Alfred Adler (eBook)

Die Vermessung der menschlichen Psyche - Biographie
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
432 Seiten
Deutsche Verlags-Anstalt
978-3-641-21817-1 (ISBN)

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Alfred Adler -  Alexander Kluy
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Die große Biographie des Erfinders der Individualpsychologie
Alfred Adler, neben Sigmund Freud und C. G. Jung einer der Urväter der modernen Psychologie, ist der Begründer der Individualpsychologie. 1911 setzte sich Adler scharf vom Übervater der Psychoanalyse ab. Er wollte eine lebensnahe Psychologie schaffen, die es ermöglicht, den Einzelnen aus seiner individuellen Lebensgeschichte heraus zu verstehen. Seine optimistische positive Lehre wurde rasch sehr populär. In den 1930er Jahren war Adler einer der bekanntesten Psychologen der Welt.

Eingebettet in die Zeitgeschichte und aktuelle Forschungserkenntnisse zeichnet Alexander Kluy das Leben Alfred Adlers nach, der, 1870 in Wien geboren, 1937 auf dem Höhepunkt seines Ruhmes unerwartet in Schottland starb. Diese Biographie mit erstmals veröffentlichten Archivfunden zeigt den Menschen Adler - und die bis heute ungebrochene, hochaktuelle Wirkung seines Werks.

Alexander Kluy, geboren 1966, lebt als Autor und Journalist in München. Er schreibt regelmäßig u. a. für Der Standard, Buchkultur und Psychologie Heute. Zuletzt erschien von ihm bei DVA die Biographie »George Grosz. König ohne Land«.

1   Einleitung


»Das einzig wahre Ausland ist die Vergangenheit.«

Hans Magnus Enzensberger1

Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der Psychologie.

Es war ein überlanges Jahrhundert, strafte es doch die Regeln der Arithmetik Lügen. Es setzte bereits 1899 ein, als der Wiener Seelenarzt Sigmund Freud ein Buch über eine uralte Kulturtechnik, die Oneirologie, veröffentlichte und sein Buch, dem er den Titel Die Traumdeutung gab – wohlgemerkt: Die, nicht eine –, auf das Jahr 1900 vordatieren ließ. Hingegen endete es erst im Jahr 2011, mit der Überführung der kremierten sterblichen Überreste Alfred Adlers nach Wien.

Eine übermannshohe, kantige Stele markiert heute seine Grabstelle auf dem Wiener Zentralfriedhof, der von Touristengruppen fast ebenso überlaufen ist wie das Stadtzentrum mit seinen Sehenswürdigkeiten. Auf Kopfhöhe ein umlaufendes Stahlband mit einer Inschrift – in englischer Sprache. Ein Stein, der Moderne signalisiert. Dabei buchstäblich leicht greifbar ist und zugänglich. Und der errichtet wurde für einen Wiener Psychologen, der am Ende seines Lebens, Mitte der 1930er Jahre, in einem Atemzug mit Albert Einstein genannt wurde. Während das Genie Einstein das Universum vermessen habe, sei dem Genie Adler etwas noch Wichtigeres gelungen, die Kartierung der menschlichen Seele.2

Wie kam es zu dieser Einschätzung und Gleichsetzung? Verdankte sie sich journalistischer Schlagzeilensucht und Zeitgebundenheit? Oder steckte hinter dieser Akklamation mehr? Etwa Fragen nach einem neuen, anderen, modernen, zeitgemäßen, dabei überzeitlichen Selbstverständnis des Menschen? Fragen nach einem Wertesystem von Individuum und Gruppe, Erkundigungen nach Weisen eines Denkens, Handelns und Empfindens, das ohne Selbstreflexion der Wissenschaft und des Schreibenden nicht mehr traktiert werden kann?3 Psychologiegeschichte hat mehr zu sein als reine Gegenstandsgeschichte.4 Denkt man über die drei größten und einflussreichsten Psychologen des 20. Jahrhunderts nach, über die Pioniere der Tiefenpsychologie Sigmund Freud, Carl Gustav Jung und Alfred Adler, Letzterer verglichen mit den beiden anderen heute zu Unrecht weniger bekannt, dann ist historisches Bewusstsein für Problemkonstellationen vonnöten, die sich über das späte 19. und das 20. Jahrhundert legten und die Psychologie prägten und noch immer prägen, im Zeitalter von Hightech-Methoden und avancierten Technologien der Humanmedizin mehr denn je. Ein historisches Bewusstsein dafür, wie Seelenkunde und Menschenkenntnis Grundsatzentscheidungen der Anthropologie und bedrängende Letztbegründungsfragen bedingt haben.5

Wohl keine der Lehren der tiefenpsychologischen Schulen dürfte ähnlich eng mit den Anstrengungen, Krankheiten und Leiden ihres Schöpfers zu überwinden, verknüpft sein wie das therapeutische System Adlers, die Individualpsychologie.6 Der Wiener Psychologe Viktor Frankl, ein früher Renegat der Individualpsychologie und Begründer der Logotherapie, im Jahr 1993 in oberflächlicher Frivolität: »Jeder Begründer einer Psychotherapierichtung hat in seinen Büchern eigentlich nur seine eigene Krankengeschichte geschrieben und dabei die Probleme zu lösen versucht, die er selbst durchgemacht hat.«7

Geschichte ohne Psychologie verstehen zu wollen erscheint müßig. So müßig wie sinnlos. Psychologie ohne Geschichte zu verstehen ist haltlos. Zudem ist es intellektuell anmaßend. Denn es greift zu kurz. Man versteht den aktuellen Stand der Tiefenpsychologie nicht ohne die historischen Entwicklungsstufen und Durchsetzungsphasen. Erst recht nicht ohne die Sackgassen, in denen sich ihre Begründer verlaufen haben, nicht ohne die mühseligen Stufen, die sie genommen, nicht ohne die Jakobsleitern der Erkenntnis, die sie erklommen haben. Fortschritte der psychologischen Forschung waren nicht nur Mainstream-Siegergeschichten.8 Professor Oskar Frischenschlager, Psychotherapeut am Zentrum für Public Health der Medizinischen Universität Wien: »Was macht es nun interessant, die Geschichte der Psychoanalyse bzw. der Psychotherapie über Biographien kennenzulernen? Die Antwort ist leicht: Es liegt am Gegenstand der Forschung selbst. Psychologie beschäftigt sich mit dem Erleben, mit dem Verhalten, die Psychoanalyse darüber hinaus mit dem noch schwerer zugänglichen Unbewussten und der komplexen Geschichte des einzelnen, in eine Kultur hineingeborenen Menschen. Aber alles, was über psychische Funktionen mit wissenschaftlichem Anspruch gesagt wird, (be)trifft gleichzeitig jeden von uns unmittelbar.«9

Ein Psychologiehistoriker meinte in den 1970er Jahren, Adler klinge ganz zeitgenössisch in seinen Implikationen für das Wir.10 Das gilt fünfzig Jahre später mehr denn je. Die Individualpsychologie hat Wirkung bis heute. Und Ausstrahlung bis heute. Adlers heilende Theorien der Psyche sind virulent für zersplitternde Gesellschaften, in denen sich Separationsdebatten, Rückzugsmanöver, Einigelungsaktionen und Auflösungsprozesse vollziehen, in denen sich Neo-Puritanismus, Neo-Rassismus und alter Hass hochschaukeln. Adler hat mit als Erster verstanden und benannt, dass der Mensch infolge faktischer oder empfundener Unzulänglichkeit und eines Mangels an Selbstachtung die Tendenz entwickelt, durch Abwertung anderer sich selbst aufzuwerten. Bei einer Gruppe oder einer ganzen Klasse, die über längere Zeit hinweg als nicht gleichwertig oder explizit als minderwertig behandelt worden ist, würden sich diese Gefühle intensivieren und zu Kompensation führen, in Ausweichmanöver münden, um Selbstzweifel und Infragestellungen zu neutralisieren.

Die Erkenntnisse Adlers bilden die Nomenklatura eines Paradigmensprungs: als psychosomatische Medizin. Die Wertung von Krankheitssymptomen als Rebellion des Organismus im Sinne des, wie er es nannte, männlichen Protestes. Schwäche und Krankheit als Machtinstrumente. Kompensation von Organminderwertigkeit. Minderwertigkeitsgefühle. Die soziale Bezogenheit des Organismus. Die Einheit von Organismus und psychischem Überbau und Persönlichkeitszielen. Symptome als Organjargon. Die gesellschaftliche Struktur des menschlichen Lebens. Das Bewusstsein eines Zieles bei der Meisterung von Aufgaben. Falsche Kompensation durch Mangel an sozialer Orientierung. Neurose als Macht- und als Geltungsproblem. Sein eigener Arzt werden als Therapieziel, also die Demokratisierung des Arzt-Patient-Verhältnisses und die Aufwertung der Mitverantwortung des Patienten für die Genesung.11 Diese Punkte sind Leit- und Schlagworte der Individualpsychologie. Sie markieren deren Behandlungsmodi. Deren sichtbarster im therapeutischen Gespräch ist unsichtbar, die fehlende Couch. Sie ist abgeschafft. Patient und Behandler sitzen sich gegenüber, Auge in Auge. Es gibt kein Oben und kein Unten. Patient und Therapeut interagieren. Bewegungen wahrzunehmen ist wichtig.

Das Adlersche Credo lautet: die Menschen so anzunehmen, wie sie sind, und sie dort »abzuholen«, wo sie stehen. Oder während einer therapeutischen Stunde sitzen. »Der Individualpsychologe begreift die Selbstentfaltung des Individuums, oder deren Scheitern, als untrennbar verbunden mit dem sozialen Umfeld, von dem es her geprägt wird und auf das es aktiv antwortend zurückwirkt. Die Individualpsychologie ist geeignet, sowohl dem Heroenkult vorzubeugen als auch der hoffnungslosen Auffassung entgegenzuwirken, derzufolge das Individuum nichts anderes sei als das Ensemble der gesellschaftlich-historischen Wirklichkeit.«12

Nun ist nicht viel Originalmaterial von ihm erhalten geblieben, mehrere laufende Meter in Archivboxen in der Library of Congress in Washington, D. C., Unterlagen einer sehr guten Bekannten in London, Dokumente in Einrichtungen in Mitteleuropa. Er pflegte Korrespondenz nach deren Beantwortung wegzuwerfen.13 Da er aber unablässig neue Kontakte knüpfte und neue Freundschaften schloss, kommt eine Fülle an durch Erinnerungssphären schwirrenden Anekdoten dazu.14 Doch: »Wo die Anekdote um sich greift, ist die Wahrheit schwerlich noch zu finden.«15 Alfred Adlers Leben ist überzogen von Zuschreibungen, beeinflusst von subjektiven Augenzeugenberichten und teils falschen Berichten, verfärbt durch Erinnerungen von Kontrahenten und Widersachern. Eine nicht geringe Rolle dabei spielte die Presse, die Fehlerhaftes kolportierte. So schrieb die New York Times, als der Schweizer Psychologe C. G. Jung 1961 starb, dieser habe den Begriff »Minderwertigkeitskomplex« geprägt. Was falsch war. Schon die Londoner Tageszeitung The Times hatte 1939 Sigmund Freud in einem langen Nachruf als Vater des Minderwertigkeitskomplexes gewürdigt.16 Was ebenso falsch war. Denn es war Adler, der diesen Begriff aufbrachte.

Die Richtungen der Historiographie sind gewunden. Fast niemals bewegt sie sich unabgelenkt geradeaus, selten ohne Unwucht. Nicht wenige Zwischen-Ergebnisse steuern wenig bis gar nichts zu einer in sich organisch und sinnvoll abgeschlossenen Lebenseinheit bei.17 Robert Musil fand dafür ein Bild. »Der Weg der Geschichte«, schrieb er in Der Mann ohne Eigenschaften, »ist also nicht der eines Billardballs, sondern er ähnelt dem Weg der Wolken, ähnelt dem Weg eines durch die Gassen Streifenden, der hier von einem Schatten, dort von einer Menschengruppe oder...

Erscheint lt. Verlag 18.11.2019
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Esoterik / Spiritualität
Schlagworte Biografie • Biographien • Carl Gustav Jung • eBooks • Individualpsychologie • Menschenkenntnis • Minderwertigkeitskomplex • Mittwochs-Gesellschaft • Pädagogik • Psychologie • Psychosomatik • Sigmund Freud • zweite Wiener Schule der Tiefenpsychologie
ISBN-10 3-641-21817-9 / 3641218179
ISBN-13 978-3-641-21817-1 / 9783641218171
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