Die Kapsel (eBook)

Aids in der Bundesrepublik

(Autor)

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2018 | 1. Auflage
300 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-75360-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Kapsel - Martin Reichert
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»Gib Aids keine Chance« - fast jeder Deutsche über dreißig kennt den Slogan dieser 1987 von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung gestarteten Kampagne. »Truvada« heißt das Wundermittel, mit dem sich diese Forderung nun erfüllen soll. Die Kapsel, die HIV-Infizierten schon seit einiger Zeit zu Therapiezwecken verschrieben wird, dient mittlerweile auch der Prophylaxe. Was die Mehrheit der Deutschen nicht kennt, sind der Schmerz und die Isolation, die viele Menschen vor der Aufklärungs- und Präventionsarbeit sowie der Entwicklung effektiver Medikamente erfahren mussten.

Anhand zahlreicher Begegnungen mit Betroffenen und Zeitzeugen erzählt Martin Reichert die Geschichte dieser Menschen, etwa jener homosexueller Männer, die, abgekapselt von der Gesellschaft, allein mit dem Verlust ihres Partners zurechtkommen mussten: enterbt von der pfälzischen Familie, ausgeladen von der Beerdigung im Schwarzwald und von ihren Mitmenschen stigmatisiert. Aids hat die Art und Weise, wie wir leben und wie wir lieben, tiefgreifend verändert. Die Kapsel berichtet davon, wie die Krankheit ihren Weg ins Bewusstsein der Bundesrepublik fand.



<p>Martin Reichert, geboren 1973, war Journalist und Autor. Seit 2004 arbeitete er f&uuml;r <em>die tageszeitung</em>. 2006 wurde er mit dem Felix-Rexhausen-Preis ausgezeichnet. Er starb am 26. Mai 2023.</p>

Martin Reichert, geboren 1973, ist Journalist und Autor. Seit 2004 arbeitet er für die tageszeitung. 2006 wurde er mit dem Felix-Rexhausen-Preis ausgezeichnet.

Der »Schreck von drüben«


Am Anfang war Aids nichts als ein »Schreck von drüben«, wie der Spiegel im Mai des Jahres 1982 schrieb.1 In New York, Los Angeles und San Francisco litten plötzlich junge Männer zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahren unter sogenannten Kaposi-Sarkomen, einer seltenen Krebsart, die bislang nur bei wesentlich älteren Patienten vorgekommen war und nun in einer besonders aggressiven, auf die inneren Organe übergreifenden Variante grassierte. Blaurote Knoten, die sich auf der Haut abzeichneten, begleitet von schweren Infektionskrankheiten, Lungenentzündungen, Pilzbefall.

Es war bereits das Jet-Zeitalter, nicht wenige schwule Männer aus der westdeutschen Mittelschicht konnten es sich ab Mitte der siebziger Jahre leisten, in die Vereinigten Staaten zu fliegen, um sich in der New Yorker Leder- und Fetischbar Mineshaft auszutoben, sich die Sonne auf Fire Island auf den Bauch brennen zu lassen oder sich für ein paar Tage in den Bars, Saunen und Darkrooms in San Franciscos Castro-Viertel zu verlieren. Hier gab es die muskulösen Männer aus den Pornofilmen und Bildbänden tatsächlich, und auch ein breites Angebot an Drogen – von Cannabis über Kokain bis Meskalin. New York und San Francisco, das waren die schwulen Welthauptstädte, und den Soundtrack zu dieser früh globalisierten Szenerie lieferten unter anderem die Village People mit »YMCA«, »In the Navy« oder »Macho Man«. Auch bei den großen Unterhaltungsshows im deutschen Fernsehen war die Formation gern gesehen, der homosexuelle Kontext der Songs wurde jedoch stets verschwiegen.

In den besser unterrichteten Kreisen der deutschen Großstädte hatte man zum Zeitpunkt der Spiegel-Veröffentlichung schon von den Problemen aus den USA gehört.2 Wer hoffte, die Angelegenheit werde insgesamt eine amerikanische bleiben, sah sich allerdings enttäuscht. Der Spiegel berichtete bereits von Kaposi-Fällen in Barcelona und Kopenhagen. »Die nächsten Erkrankungen erwarten Experten in den Ballungsräumen der Homosexualität: Athen, Rom, London und Berlin.« Wenig später wurden tatsächlich die ersten deutschen Fälle bekannt, in Frankfurt am Main und München.

Die ersten Fälle – von was eigentlich? Zu Beginn wusste niemand, um was für eine Krankheit es sich handelt. Da ausschließlich Homosexuelle betroffen schienen, sprachen amerikanische Wissenschaftler zunächst von einer »Gay Related Immune Deficiency« (GRID). Bevor es irgendwelche verlässlichen Informationen gab, begann man schon, die Krankheit in ein Raster einzuordnen. Später, im Juni 1982 – man hatte erkannt, dass auch Frauen und heterosexuelle Männer betroffen waren, Drogenabhängige, die intravenös Substanzen konsumierten, und Bluter –, setzte sich die Bezeichnung »Acquired Immune Deficiency Syndrome« (erworbenes Immunschwächesyndrom) durch, kurz: AIDS.

Das Kürzel mit den vier Buchstaben, das die Welt in Angst und Schrecken versetzen sollte, wird im ersten Spiegel-Artikel noch nicht genannt. Dort ist von einer »Reihe geheimnisvoller, nicht selten tödlicher Krankheiten« die Rede, die womöglich mit den Lebensgewohnheiten der Homosexuellen zusammenhingen. Liegt es am regelmäßigen Cannabiskonsum? Am häufigen Gebrauch von Cortisonsalben? Am Schnüffeln von »Poppers«, einer nitrithaltigen Substanz, die sexuell anregend wirkt und von der der Spiegel annimmt, die Homosexuellen versprächen sich davon einen Superorgasmus? Man weiß nichts Genaues, weder über die Ursachen der Erkrankungen noch über die Homosexuellen und ihr Verhalten. Eine Haltung aber hat man schon beim Spiegel in Hamburg, sie schwankt irgendwo zwischen höhnischer Distanzierung (»›Manchen Freunden‹, sagt ein Berliner Professor, ›sitzt der Schrecken schon in allen Gliedern, in allen«) und alttestamentarischer Verdammnis: »Vielleicht ist das die Lustseuche des 20. Jahrhunderts, nur nicht so harmlos«, lässt sich der Berliner Bakteriologe Franz Fehrenbach zitieren: »Für die Homosexuellen hat der Herr immer eine Peitsche bereit.«3

Mit diesen Sätzen nahm Fehrenbach den Sound der kommenden Spiegel-Berichterstattung vorweg, die zwischen Bestrafungsfantasien und apokalyptischen Seuchenängsten changierte – was die Bedrängnis, in der sich die Homosexuellen befanden, nicht eben besser machte. Eine Minderheit, die sich gerade erst im Gefolge der Studenten- bzw. Bürgerrechtsbewegungen einigermaßen emanzipiert hatte, wurde ganz konkret von dieser neuen »Pest« bedroht und sollte jetzt für den künftigen Niedergang der Menschheit verantwortlich sein.

Die Krankheit sei wie »ein Schuß ins stille Glück« gefallen, schrieb der Mediziner Stefan Hinz 1984 in dem von ihm herausgegebenen Band AIDS. Die Lust an der Seuche.4 Damit meinte er auch die relative Freiheit, mit der sich Homosexuelle in der Bundesrepublik zu diesem Zeitpunkt bewegen konnten. In den Großstädten gab es eine ausdifferenzierte Szene, allein in Westberlin mehr als fünfzig Kneipen, zwei schwule Verlage und mehrere Saunen. Frank Ripplohs legendärer, auch international erfolgreicher Film Taxi zum Klo (1980) vermittelt etwas von der damaligen Atmosphäre. Im Zentrum stehen Frank und Bernd, ein schwules Paar zwischen Verliebtheit und Verdruss – erstmals wurden hier Homosexuelle nicht in einem Problemzusammenhang dargestellt, sondern in ihrer alltäglichen, manchmal eben auch banal anmutenden Normalität zwischen Beruf, Tuntenball und Abendbrot.

Der Titel des Films bezieht sich auf eine Szene, in der Frank mit einer Hepatitis im Krankenhaus liegt und sich von dort aus ein Taxi nimmt, um Sex auf einer öffentlichen Toilette (Klappe) zu haben. Später zu dieser Szene befragt, gab Ripploh an, er habe damals geglaubt, dass Hepatitis nur ansteckend sei, »wenn einem das Gelbe ins Gesicht schießt«, also die »Gelbsucht« ausgebrochen ist.5

Von Infektionswegen hatte man in diesen Tagen wenig Ahnung. Und auch keine Angst vor sexuell übertragbaren Erkrankungen wie »Tripper« (Gonorrhoe) oder »Feigwarzen« (Condylomata acuminata), die seit den fröhlichen Siebzigern virulent geworden waren. Es war die Zeit nach der nunmehr gut behandelbaren Syphilis – und vor Aids.

Im Bermudadreieck


Im Café Berio haben wir uns verabredet, weil es fürs Tom’s noch zu früh ist und es das Café Central schon lange nicht mehr gibt. Als es das Café Central in Berlin-Schöneberg noch gab, Mitte der achtziger Jahre, waren Maja Zogg und Udo Hartmann beste Freunde und zogen gemeinsam um die Häuser, gerne hier im »Bermudadreieck« um die Motzstraße herum, damals wie heute ein schwules Ausgehviertel – auch wenn der Kiez mittlerweile gern als »schwules Altenheim« verspottet wird. Die Zeit der schwulen Gettos scheint vorbei, ob in Berlin, München oder Frankfurt am Main; klassische Szeneviertel sind vom Aussterben bedroht. Der Nachwuchs, heißt es, tummelt sich lieber im Internet – oder geht gleich »hetero« aus.

Wenn man sie so am Tisch sitzen sieht in der Geborgenheit des Café Berio mit seinen Kitschbildern und Sahnetorten, könnte man sie für ein altes Ehepaar halten: eine elegant angeschrägte Dame in ihren Fünfzigern, die eine riesige Puck-Brille mit getönten Gläsern trägt, und ein distinguierter älterer Herr um die sechzig mit kleinem Bauch.

»Wir wollten ja heiraten damals, Udo, erinnerst du dich?«, sagt Maja mit ihrem Schweizer Akzent, »hheirraten«. – »Ja«, lacht Udo, »du in einem weißen Lederkleid und ich im schwarzen Lederanzug mit Nieten.« Seit Jahren haben sich die beiden nicht gesehen, und eigentlich ist es total unwahrscheinlich, dass Udo überhaupt hier sitzt: Er ist ein sogenannter Langzeitpositiver, seine Diagnose bekam er 1985, im ersten Sommer, in dem HIV-Tests möglich waren: In den USA war der »Elisa«-Suchtest entwickelt worden.

Ein Jahr zuvor waren Maja und Udo in Berlin gelandet; einer der größten Hits des Jahres war »Forever Young« von Alphaville. Kennengelernt hatten sie sich in Hannover: Udo war Schauspieler an der Landesbühne, Maja machte eine Ausbildung zur Theatermalerin. »Du warst...

Erscheint lt. Verlag 11.6.2018
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Geisteswissenschaften Geschichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Berlin • Gaétan Dugas • HIV • Homosexualität • Peter Gauweiler
ISBN-10 3-518-75360-6 / 3518753606
ISBN-13 978-3-518-75360-6 / 9783518753606
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