Krokodilstränen (eBook)
224 Seiten
Unionsverlag
978-3-293-30976-0 (ISBN)
Mercedes Rosende (*1958 in Montevideo, Uruguay) studierte Recht und Integrationspolitik. Neben ihrer schriftstellerischen Arbeit ist sie als Anwältin und Journalistin aktiv. Für ihre Romane und Erzählungen wurde sie mehrfach ausgezeichnet. 2005 erhielt sie den Premio Municipal de Narrativa für Demasiados Blues, 2008 den uruguayischen Nationalliteraturpreis für La Muerte Tendrá tus Ojos und 2014 den Código Negro für Falsche Ursula. 2019 wurde sie für ihren Roman Krokodilstränen mit dem LiBeraturpreis ausgezeichnet. Sie lebt in Montevideo.
Mercedes Rosende (*1958 in Montevideo, Uruguay) studierte Recht und Integrationspolitik. Neben ihrer schriftstellerischen Arbeit ist sie als Anwältin und Journalistin aktiv. Für ihre Romane und Erzählungen wurde sie mehrfach ausgezeichnet. 2005 erhielt sie den Premio Municipal de Narrativa für Demasiados Blues, 2008 den uruguayischen Nationalliteraturpreis für La Muerte Tendrá tus Ojos und 2014 den Código Negro für Falsche Ursula. 2019 wurde sie für ihren Roman Krokodilstränen mit dem LiBeraturpreis ausgezeichnet. Sie lebt in Montevideo.
1
Müde sind sie. Vom frühen Aufstehen, von der Fahrt, vom Warten. Sie versuchen, die erniedrigende Einlasskontrolle zu verdrängen, beim Reinkommen sehen sie sich um, dann sehen sie sich an, messen sich mit dem Blick, aber wozu? Überall sehen die Frauen das Gleiche, das schlecht verdaute Frühstück im Magen, die Ratlosigkeit, die Armut, den Hass. Im Inneren des Besucherpavillons stehen Tische und Stühle aus Plastik, sie sind in losen Gruppen angeordnet, die neu arrangiert, umgestellt, aufgelöst werden, aufgehoben und mit lautem Getöse zu Boden gestellt. Der Raum ist ziemlich groß, etwa fünfzig mal zwanzig Meter, das Wellblechdach nicht richtig dicht. Bei jedem kleineren Schauer tropft es durch, der Boden nackter Beton, die Wände mit Namen, Fürbitten und Liedtexten beschmiert, dazu Herzen, Kreuze, Geschlechtsteile. Durch das einzige Fenster sieht man auf den ebenfalls betonierten Hof hinaus, der in den schmutzig grauen Himmel ohne Horizont übergeht. An der Nordseite sind die Toiletten, die Tür bei den Männern ist ausgehängt, lehnt seitlich am Rahmen und verdeckt den Zugang nur notdürftig. Hier riecht es besonders streng.
Am Eingang steht ein Polizist, der mit einem Stöckchen zwischen seinen Zähnen herumstochert, ab und zu spuckt er Holzstückchen oder Speisereste aus.
Germán hat sich in einer düsteren Ecke niedergelassen, so weit wie möglich von den anderen Häftlingen entfernt. Er wartet auf seinen Anwalt. Sein blauer Overall sieht ziemlich abgetragen aus, er hat graue Bartstoppeln, die Fäuste geballt und einen Kloß im Hals.
Die Frauen öffnen alte Eisdosen, in denen sich jetzt Nudelsuppe, faserige Schnitzel oder Polenta mit Tomatensauce befinden, sie holen Bananen, Mate- und Tabakpäckchen, Mandarinen, Zitronen und kleine Tüten Brausepulver aus ihren Taschen. Untermalt wird das Ganze vom dumpfen Geräusch eines Fußballs, der draußen immer wieder auf dem harten Boden aufprallt, und vom anschwellenden Stimmpegel der Unterhaltungen. »Hier drin ist die Welt noch ein bisschen beschissener«, sagt sich Germán.
Und wer kommt da angestiefelt, mit gegeltem Haar, bordeauxroter Krawatte und Ray-Ban-Brille? Doktor Antinucci. Die kleine Narbe über der rechten Braue hat er bestimmt von einem Faustschlag, die Sache muss aber lange her sein, die Haut ringsherum ist glänzend und glatt, offenbar schon seit Jahren verheilt. Der Doktor ist weder alt noch hässlich, kommt einem aber trotzdem so vor. Am auffälligsten sind seine übermäßig großen und übermäßig vortretenden, verwaschen grauen Augen unter den fleischigen Lidern. Manchmal ziehen sie sich zu kalten, schmalen Schlitzen zusammen. Das ist jetzt, hinter den dunklen Gläsern der Sonnenbrille, und erst recht im Halbdunkel des Besucherpavillons, aber nicht zu sehen. Sein Köfferchen braucht er an der Einlasskontrolle nicht zu öffnen. Nie.
»Bitte schön, Herr Doktor.«
»Danke, Jungs.«
Germán hört seine festen entschlossenen Schritte, sie kommen immer näher – es ist, als folgte Antinucci den Klängen eines Marsches, der im Inneren seines Kopfs ertönt –, Germán sieht auf, und da steht er auch schon vor ihm. Nach einem knappen soldatischen Kopfnicken schnellt zur Begrüßung seine Rechte hervor. Germán muss bei dem Anblick an ein aufklappendes Springmesser denken. Der Händedruck des Anwalts ist dagegen überraschend schlaff, eine flüchtige kalte Berührung, und sogleich zieht die Qualle sich wieder zurück. Antinucci rückt sorgfältig den Stuhl ihm gegenüber zurecht, lässt sich darauf nieder, klappt das Lederköfferchen auf, holt eine ebenfalls in Leder gebundene Mappe heraus, legt sie vor sich, richtet sie rechtwinklig zur Tischkante aus, schlägt sie auf und entnimmt ihr mehrere Blätter. »Das Mäppchen«, sagt sich Germán beim Anblick des abgewetzt fleckigen Einbands, den er bei einem früheren Besuch schon einmal gesehen hat. »Mein Ordner«, nennt ihn Antinucci. Offensichtlich hütet er ihn wie seinen Augapfel. Germán verspürt einen leisen Schauder, warum auch immer. Die getönte Ray-Ban bildet eine undurchdringliche Mauer zwischen ihnen. Germán weiß nicht, ob die Augen des Anwalts ihn ansehen oder nur damit beschäftigt sind, die Gegenstände millimetergenau anzuordnen, die er auf dem Tisch ausbreitet. Außer dem Ordner und den Blättern sind das noch ein Bleistift, ein blauer und ein roter Kugelschreiber, ein Mobiltelefon, ein Radiergummi und die Armbanduhr, die Antinucci abstreift und so am oberen Ende des Ganzen platziert, dass das Zifferblatt aufgerichtet und ihm zugekehrt ist. Germán ist der Gedanke lieber, dass der Anwalt ihn nicht ansieht. Seinerseits bemüht er sich, den Blick nicht auf dessen Brillengläser zu richten, als könnte er sich auf diese Weise den Worten entziehen, die er sich, wie er weiß, zuletzt dennoch wird anhören müssen.
Antinucci klappt das Lederköfferchen zu und stellt es genau parallel zu seinem Stuhl auf den Boden, schlägt die Beine übereinander, zieht eine Tüte Bonbons aus seiner Jackentasche, nimmt eins heraus und wickelt es bedächtig aus, steckt es sich in den Mund und faltet das Papier zweimal. »Sie sind ein Loser«, sagt er und lässt sich dabei jede Silbe auf der Zunge zergehen.
Ohne das Gesicht abzuwenden, steckt er das zusammengefaltete Bonbonpapier in die Tüte und die Tüte wieder in die Jackentasche, holt anschließend ein Päckchen Zigaretten und ein Markenfeuerzeug hervor, zündet sich eine Zigarette an, zieht mehrmals daran und bläst den Rauch in Richtung seines Gegenübers. Das Rauchverbot in öffentlichen Einrichtungen scheint bis heute an drei Orten dieser Welt nicht zu gelten – in Guantánamo, türkischen Gefängnissen und uruguayischen Haftanstalten. Germán würde gerne etwas erwidern, bringt aber außer einem Geräusch, das wie das Stottern eines alten Motors klingt, nichts heraus. Er sieht zu dem Polizisten am Eingang hinüber, der immer noch zwischen seinen Zähnen herumstochert und ab und zu ein Holzsplitterchen oder Speisereste oder beides gleichzeitig ausspuckt.
»Und dieser Sergio, mit dem Sie Santiago Losada entführt haben, lässt es sich währenddessen gut gehen, wo auch immer, auf jeden Fall mit dem Geld, das Sie dem Typen abgeknöpft haben.« Antinucci lässt die Zigarettenasche auf den Boden fallen, aber natürlich nicht auf sein Köfferchen. »Ich hab Ihnen ja gesagt, hier kommen Sie schnell wieder raus. Und ich hab mich nicht getäuscht – ich täusche mich nie. In ein paar Tagen werden Sie freigelassen.«
Germán hat den Eindruck, er müsse sich freuen, strahlend vom Stuhl aufspringen, dem anderen auf den Rücken klopfen, ihm die Hand schütteln, ihn sogar umarmen, ja, vielleicht laut loslachen, begeistert klatschen. Aber nichts davon geschieht, er verspürt nicht die geringste Freude, keinerlei Begeisterung, bloß eine leise Erleichterung, die sich langsam in ihm breitmacht. Denn hat sich die schwarze Gefängnisnacht erst einmal in einem eingenistet, kann die Sonne noch so hell scheinen, das schüttelt man nicht einfach so ab wie Staub. Selbst die bestmöglichen Nachrichten sorgen da gerade einmal für leichte Entspannung, alles andere braucht seine Zeit.
»Was Ihnen am meisten genützt hat, war die Aussage des Entführten, so seltsam es klingt. Ja, die von Losada. Er hat zum Richter gesagt, dass Sie ein Loser sind. Und dass der andere Entführer, dieser Sergio, der für Losadas Firma gearbeitet hat, sich das Ganze ausgedacht hat. Und am Ende hat er Sie reingelegt und ist einfach mit der Kohle abgehauen. Und Sie saßen währenddessen bei Losada und haben gewartet, dass er Sie abholt, stimmts?«
Während Germán überlegt, was die beste Antwort auf eine Frage sein könnte, die er nicht versteht, betrachtet er seine Hände.
Antinucci spricht weiter: »Wissen Sie was? Losada hat sogar behauptet, Sie seien eigentlich kein schlechter Kerl, und Sie hätten ihn gut behandelt, und irgendwelche körperliche Schäden hätte er auch nicht davongetragen. Und nachdem seine Frau, diese Úrsula López, dann auch noch gesagt hat, dass keinerlei Lösegeldforderungen gestellt wurden, standen Sie natürlich ziemlich gut da.«
Germán spreizt die Finger, starrt weiter seine Hände an und glaubt zu spüren, dass Antinucci ihn mit dem Blick durchbohrt und seine Gedanken zu lesen versucht.
»Komisch, wirklich … Sie haben mir doch gesagt, Sergios Plan hätte vorgesehen, dass Sie Santiago Losada entführen, um dann von seiner Frau Geld zu verlangen. Als Sie gemerkt haben, dass Ihr Partner mit dem Geld aus Losadas Auto durchgebrannt ist, warum haben Sie da nicht trotzdem Lösegeld verlangt, bloß eben allein? Die Frau war schließlich noch da, warum hätte sie nicht spuren sollen? Beziehungsweise, warum haben Sie ihren Mann drei Tage lang festgehalten, wenn nicht für Lösegeld?«
Antinucci wirft den Zigarettenstummel auf der anderen Seite seines Stuhls – dort, wo nicht sein Köfferchen steht – auf den Boden und tritt ihn aus, zermalmt ihn unter dem Absatz seines auf Hochglanz polierten Halbschuhs.
»Jetzt mal ehrlich, haben Sie Losadas Frau erpresst oder nicht? Diese Úrsula, so heißt sie doch, den Namen vergisst man nicht so leicht. Vielleicht wollte sie ja einfach nur keine Probleme mit den Behörden und hat darum nichts gesagt. Sagen Sies mir – kennen Sie sie, ja oder nein?«
Während der Anwalt auf ihn einredet, hält er eine unsichtbare Melone in den Händen. Germán möchte etwas erwidern, zögert, hält sich zurück. Hat er...
Erscheint lt. Verlag | 10.7.2018 |
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Übersetzer | Peter Kultzen |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | El Miserere des los Cocodrilos |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Frau • Kriminalroman • Lateinamerika • LiBeraturpreis • Montevideo • Spannung • Ursula • Uruguay |
ISBN-10 | 3-293-30976-3 / 3293309763 |
ISBN-13 | 978-3-293-30976-0 / 9783293309760 |
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