Der Gott am Ende der Straße (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
384 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-1691-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Gott am Ende der Straße -  Louise Erdrich
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Hat die Menschlichkeit noch eine Chance, wenn die Menschheit am Abgrund steht?  

Eine junge Frau kämpft um ihr eigenes Leben und das ihres ungeborenen Kindes - in einer Welt, in der selbst auf die Naturgesetze kein Verlass mehr ist und die Angst vor der Katastrophe das Handeln der Menschen bestimmt.

Pulitzer Preisträgerin Louise Erdrich entwirft die furchteinflößende Vision einer düsteren Zukunft und zugleich eine bewegende, gegenwärtige Meditation über weibliche Autonomie und die Grundrechte des Menschen. 

»Louise Erdrich konstruiert eine rasante und spannungsreiche Story. Es wird deutlich, dass die vielfach ausgezeichnete Autorin ihr Handwerk beherrscht.« Deutschlandfunk 

»Louise Erdrich gehört zu den besten amerikanischen Autorinnen ihrer Zeit.« Philip Roth 



Louise Erdrich, geboren 1954 als Tochter einer Ojibwe und eines Deutsch-Amerikaners, ist eine der erfolgreichsten amerikanischen Gegenwartsautorinnen. Sie erhielt den National Book Award, den PEN/Saul Bellow Award und den Library of Congress Prize. Louise Erdrich lebt in Minnesota und ist Inhaberin der Buchhandlung Birchbark Books. Im Aufbau Taschenbuch sind ihre Romane 'Liebeszauber', 'Die Rübenkönigin', 'Der Club der singenden Metzger', 'Der Klang der Trommel', 'Solange du lebst', 'Das Haus des Windes' und 'Ein Lied für die Geister' lieferbar.

15. August

Ich habe gespürt, wie du dich bewegt hast. Deine Knochen werden fester, dein Hirn hat jetzt Stereoempfang – von deinen Ohren. Also kannst du mich hören, du hörst meine Stimme. Du hörst mich beten – auf der Fahrt und noch als ich mein Haus betrete. Du hörst, wie ich dir den Anfang meines Briefes vorlese. Ich will dir alles erzählen, Stück für Stück und Tag für Tag.

Ein Anfang:

Ich nehme den Umschlag mit deinem Ultraschallbild zur Hand. Ich habe Angst davor, es anzuschauen, hole es aber trotzdem heraus und drücke die Kanten flach. Das Bild sagt mir nicht viel. Auch die Beschriftungen kann ich nicht deuten. Sorgfältig klebe ich das erste Bild von dir auf die Vorderseite dieser Kladde und überziehe es mit einer Schutzschicht aus transparentem Paketklebeband. Aber ich bin desillusioniert, verwirrt. Ich dachte, Frauen lieben und bewahren diese Bilder, und vielleicht entwickele ich ja noch ein Gefühl für die grauweißen Schemen von Gliedmaßen und Kopf, die mir so seltsam und gewöhnlich zugleich vorkommen.

Unser Haus ist ein Ranchhaus mit zwei Schlafzimmern, einem wunderbar chaotischen Garten hinten und einem ebenso verwilderten davor. Der Eingang ist weit von der Straße zurückversetzt. Ich konnte es mir nur leisten, weil die Garage fehlte, die auch jetzt erst halb fertig ist. Von außen ist es einfarbig beige und von innen ähnlich gestrichen. Umgestaltet habe ich nur die Küche – in freundlichem Gelb – und die Abstellkammer  – in Spaceshuttle-Weiß. Alle Wände, die ich wärmegedämmt habe, liegen offen – die Gipsplatten sind da, aber nicht angeschraubt. Alles noch ein Work in Progress. Trotzdem ist es unser Heimathafen, unser Schlupfwinkel, ein Ort, an dem ich das namenlose Wesen sein darf, als das ich mich empfinde, eine zweieinhalb Jahrzehnte alte Ansammlung von Ticks und Schrullen, eine biochemische Maschine zum Nachdenken über das eigene Denken, eine Suchende, die genauso fest an die Gesetze der Physik glaubt wie an den Heiligen Geist, die genauso eifrig Hans Küng liest (meinen Lieblingstheologen, der von Ratzinger gerügt, aber vom jetzigen Papst hoch gelobt wurde), wie sie den sieben Ojibwe-Tugenden folgt – Wahrhaftigkeit, Respekt, Liebe, Tapferkeit, Großzügigkeit, Weisheit und Demut –, die ich allerdings nur aus Büchern kenne und nicht etwa von einem echten Ojibwe.

Ich setze mich auf die Bettkante und ziehe die Sportschuhe aus, indem ich erst einen, dann den anderen Fuß auf meinen Oberschenkel lege. Dann knie ich mich wie immer vor das Bett, nehme den Rosenkranz vom Bettpfosten und bete zur Beruhigung ein paar Ave-Marias. Ich krieche unter die Decke und schlafe zwei Stunden. Du trittst und schlägst Purzelbäume, und ich träume, wie man es im Hellen tut – anfallartige, hektische Träume über Ängste und die Schaubilder auf CNN. Das Telefon weckt mich, ein altmodischer analoger Festnetzapparat. Sein Klingeln hört sich an, als könnte dein Vater dran sein, und ich nehme nicht ab. Du schaukelst in meiner Hüftwiege hin und her. Ich setze mich auf und trinke ein Glas abgestandenes Wasser. Inzwischen ist später Vormittag. Ich nehme den Aufsatz zur Hand, den ich vor einer gefühlten Ewigkeit zu lesen angefangen habe: »Mariens Empfängnis durch das Ohr«. Es ist eine Auseinandersetzung mit der Auffassung, Gottes geflüsterter Atem habe die Fleischwerdung ausgelöst. Nach zwanzig Minuten lege ich den Aufsatz wieder weg.

»Was hat er bloß gesagt?« Die Zimmerdecke ist wolkig angeschliffen, stellenweise fast blau geschrubbt wie ein echter Himmel. »Was war das für ein Wort, das Maria so umgehauen hat?«

Das Wort fasziniert mich, jetzt erst recht – die Vorstellung, ein Wort könnte so überraschend, so machtvoll, ja so himmlisch sein, dass es, einmal ausgesprochen, den Körper einer Frau mit einer heiligen Schwangerschaft erfüllt.

Ich weiß natürlich, dass die meisten Theologen die Inkarnation nicht buchstäblich auf eine konkrete Vokabel oder Äußerung zurückführen. Das Wort ist eine Anschauung, eine Vorstellung von Gott. Küng betont, dass man unter der Inkarnation nicht nur den mathematischen oder mythischen Zeitpunkt der Geburt oder der Empfängnis Jesu verstehen sollte, sondern das Konzept auf sein Leben und Sterben insgesamt beziehen muss. Trotzdem beschäftigt mich die Vorstellung dieses konkreten Wortes und lässt mich glauben, dass es außerhalb der realen menschlichen Erfahrung mit gesprochenen und gedachten Worten eine Sprache oder auch eine Vorform der Sprache gibt, deren Worte so unvorstellbar heilig sind, dass sie nicht einmal ausgesprochen werden können, geschweige denn verstanden.

Vielleicht wirst du diese Sprache beherrschen. Vielleicht haben wir sie in unserer heutigen Entwicklungsstufe verlernt. Vielleicht träumst du gerade in dieser Sprache. Und vielleicht gibt es in ihr ein Wort, das die Geschichte der menschlichen Existenz verändert hat. Das den Dingen tief eingeschrieben ist, das in den Quantenzuständen, in den genetischen und synaptischen Codes steckt, ein Wort, das allen Wesen und allem Leben gesagt hat: genug.

Manchmal rasen meine Gedanken so schnell, dass ich kaum Schritt halte, und deshalb bin ich auch so froh, allein zu leben. Keine Ahnung, was ich tun soll, wenn du mal hier bist. Auf deine Windeln schreiben? Auf dich? Überall kritzle ich Nachrichten hin, Notizen und Ideen für die nächste Ausgabe der Zeal. Irgendwie muss ich die niederschmetternde Lage in das halbfertige Heft einfließen lassen; ich muss mir ein Thema überlegen. Mehrere Beiträge und ein Dutzend akademische Aufsätze muss ich durchgehen und abwägen, ob ich sie gebrauchen kann. Wahrscheinlich werde ich wie immer auch selbst einen Beitrag schreiben, unter Pseudonym.

Zum Mittag koche und esse ich einen ganzen Beutel gefrorener Erbsen mit Butter, trinke zwei Gläser Milch, brate zwei vegetarische Burger und lege sie mit Gewürzgurkenscheiben, Senf, Ketchup und – warum auch nicht – einer Zwiebel zwischen zwei Scheiben Brot. Als ich in die Zwiebel beiße, wird mir plötzlich klar, weiß ich plötzlich einfach, dass das Thema dieser Ausgabe der Name meiner Kirche und der Gegenstand des Ohrensexaufsatzes sein wird: Inkarnation. Das Heft soll die Bandbreite der Überlegungen ausloten, wie das Göttliche Fleisch werden konnte. Was könnte besser zu unserer aktuellen Lage passen? Jetzt, wo wir fürchten müssen, dass unser eigener göttlicher Funke, unser Bewusstsein, unsere Seele, verloren geht?

Mich packt frische Tatkraft, und ich räume die Küche auf, wasche sämtliches Geschirr und trockne es ab, und als alles an seinem Platz ist, gehe ich in mein Arbeitszimmer.

Als Schreibtisch habe ich einen großen, stabilen Klapptisch in der Abstellkammer aufgebaut. Auf der anderen Seite des Raums stehen die Waschmaschine, der Trockner und deckenhohe Stahlregale voller weißer Archivboxen, die säuberlich mit den Namen und Daten meiner Projekte und der älteren Ausgaben von Zeal beschriftet sind. Es gibt nur zwei kleine rechteckige Fenster oben in der westlichen Wand. Dafür habe ich an der Decke Vollspektrum-Leuchtröhren und noch zwei Tageslichtlampen an beiden Enden meines Schreibtischs. Wenn ich sie alle anschalte, ist das Zimmer strahlend weiß, und nur mein blauer Computermonitor sorgt für einen Klecks Farbe. Auf Glens Rat hin habe ich Isolierband über die eingebaute Kamera geklebt. Mir kommt es absurd vor, aber ich musste es ihm versprechen.

Ich bin das Aussprechen meines Namens. Ich lehne mich im Stuhl zurück und starre auf die weiße Wand. Dieser Vers aus dem gnostischen Text Der Donner – der vollkommene Verstand ist der letzte Satz, den ich vor meiner Fahrt nach Norden hingeschrieben habe. Es sieht mir gar nicht ähnlich, außerkanonische Schriften heranzuziehen, und außerdem beunruhigt mich dieses Traktat. Aber ich fühle mich auch dazu hingezogen und habe es so oft gelesen, dass ich ganze Passagen auswendig kenne. Denn ich bin die Erste und die Letzte. Ich bin die Geehrte und die Verachtete. Ich bin die Hure und die Heilige. Ich bin die Frau und die Jung frau. Vielleicht liegt es am Tonfall, denke ich, an der hochmütigen, lebendigen Stimme, die mit Gegensätzen im Kopf der Leser jene romantische Dissonanz erzeugt, die sich einstellt, wenn man versucht, das Unbegreifliche zu begreifen. Ich bin die Hebamme und die, die nicht gebiert. Ich bin der Trost meiner Wehen. Ich bin die Braut und der Bräutigam. Und es ist mein Ehemann, der mich gezeugt hat. Ich bin die Mutter meines Vaters …

Diese Stimme ist tröstlich. Sie ist so rückhaltlos modern, so zeitlos, dass sie perfekt in diese Zeit passt. Denn wer weiß, vielleicht bin ich ein wandelnder Widerspruch, vielleicht zwei Spezies in einem Körper. Niemand kann es sagen. Eine Frau, ein Streber, ein Nerd, eine schwangere Uniabbrecher-Dilettantin, die nicht nur Jahrtausende in sich vereint, sondern Epochen. Außerdem eine unsichere Ojibwe, eine grünschnäbelige Katholikin, ein überehrgeiziges Hirn, das immer neue Dramen ausheckt. Ständig häufe ich triviale Gedanken an und kann sie nicht von den wichtigen unterscheiden – aber die Inkarnation, die ist wichtig. Die ist relevant, denke ich.

Vielleicht erleben wir gerade eine umgekehrte Inkarnation. Einen Prozess, bei dem der Geist des Göttlichen aus  der physischen Natur des Menschen verschwindet. Vielleicht wird der göttliche Funke, den wir als Bewusstsein erleben, in die uferlose Schöpferkraft des wimmelnden, wandlungsfähigen Lebens zurückgesogen. Ein gewaltiger Wunsch erfasst mich, eine leidenschaftliche Neugier. Ich will über meine Lebensspanne...

Erscheint lt. Verlag 15.3.2019
Übersetzer Gesine Schröder
Sprache deutsch
Original-Titel Future Home Of The Living God
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Adoption • American Natives • Dystopie • Feministisch • First Nations • Frauenrechte • Identität • Indianer • indigen • Literatur • Margaret Atwood • Margarete Atwood • Mutterschaft • Native Americans • Rassismus • Sinnsuche • Zukunft
ISBN-10 3-8412-1691-9 / 3841216919
ISBN-13 978-3-8412-1691-5 / 9783841216915
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