Der Mantel -  Brigitte Jünger

Der Mantel (eBook)

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2019 | 1. Auflage
204 Seiten
Verlag Jungbrunnen
978-3-7026-5933-2 (ISBN)
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Fanette, 14, lebt mit ihrer Mutter in Paris. Ihr Nachbar ist Aron Schatz, 95. Fanette ist seit ihrer Kindheit mit Aron befreundet und hat von ihm Deutsch gelernt. Ein Schüler-Auslandsaufenthalt bringt sie nach Deutschland, in Aron Schatz' alte Heimat. In ihrem Gepäck ist ein Abholschein für einen Damenmantel, der den Krieg überdauert und den Aron ihr mitgegeben hat. Während Fanette in Deutschland ist, kümmert sich Moumouche, ihr Schulfreund, um Aron Schatz. Der alte Jude und der junge Araber freunden sich an. Aron beginnt, von seiner Vergangenheit und vom Krieg zu erzählen. In Deutschland versucht Fanette herauszufinden, was es mit dem Mantel auf sich hat und was im Zweiten Weltkrieg mit Arons Verwandten geschehen ist. Tatsächlich trifft sie im Dorf auf Menschen, die Arons Onkel und Tante noch gekannt haben. Und sie lernt die Enkelin des Schneiders kennen, der für Arons Tante den Mantel angefertigt und aufbewahrt hat.

Brigitte Jünger 1961 in Köln geboren, studierte Germanistik, Kunstgeschichte und Psychologie. Seit 1998 arbeitet sie als Autorin und freie Journalistin für diverse Rundfunkanstalten in Deutschland. Sie macht Hörfunkbeiträge für Kinder und Erwachsene zu Themen wie Musik, Kunst, Religion, Zeitgeschichte, Naher Osten und das Zusammenleben verschiedener Kulturen.

Brigitte Jünger 1961 in Köln geboren, studierte Germanistik, Kunstgeschichte und Psychologie. Seit 1998 arbeitet sie als Autorin und freie Journalistin für diverse Rundfunkanstalten in Deutschland. Sie macht Hörfunkbeiträge für Kinder und Erwachsene zu Themen wie Musik, Kunst, Religion, Zeitgeschichte, Naher Osten und das Zusammenleben verschiedener Kulturen.

2


Fanette, vierzehn Jahre alt, erwartungsvoll, was die Zukunft angeht, aber besorgt an diesem Morgen, wohnt in Paris, 12. Arrondissement, Rue de Bercy No. 2, dritte Etage rechts


Das Klopfen! Wo war das Klopfen in dieser Nacht gewesen? Fanette schlug die Augen auf und betastete mit den Fingerspitzen die Wand hinter ihrem Rücken.

Auf der anderen Seite der Wand, in der Wohnung direkt nebenan, stand das Bett von Monsieur Schatz. Ein altes Bett aus dunklem Holz, das am Kopf- und am Fußende geschwungen war, wie eine in der Bewegung erstarrte Meereswelle. Dazwischen türmten sich Kissen und Decken, in denen der schmale alte Mann zu versinken drohte. Seine klaren, tiefblauen Augen im faltigen Gesicht waren die Bojen, die ihn an der Oberfläche hielten.

Bist du da?

Normalerweise sandte Monsieur Schatz regelmäßig Morsezeichen durch den riesigen schwarzen Ozean der Nacht, um Fanette und sich selbst zu vergewissern, dass er noch da war.

Hatte er durchgeschlafen?

Es wäre das erste Mal in der ganzen langen Zeit gewesen, die Fanette den Nachbarn schon kannte. Praktisch war das ihr ganzes Leben lang, auf jeden Fall aber das ganze Leben, an das sie sich erinnerte. Seine quälende Schlaflosigkeit gehörte ebenso dazu wie sein dichtes weißes Haar und der siebenarmige Leuchter auf der Kommode.

„Hypnos, der Gott des Schlafes, flieht vor den Dingen, die in meinem Kopf herumspuken“, pflegte Aron Schatz zu sagen. Aber das hörte sich so sanft und verständnisvoll an, als wäre eher der Schlaf zu bedauern als der alte Mann selbst.

Fanette musste lächeln. In der Welt des Monsieur Schatz gab es keine toten Dinge. Auch die Sorgen und sogar die Angst waren lebendige Wesen, die sich abwechselnd zu ihm gesellten, auf seiner Bettkante hockten oder zu ihm sprachen.

Bei ihm konnten sich Bäume Geheimnisse zuflüstern, Kochtöpfe erzählten wundersame Geschichten und sogar der Hund des Gemüsehändlers hatte etwas mitzuteilen, wenn man nur in der Lage war, ihn zu verstehen.

Früher, als Monsieur Schatz das Haus noch verließ, hatte sich Fanette jeden Tag davon überzeugen können, wenn sie zusammen mit ihm eine Runde durchs Viertel gemacht hatte. Rue de Dijon, Rue Joseph Kessel bis in den Parc de Bercy und manchmal bis an die Seine. Unter einem der Bäume saßen sie dann und Monsieur Schatz wies nach oben auf eine Stelle am Baumstamm, wo einmal ein Ast gewesen sein musste. Jetzt war da nur noch eine verharzte Stelle, die aussah wie eine große Ohrmuschel.

„Jede Nacht bekommt der Baum Besuch von jemandem, der etwas auf dem Herzen hat und mit niemandem darüber sprechen kann“, hatte Monsieur Schatz ihr erzählt und Fanette hatte sich vorgenommen, irgendwann einmal in der Nacht hierherzukommen, um zu sehen, wie jemand aussah, der mit niemandem sprechen konnte. Dann wanderten sie weiter durch den Park und die Straßen und schließlich zurück nach Hause, durch die Rue George Gershwin, in der Monsieur Schatz immer ein ganz bestimmtes Lied pfiff, weiter durch die Rue de Chablis bis in die Rue de Bercy Nummer 2. „Ströfeln“ nannte er das, ein Wort aus seiner Muttersprache, das sich nicht ins Französische übersetzen ließ. Es bedeutete so viel wie promenieren oder einfach spazieren gehen. Er hatte ihr dieses und unendlich viele andere deutsche Worte beigebracht, sodass die Sprache ihr mühelos über die Lippen ging.

Aron Schatz war Nachbar, Großvater und Vater in einer Person. Vertraut seit Anbeginn, doch immer umgeben von einer riesigen Portion Freiheit, die er jedem Menschen ließ.

Fanette tippte mit ihren Fingerspitzen gegen die Wand, ein leichtes, zaghaftes Klopfen, das nach dem Freund forschte, doch unbeantwortet blieb.

War das der Augenblick? Der eine, der unvorstellbare Augenblick?

Fanette versuchte, das Unaussprechliche nicht zu denken. Stattdessen schlug sie energisch das Plumeau zurück und schwang die Beine aus dem Bett. Auf der Kante der Matratze blieb sie sitzen, stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel und legte den Kopf in beide Hände. Halb sieben.

Sollte sie den Schlüssel nehmen und nach nebenan gehen? Nachmittags, wenn sie aus der Schule kam und Maman, wie immer, nicht zu Hause war, war das normal. Aber morgens um halb sieben? Fanette fürchtete, sie könnte Monsieur Schatz bei irgendetwas überraschen, das nur ihm gehörte. Wie er zum Beispiel in einer Ecke seines Wohnzimmers stand und, vertieft in unverständliches Gemurmel, seinen Oberkörper vor- und zurückwiegte. Sobald sie daran dachte, erfasste Fanette der gleiche Schauder wie damals, als sie ihn zum ersten Mal so gesehen hatte.

War es im letzten Jahr gewesen? Da hatte sie ihren Pulli nebenan bei Monsieur Schatz liegen gelassen. Als sie ihn am nächsten Tag holen wollte, machte der Nachbar nicht auf. Da hatte sie mit ihrem Schlüssel die Tür geöffnet und war in die Wohnung gegangen.

Fanette hatte den Flur betreten und nichtsahnend das Wohnzimmer erreicht. Im nächsten Augenblick war sie erstarrt, als sie ihn dort in der Ecke neben dem Fenster stehen sah, um die gebeugten Schultern ein Tuch gelegt, das an den Enden blau gestreift war. Er hielt ein Buch in den Händen und wippte langsam vor und zurück. Es war nicht zu erkennen, ob er Fanette bemerkt hatte oder nicht.

Sie aber hatte sofort verstanden, dass er vollkommen versunken war in einer unsichtbaren Welt, zu der nur er den geheimen Zugang besaß. Eine unbekannte Energie umfasste ihn ganz und gar, als befände er sich in einer Art Raumschiff, das ihn an einen unbekannten Ort entführte, wobei sein Körper doch gleichzeitig in diesem Zimmer geblieben war. Er hatte Geheimnisse, über die er noch nie gesprochen hatte.

Fanette hatte die Erstarrung, in die sie damals für einige Sekunden gefallen war, abgeschüttelt und war auf Zehenspitzen wieder aus dem Zimmer hinausgeschlichen.

Ob Monsieur Schatz sie bemerkt hatte oder nicht, darüber verlor er kein Wort, deshalb wusste sie bis heute nicht, ob sie tatsächlich unsichtbar geblieben war oder ob er sie nur nicht ein zweites Mal in eine peinliche Situation hatte bringen wollen.

Drei Minuten nach halb sieben.

Fanette warf die zerzausten schwarzen Haare nach hinten und verscheuchte die Gedanken. In diesem Augenblick gab ihr Handy, das neben dem Bett auf dem Boden lag, ein schrilles Pling von sich. Moumouche! Wer sonst schrieb so früh am Morgen schon eine Nachricht?

Eiskonservierung – die Überlebenslösung!

Okay? Was sollte das jetzt heißen? Fanette brauchte gar nicht nachzufragen. Moumouche hatte mit Sicherheit wieder irgendeinen Artikel in der Zeitung entdeckt, von dem er ihr erzählen wollte, wenn er sie nachher abholen kam.

Fünf Minuten nach halb sieben, jetzt musste sie endgültig aufstehen. Noch einmal zögerte Fanette. Diesmal lauschte sie Richtung Flur und horchte darauf, ob die Wohnungstür nicht ins Schloss fallen würde. Jean-Claude? Philippe? Luc? Mamans Liebhaber zogen es üblicherweise vor, ungesehen in den Tag zu verschwinden. Fanette war das mehr als recht. Sie schüttelte sich bei dem Gedanken, morgens einem Mann am Frühstückstisch begegnen zu müssen, der womöglich unrasiert war oder, noch schlimmer, nach einem übertrieben starken Rasierwasser roch.

Maman wusste das, obwohl sie nie darüber gesprochen hatten. Vielleicht zog sie dieses Verschwinden der Männer genauso vor wie Fanette. Reden war weiß Gott nicht ihre Stärke. Jedenfalls nicht, wenn es um persönliche Dinge ging. In ihrem Geschäft hingegen konnte sie quasseln, bis einem die Ohren abfielen. Es war ja auch viel einfacher, einen Kunden über den Unterschied zwischen Goldlegierung und Silberimitat aufzuklären, als Fanette ständig neue „Freunde“ vorstellen zu müssen. Maman liebte das Pièces d’Or, den piekfeinen Laden in der Rue de la Paix, mehr als alles andere auf der Welt. Er war ihr Heiligtum, dabei war sie dort nur angestellt, aber sie fühlte sich wie die eigentliche und rechtmäßige Besitzerin. Jedes Schmuckstück in diesem Geschäft hatte eine riesige Vitrine ganz für sich allein. Fanette musste jedes Mal lachen, wenn sie an die maßlose Platzverschwendung dachte. Das allein machte ein Viertel der unglaublichen Preise aus, die der Kram kostete.

Kein Laden, in den Moumouche überhaupt nur eingelassen worden wäre.

Ja, man musste eingelassen werden! Ein bulliger Mann im schwarzen Anzug stand vor der Tür und ließ nur diejenigen hinein, die ihm vertrauenswürdig erschienen.

Ob er auch schon mal bei ihnen zu Hause übernachtet hatte? Fanette hatte keine Ahnung und war froh, dass Maman sie damit verschonte.

Auf dem Weg ins Badezimmer sah sie durch das Milchglas der Küchentür den Schatten ihrer Mutter an der Anrichte, vermutlich mit der Kaffeetasse in der Hand. Ob sie schon auf Fanní, mit Betonung auf dem i, wartete?

Wenn sie...

Erscheint lt. Verlag 26.2.2019
Verlagsort Wien
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte Antisemitismus • Araber • Eine Handvoll Karten • Empathie • Freundschaft • Fürsorge • Generationen • Holocaust • Juden • Jugendbuch ab 13 • Multikulturalität • Mutter-Tochter-Konflikt • Shoa • Zeitzeugen • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-7026-5933-1 / 3702659331
ISBN-13 978-3-7026-5933-2 / 9783702659332
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