Das Bücherhaus (eBook)

Eine philosophische Liebesgeschichte

(Autor)

eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
352 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-21039-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Bücherhaus -  John Kaag
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»Dieses Buch kann Ihr Leben verändern!«, Wall Street Journal.
Als der junge Philosophieprofessor John Kaag im Hinterland von New Hampshire die vergessene Bibliothek von William Ernest Hocking, einem der letzten großen amerikanischen Denker entdeckt, traut er seinen Augen kaum. Unter den halb verfallenen und vermoderten Bänden findet er zahlreiche Schätze: handgeschriebene Notizen von Walt Whitman, annotierte Bücher aus dem Besitz von Robert Frost, zahllose Briefe von Pearl S. Buck - und sogar dutzende Erstausgaben der Werke europäischer Geistesgrößen. Er beschließt, die Bücher zu restaurieren und begibt sich damit auf eine intellektuelle Reise durch die Geistesgeschichte Amerikas und seiner europäischen Grundlagen. Bald schon merkt er, dass die großen, lebensbejahenden Ideen in diesen Büchern auch ganz praktisch zu Werkzeugen für das Umkrempeln seines eigenen Lebens verwendet werden können. Ganz besonders, als sich ihm eine brillante Kollegin anschließt und ihm bei der Arbeit am Bücherhaus hilft...

Dieses faszinierende Buch beinhaltet sowohl eine profunde Ideengeschichte Nordamerikas, als auch die mitreißende wahre Geschichte hinter der Entdeckung einer verschollenen Bibliothek. Eine bestens lesbare Autobiografie, die sich um die großen Fragen des Lebens dreht: Liebe, Freiheit, und welche Rolle das Denken spielen kann, wenn man sich selbst neu erfinden möchte.

John Kaag, Jahrgang 1981, ist Professor für Philosophie an der University of Massachusetts, Lowell. Er gilt als einer der spannendsten jungen Philosophen der USA und schreibt regelmäßig Artikel für Fachzeitschriften, aber auch für die »New York Times«, »Harper's Magazine« und viele weitere Magazine und Zeitungen. »Das Bücherhaus. Eine philosophische Liebesgeschichte« (en. Originaltitel: »AMERICAN PHILOSOPHY: A Love Story«) wurde 2016 u.a. vom »National Public Radio« zum Besten Buch des Jahres gekürt. Er lebt in der Nähe von Boston.

PROLOG: VIELLEICHT


Die Holden Chapel der Harvard Universität erschien mir immer als ein besonders passender Ort zum Sterben. Das kleine Backsteingebäude, das drittälteste der Universität, hat keine Fenster in der Fassade. Über seinem Eingang befinden sich vier steinerne Bukranien, Schmuckreliefs von Rinderschädeln mit Gehörn, von der Sorte, wie sie die Heiden einst an ihren Tempelfassaden anbrachten, um böse Geister fernzuhalten. Als William James am 15. April 1895 gebeten wurde, vor einem Publikum von jungen Männern in der Georgianischen Kapelle zu sprechen, war sie bereits mehr als hundertfünfzig Jahre alt, der passende Rahmen für den dreiundfünfzigjährigen amerikanischen Philosophen, um über die Frage nachzudenken, die er inzwischen für die tiefgründigste hielt: »Ist das Leben lebenswert?«

Sowohl mit dem Ort als auch mit der Frage wurde ich im Frühjahr 2008 immer vertrauter. Ich hatte Monate damit verbracht, Harvard auf der Suche nach den Ursprüngen der amerikanischen Philosophie zu durchstreifen. Ich war, ausgestattet mit einem Postdoktoranden-Stipendium der American Academy of Arts and Sciences, in Harvard – eine befristete Atempause von der anhaltenden Arbeitslosigkeit, die mir in den Augen meiner liebevollen, aber sehr praktisch veranlagten Familie nach dem Abschluss meiner Promotion in Philosophie sicher bevorstand –, und ich wollte diese unerwartete Gelegenheit, ihnen das Gegenteil zu beweisen, auf keinen Fall leichtfertig vergeben. Die Korridore in der Widener Library, nur ein paar Schritte von der Holden Chapel entfernt, sind insgesamt achtzig Kilometer lang. Im Herbst jenes Jahres legte ich die gesamte Strecke zurück. Als ich schließlich mit leeren Händen herauskam, trabte ich über den Yard zur Houghton Library, in der sich seltene Bücher und Manuskripte befinden, und durchforstete die persönlichen Unterlagen von Ralph Waldo Emerson und Charles Sanders Peirce. Immer noch nichts. Es war doch erst November, sagte ich mir: früh genug. Forschungsstipendien dienen der Forschung – und man forscht und forscht. Ich hockte mich in meine Arbeitskabine in der Widener Library und versuchte, mir das Manuskript aus den Rippen zu schneiden, das ich über die Verschmelzung des deutschen Idealismus des achtzehnten Jahrhunderts mit dem amerikanischen Pragmatismus schreiben sollte. Die Dinge gingen voran, wenn auch sehr langsam.

Aber dann, an einem Abend im Frühjahr 2008, gab ich auf. Die Forschungen aufzugeben hatte nichts mit dieser Arbeit selbst zu tun, sondern alles mit dem Gefühl, dass sie, wie alles andere in meinem Leben, wirklich keine Bedeutung hatten. Für den Rest dieses Jahres in Harvard mied ich gewissenhaft seine Bibliotheken. Ich mied meine Frau, meine Familie, meine Freunde. Wenn ich überhaupt den Campus betrat, dann nur, um zur Holden Chapel zu gehen. Ich ging an ihr vorbei, setzte mich neben sie, las, an sie gelehnt, aß in ihrer Nähe mein Mittagessen, schlüpfte hinein, wenn ich konnte – sie wurde zu meiner Obsession. William James hatte, soweit ich es sah, die einzige Frage gestellt, die überhaupt von Bedeutung war. Ist das Leben lebenswert? Ich konnte sie nicht abschütteln, und ich konnte sie nicht beantworten.

Jahrhundertelang hatten Philosophen und religiöse Denker, vom Rabbi Maimonides aus dem zwölften Jahrhundert bis zum Engländer John Locke aus dem siebzehnten Jahrhundert, ungerührt den Glauben zum Ausdruck gebracht, dass das Leben, aus allen möglichen unwiderlegbaren Gründen, lebenswert sei. Im dreizehnten Jahrhundert hatte der Dominikanermönch Thomas von Aquin argumentiert, dass alle Wesen – ob nun Amöben oder menschliche Wesen – einen natürlichen Lebenszyklus besitzen, den ein höheres Wesen für sie vorgesehen hat. Keiner einzigen von Gottes Kreaturen stünde es zu, diesen zu unterbrechen. Immanuel Kants Argument, fünfhundert Jahre später, war weniger theologisch spekulativ. Vernunftwesen, sagte er, haben die Pflicht, ihre eigenen Vernunftkapazitäten nicht zu zerstören. In Kants Worten: »Der Suizid ist nicht deswegen abscheulich, weil ihn Gott verboten hat; im Gegenteil, Gott hat ihn verboten, weil er abscheulich ist.«

William James hatte über dieses Abscheuliche schon nachgedacht, seit er mindestens Anfang zwanzig war. Vielen Berichten zufolge hatte er 1871, im Alter von neunundzwanzig, den absoluten Tiefpunkt erreicht. Als ich 2008 draußen vor Holden Chapel auf dem immer noch gefrorenen Boden saß, musste ich ihm zustimmen – Schlimmeres als mein eigenes neunundzwanzigstes Lebensjahr war überhaupt nicht mehr vorstellbar. Einer der Skizzenblöcke, die ich in der Houghton Library gefunden hatte, enthielt ein Selbstportrait, das James mit roter Kreide gezeichnet hatte – ein junger Mann, sitzend, vornübergebeugt, und über der Gestalt eine Inschrift: HIER SITZEN DIE TRAUER UND ICH. Die meisten der Gründe, die seine philosophischen Vorgänger propagiert hatten, um am Leben zu bleiben, langweilten William James zu Tode. Für ihn waren sie wenig mehr als klischeehafte Maximen, ohne jede Relevanz für die Besonderheiten einer Depression oder Krise. Andererseits war ihm völlig klar, dass solche Argumente unzähligen Menschen als existenzieller Halt für ein glückliches Leben gedient hatten. Während seines Vortrags in der Holden Chapel beobachtete er in der Tat, dass sein Publikum, eine Gruppe der Young Men’s Christian Association Harvards, vor etwas, das er oft »geistige Gesundheit« nannte, geradezu strotzte, eine psychologisch-moralische Haltung, die die Schlussfolgerungen von Thomas von Aquin und Kant in der Praxis bestätigte.

Die YMCA Harvards war 1886 als eine evangelikale Gesellschaft gegründet worden. Die meisten Mitglieder von James’ Publikum glaubten, die Bibel sei das Wort Gottes und Jesus der Herr und Erlöser. Die Frage nach dem Wert des Lebens war für diese tiefreligiösen Männer bereits vor dem Anhören eines jeglichen Vortrags hinreichend beantwortet. Den Wert des menschlichen Lebens zu leugnen, war Blasphemie und die ultimative Form dieser Leugnung – der Selbstmord – eine unaussprechliche Sünde. Aber James empfand, dass diese Affirmation des menschlichen Lebens, so emphatisch wie universell sie auch war, die Erfahrung einer wachsenden Zahl von Menschen einfach ignorierte, die sich des Werts ihres eigenen Lebens nicht mehr ganz so sicher waren.

William James, als Vater der amerikanischen Psychologie und Philosophie zu diesem Zeitpunkt schon recht berühmt, war einer dieser Menschen – »mit einer kranken Seele«, wie er es nannte. Meine eigene Seele, beginnend mit meiner Adoleszenz, war nie besonders robust gewesen, und in jenem verregneten Frühjahr hatte sich das noch verschlimmert. James wusste etwas, das die Frommen oft vergessen: dass an den Wert des Lebens zu glauben, für viele Menschen ein ständiger Kampf ist. Er hatte in den 1870er-Jahren eine Überdosis von Chloralhydrat genommen, »nur so aus Spaß«, wie er seinem Bruder Henry schrieb, um zu sehen, wie nah er der Morgue, der Leichenhalle, kommen konnte, ohne tatsächlich dort zu landen. James war mit seiner Neugierde nicht allein. Ein Jahrzehnt später ging sein Kollege Edmund Gurney, Begründer der Society for Psychical Research, beim Experiment mit Leben und Tod zu weit und erprobte eine, wie sich dann herausstellte, tödliche Dosis von Chloroform. Als Reaktion auf Gurneys Tod schrieb James wieder einmal an seinen Bruder. »[Dieser Tod] lässt, was hier verbleibt, merkwürdig unbedeutend und vergänglich erscheinen, als ob das Gewicht der Dinge, so wie ihre Anzahl, ganz auf der anderen Seite läge.«

Die andere Seite. So wie: Nein. Das Leben ist nicht lebenswert.

Nein ist, wie sich herausstellt, eine Antwort, die an einem Ort wie der Holden Chapel viel für sich hat. Seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts fanden dort keine Gottesdienste mehr statt, und die nächsten hundert Jahre diente sie als Chemielabor und Seminarraum für die aufkeimende Harvard Medical School, wo man Leichname sezierte. Die Klinik Gross, ein Gemälde von Thomas Eakins von 1875, gibt uns einen Eindruck davon, wie man sich die Chirurgie zu dieser Zeit vorstellen muss. Darauf sind mehrere Ärzte zu sehen, die ein Kind oder einen jungen Mann operieren und ohne Handschuhe arbeiten, während aus dem Inneren der schwärenden Wunde am Oberschenkel ihres Patienten Eiter nach außen dringt. Die Mutter des Patienten sitzt entsetzt daneben und bedeckt ihr Gesicht beim vergeblichen Versuch, dem zu entgehen, was James nur allzu deutlich begriff: Am Ende unseres Lebens sind wir alle bloß ein Haufen stinkender Kadaver. James war die blutige medizinische Vergangenheit der Kapelle sicher bewusst, als er gemeinsam mit der YMCA über den Wert des Lebens nachdachte.

Am 11. März 2008 sah ich zu, wie mein Vater starb. Seine Leber war in einem schlechten Zustand. Seine Speiseröhre war völlig zerstört. Zu sagen, dass man ein Plattenepithelkarzinom der Speiseröhre hat, ist oft ein sehr umständlicher Weg zu sagen, dass man zu viel getrunken hat, was mein Vater getan hatte. Am Ende konnte er tragischer- und zugleich ironischerweise nicht einmal mehr schlucken. Dasselbe, was seine Leber und Kehle zerfraß, zerstörte auch seine Familie. Ich mochte ihn nicht allzu sehr. Und so überraschte ich mich selbst, als ich die Einladung meiner Stiefmutter annahm, ihm an einem verschneiten Abend in einem Krankenhaus in Buffalo, New York, beim Sterben zuzusehen. Aber da lag er, mit geschwollenen Händen, aufgequollenem Gesicht, ohne Atem – jemand aus Dr. Gross’ Klinik. Das alles kam mir wie ein grausamer Scherz vor. Vielleicht war das Leben lebenswert. Aber vielleicht lebte man bloß, um am Ende,...

Erscheint lt. Verlag 14.10.2019
Übersetzer Martin Ruben Becker
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel American Philosophy: A Love Story
Themenwelt Geisteswissenschaften Religion / Theologie
Schlagworte Amerika / USA • Autobiografie • Bibliophil • Bibliothek • eBooks • Entdeckung • Happinez • Irvin Yalom • Lebenshilfe • Liebe • Philosophie • Philosophiegeschichte • Pragmatismus
ISBN-10 3-641-21039-9 / 3641210399
ISBN-13 978-3-641-21039-7 / 9783641210397
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