Das weiß Mia spätestens seit jenem Abend, an dem sie ihre Mutter verlor. Die quälende Erinnerung daran ist gleichzeitig ihr größtes Geheimnis. Zumindest bis sie Jake kennenlernt, der seinen eigenen Kummer im Fitnessstudio von Mias Vater bekämpft. Ihm kann sie sich anvertrauen, und auch er erzählt ihr von den dunklen Seiten in seinem Leben. Obwohl die beiden so verdammt unterschiedlich sind, haben sie zum ersten Mal das Gefühl, dass Sicherheit vielleicht mehr sein könnte als eine fiese Illusion.

Kyra Groh wurde 1990 in Seligenstadt am Main geboren. Sie begann bereits mit elf Jahren, ihre ersten Kurzgeschichten zu verfassen, und seither ist das Schreiben ihr fester Begleiter. Bisher hat sie fünf Romane veröffentlicht. ?Sicherheit ist eine verdammt fiese Illusion? ist ihr erstes Buch für Jugendliche. Sie lebt mit ihrem Freund in Frankfurt am Main - und in ihren gemeinsamen vier Wänden läuft garantiert immer Musik, ein Hörbuch oder eine Netflix-Serie.

Kyra Groh wurde 1990 in Seligenstadt am Main geboren. Sie begann bereits mit elf Jahren, ihre ersten Kurzgeschichten zu verfassen, und seither ist das Schreiben ihr fester Begleiter. Bisher hat sie fünf Romane veröffentlicht. ›Sicherheit ist eine verdammt fiese Illusion‹ ist ihr erstes Buch für Jugendliche. Sie lebt mit ihrem Freund in Frankfurt am Main – und in ihren gemeinsamen vier Wänden läuft garantiert immer Musik, ein Hörbuch oder eine Netflix-Serie.

01 Mia


Es ist 06:57 Uhr. Wie jeden Morgen.

Ich habe mal gelesen, dass es besser sei, den Wecker auf eine ungerade Uhrzeit zu stellen, weil der Körper dann besser aus dem Tiefschlaf erwacht. Aber wahrscheinlich hat das eh nur eines dieser Fun-Fact-Profile erfunden, auf deren Fotos mich meine beste Freundin Hatice immer taggt. Hati fällt gerne auf so etwas rein.

Aber nach einem Traum wie dem von heute Nacht bin ich froh, wach zu sein. Egal ob zu einer geraden oder ungeraden Uhrzeit. Jeder andere würde nach diesem Albtraum wahrscheinlich ins Kissen schreien und das Laken mit tausend Tränen fluten. Doch ich weine schon lange nicht mehr. Natürlich nicht – ich bin einfach der totale Gefühlskrüppel.

Bevor mich die Kraft meiner eigenen Gefühllosigkeit zerquetschen kann, ertönt zum zweiten Mal an diesem Morgen mein nerviger Wecker. Was habe ich mir nur dabei gedacht, ausgerechnet einen Taylor Swift Song als Alarm einzustellen? In Kombination mit der absoluten Dunkelheit, die in meinem Zimmer herrscht, erzeugt Taylor ein Horrorszenario der ganz besonderen Sorte. Ich kann ihre Musik überhaupt nicht ausstehen! Aber das ist natürlich genau der Grund, wieso ich ihr die Ehre zuteilte, mich aufzuwecken. Ich will mir ja keinen wirklich guten Song damit versauen, dass mein Gehirn ihn mit »Achtung! Aufstehen!« assoziiert.

Ich muss in genau neununddreißig Minuten im Bio-Kursraum des Anne-Frank-Gymnasiums sitzen. Dass ich nur so wenig Zeit habe, um mich fertig zu machen, ist für mich längst kein Problem mehr. Ich muss mich schon seit der fünften Klasse selbst wecken und habe mich nie darauf verlassen können, dass mir morgens jemand in den Hintern tritt oder mir eine Brotdose einpackt. Nach sechs Jahren immer gleicher Morgenroutine habe ich also ein ziemlich ausgeklügeltes Zeitmanagement entwickelt.

Ich knipse die Lichterkette an, die sich um das Kopfteil meines Bettes und über die Wand dahinter schlängelt. Mit einem Mal wird mein kleines Zimmer erleuchtet von Dutzenden Lichtflecken, die dreieckige Kegel an die mit Postern beklebte Wand werfen.

Wo andere Menschen vielleicht ein Vision Board aufgehängt haben – wie meine Freundin Hati, die über ihrem Bett tiefschürfende Botschaften an ihre Seele notiert und ihre Lebensträume in Form von Zeitungsausschnitten und Fotos visualisiert –, hängen bei mir Bilder von Bands und Sängern, die meine unaussprechlichen Gedanken in Musik fassen.

Ich liebe es, mich morgens nach dem Aufstehen nach meiner bunten Wirrwarrwand umzudrehen und einen Blick auf den Mann zu werfen, der genau in der Mitte hängt und mich verschmitzt angrinst: Mark Hoppus, Bassist von blink-182, aufgenommen irgendwann im Jahr 2004. Das Poster zeigt ihn auf der Bühne, mitten in einem Sprung. Er hat die Beine in den Skatersocken eng angezogen und auf seinem Kopf steht die süßeste Frisur der Welt zu Berge. Dieses Poster ist wahrscheinlich der Grund, wieso ich im aktuellen Jahrzehnt in der realen Welt und vor allem in meinem Bekanntenkreis niemals einen Freund finden werde. Ich bin zu verknallt in das Foto eines Mannes, der nur ein Jahr später geboren wurde als mein Vater und den kaum einer meiner Altersgenossen überhaupt kennt. Mal im Ernst: Die meisten dieser Musikbanausen haben noch nicht einmal von blink-182 gehört. Dabei sind sie für mich die beste Band aller Zeiten – für mich und für meine Mutter, die mir ihre Musik schon vorgespielt hat, als ich noch klein und sie noch da war.

Nun ja … vielleicht bin ich aber auch einfach zu gefühlskalt, um mich im echten Leben überhaupt in irgendwen verlieben zu können.

Mein Vater würde sich wünschen, dass ich mir Bilder von gleichaltrigen Jungs aufhänge. Aber Papa findet auch, dass ich die drei übrigen Wände in meinem Zimmer nicht hätte grau streichen sollen, dass ich doch häufiger mal etwas Buntes tragen sollte und dass Sunrise Avenue eine richtige Band seien – egal, wie häufig ich ihm sage, dass Sänger von richtigen Bands niemals Juroren in Castingshows werden.

Ich klettere aus dem Bett und lande mit meinen Füßen in einem weichen Teppich aus getragenen Klamotten. Papa würde es übrigens auch begrüßen, wenn der Kleiderberg in meinem Zimmer etwas dezenter ausfallen würde. Dieser Kleiderberg, das Kleidergebirge trifft es wohl besser, erstreckt sich fast über den ganzen Boden und erreicht am höchsten Gipfel eine prächtige Größe von gut einem halben Meter. Mutig besteige ich meinen persönlichen Mount Waschmore und klaube mir ein Outfit heraus.

Nur wenige Minuten später stehe ich fertig angezogen im Badezimmer und bemerke bei einem kurzen Blick in den Spiegel, dass mein zufällig vor der Schmutzwäsche gerettetes Outfit gar nicht so übel aussieht. Der Spiegel in unserem Bad ist lächerlich groß und nimmt eine ganze Wand ein. Laut Papa ist das unbedingt notwendig, um sich aus allen Winkeln darin mustern zu können. Aber streng genommen führt es nur dazu, dass man selbst dann noch sein eigenes Abbild sehen kann, wenn man duscht oder auf der Toilette sitzt. Papa hat dieses Monstrum angebracht, um seine körperlichen Fortschritte zu begutachten. Dafür hat er ihn sogar mit einer vorteilhaften Beleuchtung ausgestattet. Mein Vater ist Bodybuilder und was soll ich sagen? Das ist genauso peinlich, wie es sich anhört.

An meinem Körper gibt es keine Muskelberge zu bewundern. Das grell von oben herabscheinende Licht strahlt bei mir heute nur einen riesigen Pickel an, der über Nacht auf meiner Stirn gewachsen ist. Er ist derart angeschwollen, dass er sich gut als Besetzung von Gregor Clegane alias Der Berg in Game of Thrones machen würde.

Er sitzt so zentral über meinen Augen, dass ich vermute, mein Hormonhaushalt hat mit Geodreieck und Zirkel exakt den Mittelpunkt meiner Stirn ermittelt, um das ekelhafteste Furunkel aller Zeiten besonders auffällig platzieren zu können.

Das Ding muss weg.

Ich gehe näher an den Spiegel, setze die unregelmäßig langen, schwarz lackierten Nägel meiner Zeigefinger neben den Pickel und drücke an meiner Stirn herum. Nichts passiert. Außer dass Der Berg jetzt auch noch glühend rot leuchtet. Ich drücke fester.

»Du weißt, dass du mit deinen Nägeln vorsichtig sein musst, Mia«, hallt die Stimme in meinem Kopf, die ich vor wenigen Minuten noch in meinem Traum gehört habe. »Du verletzt dich sonst!«

Du verletzt dich sonst. Einen Euro für jedes Mal, dass ich diesen Satz gehört habe, und ich könnte es mir leisten, blink-182 für einen Auftritt an meinem achtzehnten Geburtstag zu buchen.

Die Stimme in meinem Schädel macht mich wütend. Was dazu führt, dass ich die schwarzen Kanten meiner Nägel so tief in meine Stirn grabe, bis eine feine Linie Blut aus der Haut heraustritt. Der Pickel bleibt unverändert scheußlich, wird jetzt jedoch zusätzlich verunstaltet von dem blutigen Schnitt, dem Abdruck meiner Nägel und dem hässlichen, reuevollen Ausdruck in meinen braunen Augen. Der Berg: 1. Mia: 0.

Von meinen neununddreißig Minuten muss ich nun wertvolle Sekunden abzwacken, um die Blutung auf meiner Stirn zu stoppen und das Desaster mit Make-up zu vertuschen. Routiniert mache ich mich ans Werk, hole einen Wattebausch, beträufele ihn mit Jod und Desinfektionsmittel und drücke die Tinktur, ohne mit der Wimper zu zucken, gegen die Verletzung. Eine Verletzung, die ich mir – Gott verdammt – beim Pickelausdrücken zugefügt habe! Fingernägel kurz schneiden, notiere ich mir auf meiner inneren Merkliste für Dinge, die ich in Zukunft besser beherzigen muss.

Das Bluten hört schnell auf. Ein Kratzer dieser Art am Arm oder so hätte wahrscheinlich nach einem Pflaster verlangt, aber der Kriegsschauplatz in meinem Gesicht ist schnell in Ordnung gebracht. Bekloppt sehe ich trotzdem aus, als ich mich kurze Zeit später mit Concealer zukleistere. Ich benutze im Normalfall nie einen Abdeckstift und bin daher nicht besonders gut darin, die sandfarbene Pampe aufzutragen. Resigniert fahre ich stattdessen mit dem Teil des Make-ups fort, der zu meinem Markenzeichen geworden ist: schwarzer Lidschatten, den ich mit den Fingern so verschmiere, dass es aussieht, als hätte ich ihn bereits gestern aufgetragen und über Nacht nicht weggemacht. Dazu ein bisschen Wimperntusche. Nicht zu viel. Meine Freundin Hati trägt jeden Morgen vier Schichten Wimperntusche auf und sieht damit aus wie die Prinzessin aus Tausendundeiner Nacht. Wenn ich meine übernatürlich großen Augen zu heftig tusche, gleiche ich eher einem dauererschrockenen Reh.

Um 07:21 Uhr schließe ich die Wohnungstür hinter mir zu und schlüpfe in meine Sneakers. Ganz vorsichtig, da meine Vans eh schon an mehreren Stellen eingerissen sind. Ich würde Papa ja bitten, mir Geld für ein neues Paar dazuzuschießen, aber dann sagt er bestimmt, dass die Schuhe nicht so schnell kaputtgingen, wenn ich sie wie ein normaler Mensch schnüren würde, statt faul reinzuschlüpfen. Schnüren wie ein normaler Mensch. Welcher normale Mensch schnürt sich jedes Mal die Schuhe?

Wie jeden Morgen gehe ich die außen gelegene Wendeltreppe runter, die unsere Wohnung mit den Studioräumlichkeiten verbindet.

Das Fitnessstudio, dessen Eigentümer mein Vater ist, befindet sich in einem rot geklinkerten alten Lagergebäude mit sechs Meter hohen Decken, vergitterten, bodentiefen Fensterscheiben, unverputztem Backstein und frei liegenden Rohrleitungen. Mit dieser Architektur könnte Papas Kraftschmiede ein wahrer Fitness-Hipster-Tempel sein. Doch mein Vater hat nicht sehr viel Verständnis für...

Erscheint lt. Verlag 13.3.2020
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte Analgesie • blink182 • Eliteschule • Eltern • Fitnesscenter • Fitnessstudio • Frankfurt • Gegenwartsroman • Geheimnis • Gewalt • Jugendbuch • Musik • Schmerz • verliebtsein
ISBN-10 3-03880-138-0 / 3038801380
ISBN-13 978-3-03880-138-2 / 9783038801382
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,8 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich