Um unsere Webseiten für Sie optimal zu gestalten und fortlaufend zu verbessern, verwenden wir Cookies. Durch Bestätigen des Buttons »Akzeptieren« stimmen Sie der Verwendung zu. Über den Button »Einstellungen« können Sie auswählen, welche Cookies Sie zulassen wollen.

AkzeptierenEinstellungen

Morduntersuchungskommission: Der Fall Melchior Nikoleit (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
336 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00465-8 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Jena, 1985. Ein junger Mann ist ermordet worden. Ein Punker, so nennen sich diese Gestalten, die vom sozialistischen Staatswesen so schwer auf Linie zu bringen sind. Die Ermittler der Morduntersuchungskommission um Oberleutnant Otto Castorp nehmen schnell den Vater des Opfers ins Visier, einen Antiquitätenhändler mit Westkontakt, der dem Arbeiter- und Bauernstaat feindselig gegenüber steht. Der Ermordete, das weiß Castorp, hatte sich als Informeller Mitarbeiter bei der Staatssicherheit verpflichtet. Zudem scheint der Fall auch mit einer Einbruchsserie in der Stadt zu tun zu haben. Und mit alten Geschichten. Sehr alten, sehr finsteren Geschichten - sie reichen zurück in die Zeit vor 1945.

Max Annas, geboren 1963, arbeitete lange als Journalist, lebte in Südafrika und wurde für seine Romane Die Farm (2014), Die Mauer (2016), Finsterwalde (2018) und Morduntersuchungskommission (2019) sowie zuletzt Morduntersuchungskommission: Der Fall Melchior Nikoleit (2020) fünfmal mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet. Bei Rowohlt erschienen außerdem Illegal (2017), Der Hochsitz (2021) und Morduntersuchungskommission: Der Fall Daniela Nitschke (2022)

Max Annas, geboren 1963, arbeitete lange als Journalist, lebte in Südafrika und wurde für seine Romane Die Farm (2014), Die Mauer (2016), Finsterwalde (2018) und Morduntersuchungskommission (2019) sowie zuletzt Morduntersuchungskommission: Der Fall Melchior Nikoleit (2020) fünfmal mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet. Bei Rowohlt erschienen außerdem Illegal (2017), Der Hochsitz (2021) und Morduntersuchungskommission: Der Fall Daniela Nitschke (2022)

1 | Otto Castorp


«Genosse Castorp», sagte Heinz, als er den Wartburg stoppte. «Sehen Sie mal, hier an dieser Ecke können Sie keinen Schaden anrichten.» Die hohe Stimme des Hauptmanns der Morduntersuchungskommission klingelte in Ottos Ohr. Er öffnete die Beifahrertür des Wartburg und setzte einen Fuß auf den Asphalt. Dann drehte er sich noch einmal vorsichtig um und blickte ins Gesicht seines Leiters. Er sah Mitleid und Bedauern. Vor allem Mitleid. Er traute sich nicht, auf die Rückbank zu schauen. Da saßen Günter und Rolf und amüsierten sich über ihn. Günter räusperte sich schon so komisch.

«Schaffe ich schon», sagte Otto. Er holte tief Luft.

«Komm, jetzt mach nicht so ein Theater.» Heinz tappte mit einem Finger auf das Lenkrad. «Wenn die Kollegen von der Branduntersuchungskommission um Hilfe bitten, dann sind wir eben da. Und du hast …» Er machte eine Pause. «Komm jetzt», sagte er. «Hier an der Ecke kannst du den Alkohol ausschwitzen. Das ist so weit weg von der Wohnung, um die es geht, da wirst du dich einfach ein bisschen langweilen und kannst nicht so viel falsch machen. Irgendwann sammeln wir dich wieder ein. Raus jetzt.»

«Raus jetzt», machte Rolf das Echo.

Otto stieg aus und schlug die Tür zu, ohne sich noch einmal umzudrehen. Erst als das Motorengeräusch des Wartburg verklungen war, drehte er sich um. Über sich erkannte er im Dunkel den Westbahnhof, tief unten die Saale. Hier am Anstieg trafen sich ein paar kleinere Straßen, ein Fußweg führte zu einer Unterführung, durch die man musste, wenn man zum Bahnhof wollte. Eine Möglichkeit, sich hinzusetzen, gab es weit und breit nicht. Und er wollte erst gar nicht beginnen, danach zu suchen. Es würde ihn nur wegführen von der Kreuzung, an der er platziert worden war.

Auf und ab gehen, dachte er, vielleicht hilft das. Etwas Bewegung tut mir jetzt gut. Ein Barkas der Volkspolizei kam die Straße hoch, und Otto drehte sich weg. Da waren sicher ein paar unter den uniformierten Polizisten, die ihn kannten. Niemand musste ihn in diesem Zustand sehen. Als der Barkas die Felsenkellerstraße weiter hochgefahren war, stützte er die Hände auf die Knie und versuchte, den Druck in seinem Kopf zu lokalisieren. Es gelang ihm nicht. Druck und Schmerz waren einfach überall.

Es war aber auch spät gewesen gestern. Den Wodka hatte er im Wohnzimmer noch ausgetrunken, bevor er zu Birgit ins Bett gekrochen war. Und dann hatte ihn Heinz’ Anruf geweckt.

Eigentlich war es Birgit gewesen, die vom Lärm des Telefons aus dem Schlaf geholt worden war. Und die hatte ihn geweckt. So war es verabredet gewesen. Oder das war, worum er Birgit gebeten hatte, bevor sie schlafen gegangen war. Und auch wenn die Stimmung zwischen ihm und Birgit gerade nicht gut war, in solchen Dingen konnte man sich auf sie verlassen.

«Trink die Flasche nicht aus», hatte sie noch gesagt. «Bitte.»

Birgit hatte ihn geschüttelt, und zehn Minuten später hatte er vor der Haustür auf die anderen gewartet. Die Beifahrertür des Wartburg hatten sie ihm aufgemacht. Und er hatte sich wortlos hineingesetzt. Konnie, der jüngste Ermittler der Morduntersuchungskommission, musste mit seinem eigenen Wagen unterwegs sein. Für alle fünf Mitglieder war in dem Wagen einfach kein Platz. Was war das noch einmal für ein Fall, bei dem sie aushelfen sollten?

Noch ein Barkas kam aus dem Saaletal herauf. Otto blickte auf seine Armbanduhr, um die Jungs nicht grüßen zu müssen. Gleich würde es losgehen. Wenn er Glück hatte, war er in etwas mehr als einer halben Stunde erlöst. Und hier in der Gegend standen nicht so viele Wohnhäuser, es gab also nicht so viele Fenster, aus denen heraus man ihn sehen konnte. Für die Leute, die auf dem Weg zum Westbahnhof waren, war es genauso dunkel wie für ihn.

Vielleicht erkannte ihn niemand. Hoffentlich sprach ihn keiner an. Den Rest des Tages würde er mit dem Erstellen von Akten im Büro verbringen. Oder mit Aufräumen. Irgendetwas in der Art. Hauptsache, man ließ ihn in Ruhe.

Sechs Uhr. Gleich würde eine Tür in der Nähe eingetreten, um einen Brandstifter zuzuführen. Er hatte nicht so genau hingehört. Aber der Kerl, der erst vor ein paar Tagen identifiziert worden war, hatte schon mehrere leere Scheunen in der Umgebung Jenas angezündet. Irgendwann würde jemand bei so einem Feuer sterben.

Was war das gewesen? Hatte die Frau, die gerade an ihm vorbeigegangen war, ihm zugenickt? Er drehte sich um und sah ihr nach. Sie erinnerte ihn an niemanden. Jedenfalls nicht von hinten. Otto machte jetzt längere Schritte beim Auf- und Abgehen und wünschte sich, er hätte eine Sonnenbrille dabei. Es war noch recht dunkel, aber gleich würde die Sonne aufgehen, und das Licht würde ihn schmerzen.

Einatmen, kurz so bleiben, wieder raus mit der Luft. Jetzt könnten die anderen mal kommen und ihn aufgabeln. Es war schon viertel. Wenn nicht irgendetwas schiefgegangen war, dann saß der Zündler jetzt auf der Rückbank von einem Wartburg oder in einem Barkas und sah sich die Gegend mit gefesselten Händen an.

Aus allen Richtungen kamen die Leute nun und nahmen den Pfad hoch zum Bahnhof. Otto überquerte die Straße und stellte sich so, dass die wenigsten von ihnen direkt an ihm vorüberziehen mussten. Gleich sollten sie aber wirklich kommen, die Genossen. Er hatte Hunger. Und gewaltigen Durst. Ganz kurz schloss Otto die Augenlider, öffnete sie wieder und sah auf die Uhr. Sechs Minuten vor halb sieben.

Sie hatten ihm nicht einmal ein Funkgerät in die Finger gedrückt. Es war der letzte Posten, an dem etwas geschehen sollte. Schon fast halb. Es wurden immer mehr Leute, die hoch zum Bahnhof gingen, auch Kinder und Jugendliche. Otto drehte sich so, dass sie nur seinen Rücken sehen konnten. Wahrscheinlich war das Jackett ganz faltig, weil er es gestern Abend einfach von sich geworfen hatte. Oder hatte er einen frischen Anzug aus dem Schrank genommen? Er konnte sich einfach nicht erinnern.

Ein Ruf hinter ihm. Otto ignorierte das «Ey!». Was gingen ihn die Konflikte der Leute an, die jetzt ihre Bahn kriegen mussten, um zur Arbeit oder zur Schule zu kommen. Mehr Stimmen, zwei oder drei darunter laut, er blieb stehen. Der Mann, der eben noch «Ey!» gerufen hatte, legte nach. «Das gibt es doch nicht», rief er.

Der Klang der Stimmen wurde zu einem Teppich aus Grummeln und Stöhnen. Ein Kind fing an zu weinen.

Dreh dich nicht um. Das hier geht dich gar nichts an.

Du hast nämlich eine Aufgabe. Irgendwo dahinten verhaften die Kollegen gerade jemanden und holen dich nach getaner Arbeit ab. Und du bist hier platziert worden, um … Ja, warum eigentlich? Falls irgendetwas schiefgehen sollte. Was auch immer das sein konnte.

Solange jedenfalls von dort hinten, wo diese Wohnung lag, in der der Brandstifter wohnte, nichts Auffälliges zu ihm vordrang …

Das Kind schrie immer lauter.

«Stehen bleiben», rief jetzt ein Mann.

Und «Tu was!» eine Frau. Otto drehte sich um.

Am Beginn des Weges, der hoch zum Bahnhof führte, stand eine Gruppe von Leuten. Alle von ihnen blickten hoch, ein Mann reckte seinen Arm in die Höhe, Empörung. Eine Frau bückte sich und nahm das schreiende Kleinkind auf den Arm. Mehr Leute kamen dazu. Otto stellte sich zu ihnen.

«… Polizei …»

«… unmöglich …»

«… und das Blut …»

Jetzt sah Otto den Fleck am Boden. Und dort hinten noch einen. Er drehte sich einmal um sich selbst. Auch dort, hinter ihnen, waren Spuren. Tropfen von Blut zeichneten ein Bild des Weges, den …

«Wer war das?», fragte Otto laut.

«Dieser Mann», sagte eine Frau in kreischendem Ton, ohne sich zu ihm umzudrehen, und zeigte zum Bahndamm.

Der Klang der Stimme setzte sich in seinem Ohr fest und tat irgendwo im Kopf weh. Aber die Blutspur konnte er klar erkennen. Warum waren denn alle stehen geblieben?

Eine Sirene erklang von ferne. Das mussten die Kollegen sein. Otto betrachtete die Gruppe, neben der er stand, dann die Blutspur, dann noch einmal die Leute. Die Sirene kam näher.

Verdammt, dachte er und fing im gleichen Moment an zu laufen. Das war der Kerl, den sie zuführen wollten.

Die Bewegung tat weh im Kopf. Und in den Schultern. Und im Bauch. Und die Beine wollten gar nicht gehorchen. Seine Schritte waren kurz, und alles vor ihm war so undeutlich. Die Blutflecken vor ihm verschwammen, einer bewegte sich sogar zur Seite.

Aber Otto lief weiter. Er musste aufstoßen und schmeckte den Wodka nach. Beschleunigte und erreichte den Bahndamm. Vereinzelt standen Leute herum. Ein Mann, dessen dicke Koteletten er am Rand wahrnahm, sagte was von: «Wurde auch Zeit!»

Eine Frau kniete mit dem Rücken zum Bahndamm und hielt wie ein großes Huhn ihre beiden Arme über zwei Kleinkinder. Der Blutfleck vor ihr verlief zu einem abstrakten Muster. Gleich war Otto an der Unterführung angekommen, durch die man zu den Gleisen gelangte. Er kniff die Augen zusammen und lief, so schnell er konnte.

Am Eingang zur Unterführung standen ein paar Leute und bildeten eine Gasse, als er sie erreichte. Otto drängte sich hindurch und sah einen Mann am Boden sitzen, der nicht mehr trug als Hose und Hemd. Er hatte seinen Kopf auf die Unterarme gelegt, die wiederum auf den angezogenen Knien ruhten.

Das weiße Hemd war an der Seite aufgerissen. Die graue Hose am Unterschenkel, der Riss war ganz rot. Eine Blutspur bahnte sich den Weg von einem der nackten Füße in die Mitte des Tunnels.

«Können Sie mich ansehen?», fragte Otto den Mann, als er vor ihm in die Hocke ging.

Der Mann hob langsam den Kopf. Aus der Ferne wurden Schritte lauter.

Die Augen des...

Erscheint lt. Verlag 21.7.2020
Reihe/Serie Die Morduntersuchungskommission-Krimireihe
Die Morduntersuchungskommission-Krimireihe
Die Morduntersuchungskommission-Reihe
Morduntersuchungskommission
Zusatzinfo Mit 1 s/w Karte
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Achtziger Jahre • Berlin • castorp • DDR • DDR Krimi • Historischer Kriminalroman • Jena • Krimi • Kriminalroman • Melchior Nikoleit • Migranten • Mord • Neonazis • Otto Castorp • Punk • Rassismus • Stasi • Verrat • Volkspolizei • Wahre Begebenheit
ISBN-10 3-644-00465-X / 364400465X
ISBN-13 978-3-644-00465-8 / 9783644004658
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR)
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 9,1 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von Wolf Haas

eBook Download (2025)
Carl Hanser Verlag München
18,99
Roman

von Percival Everett

eBook Download (2024)
Carl Hanser Verlag München
19,99
Roman

von Chimamanda Ngozi Adichie

eBook Download (2025)
Fischer E-Books (Verlag)
19,99