Borderland (eBook)

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2018 | 1. Auflage
272 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-7336-0061-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Borderland -  Peter Schwindt
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»Es gibt Mädchen, die spielen in einer ganz anderen Liga als man selbst, was ja auch okay ist. Man kann ganz gut aus der Ferne für jemanden schwärmen. Manchmal war das auch besser so. Irritierend wurde es erst, wenn man plötzlich wahrgenommen wurde.« Vincent ist sechzehn Jahre alt und hat es alles andere als leicht: Seit dem Tod des Vaters lebt er mit seiner Mutter in einer schäbigen Sozialwohnung und kümmert sich eigentlich um alles. Dann bricht die Mutter zusammen und kommt ins Krankenhaus. Vincent muss also nur noch für sich selbst sorgen, was aber gar nicht so leicht ist. Er bekommt unverhofft Hilfe: Am Tag der Toten, dem Día de los muertos, lernt er am Grab seines Vaters Jane kennen. Durch sie begreift Vincent, dass zum Sound seines Lebens auch Freundschaft und Vertrauen gehören. Aber Jane verschwindet immer wieder ... Wer ist dieses Mädchen eigentlich?

Der 1964 geborene deutsche Autor hat in Berlin und Bonn Germanistik, Komparatistik und Theaterwissenschaften studiert und anschließend als Redakteur und Lektor gerbeitet, bevor er schließlich Game Designer wurde. Seit 1997 arbeitet der Schriftsteller freiberuflich und verfasst neben Romanen und Radiohörspielen auch Drehbücher. Peter Schwindt lebt und arbeitet in der Nähe von Frankfurt am Main.

Der 1964 geborene deutsche Autor hat in Berlin und Bonn Germanistik, Komparatistik und Theaterwissenschaften studiert und anschließend als Redakteur und Lektor gerbeitet, bevor er schließlich Game Designer wurde. Seit 1997 arbeitet der Schriftsteller freiberuflich und verfasst neben Romanen und Radiohörspielen auch Drehbücher. Peter Schwindt lebt und arbeitet in der Nähe von Frankfurt am Main.

1


»Vincent Amos?«

Die Frau hinter dem Schreibtisch, die meinen Namen rief, legte den Kopf schief, so dass sie durch die geöffnete Tür hinaus auf den Korridor schauen konnte. Als sie meinen Blick einfing, winkte sie mich mit ihrem Zeigefinger heran.

»Direktor Schreiber hat jetzt Zeit.«

Ein anderer Schüler, blond gescheitelt und ein Vertreter der Hollister-Abteilung, saß mit einem nervös wippenden Bein zwei Stühle neben mir. Auf seinem Shirt stand 333 – I am only half evil. Sein Humor schien von einer besonderen Art zu sein. Selbstreferentiell oder so. Als ich aufstand, verfolgte er mich mit seinen Augen, ohne den Kopf in meine Richtung zu drehen. Ich nickte ihm solidarisch zu, aber er schaute mir nur so lange nach, wie ich in seinem starren Blickwinkel war.

»Du kannst reingehen«, sagte die Frau hinter dem altmodischen Röhrenmonitor ihres Rechners. Ein Drucker spuckte summend einige Blätter aus. Die Möbel waren braun und alt und an den Ecken abgestoßen. Die Frau deutete auf eine angelehnte Tür. Ich zögerte. Sie machte mit der Hand eine Geste, als sei die Zeit des Mannes, der dort auf mich wartete, mindestens genauso knapp bemessen wie ihre.

Ich klopfte vorsichtig an den Türrahmen.

Direktor Schreiber blickte auf. Er war ein alter Mann mit langen grauen Haaren und einem ebenso grauen Bart. Jeans, Stiefel, kariertes Hemd. Als er aufstand, streckte er mir seine Hand entgegen.

»Schreiber«, sagte er nur.

»Amos. Vincent.«

»Bist du allein gekommen?«

»Ja.«

»Kein Elternteil dabei?« Die leise Stimme klang ein wenig überrascht.

»Meine Mutter ist krank und muss im Bett bleiben.«

Direktor Schreiber musterte mich eindringlich, als wüsste er nicht, in welche Schublade er mich stecken sollte. »Okay«, sagte er gedehnt. »Hoffentlich nichts Schlimmes?«

Ich zuckte stumm mit den Schultern und schüttelte den Kopf.

Er runzelte die Stirn und schaute in eine dünne Mappe, die er vor sich aufgeschlagen hatte. »Vincent Amos. Geboren am 19. März. Wohnhaft in der Elsterbergstraße? Stimmt das?«

Ich nickte.

»Du hast vorher das Wittgenstein-Gymnasium besucht?«

Ich nickte erneut.

»Darf ich fragen, warum du auf diese Schule wechselst? Ich meine, deine Noten waren durch die Bank gut bis sehr gut.«

»Wir sind umgezogen.«

»Wo habt ihr früher gewohnt?«

»In der Habsburger Straße.«

»Das ist am anderen Ende der Stadt.«

»Ja«, sagte ich nur.

»Und nicht mit dem Viertel hier zu vergleichen.«

»Nein, nicht wirklich.«

Direktor Schreiber räusperte sich.

»Ich habe gesehen, dass du eine Reihe von Musikinstrumenten beherrschst.«

Ich nickte. »Klavier. Violine. Cello.«

»Wir haben ein Orchester. Herr Schröder leitet es jetzt.«

»Aha«, machte ich nur.

Direktor Schreiber schaute mich an, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor seiner Brust. Er kaute auf seiner Unterlippe herum, so dass sich einige der Barthaare nach vorne sträubten.

»Wir freuen uns, dich hier begrüßen zu dürfen«, sagte er schließlich, wippte nach vorn und reichte mir zwei Zettel. »Dein Stundenplan und die Bücherliste. Die Schulbibliothek hat in den Pausen geöffnet. Frau Schuchardt wird dich zu deiner Klasse bringen.«

Ich stand auf und wusste nicht, ob es angebracht war, ihm zum Abschied die Hand zu reichen. Also nickte ich nur, faltete die beiden Zettel zusammen und steckte sie in meine Umhängetasche.

Zuerst dachte ich, dass Direktor Schreiber noch etwas sagen wollte, doch sein Blick war nicht auf mich gerichtet. Seine Hände lagen auf dem Schreibtisch, links und rechts der Tastatur. Über dem Bildschirm des Rechners tanzte träge die Uhrzeit. Durch das gekippte Fenster war der auf- und abschwellende Lärm einer Motorsäge zu hören.

»Frau Schuchardt?«, rief er plötzlich.

»Ja?«, kam es aus dem Sekretariat. Eine Kaffeetasse wurde abgestellt, ein Löffel klirrte.

»Bringen Sie Vincent in seine Klasse, sind Sie so gut? Und schicken Sie Dennis rein.«

Ich wünschte Direktor Schreiber noch einen schönen Tag, den er vermutlich nicht haben würde, und verließ sein Büro.

Frau Schuchardt kam kauend um den Tresen herum und schüttelte sich ein paar Krümel ihres Brötchens von der rosa Bluse. Wir traten hinaus in den Korridor.

»Du kannst jetzt rein«, sagte sie zu dem Jungen, der sich nun träge aus dem Plastikstuhl erhob. Er rempelte mich im Vorübergehen an. Nicht heftig. Aber auch nicht so leicht, dass es ein Versehen war.

Frau Schuchardt ging voraus. Sie war klein, um den Hintern herum ein wenig füllig. Unter der Bluse gruben sich die Träger ihres BHs in die Schultern. Die Schuhe, die sie zu dem beigen Rock trug, waren praktisch, bequem und hässlich. Sie roch irgendwie komisch. Nicht ungewaschen oder verschwitzt. Eher das Gegenteil, eher schärfer. Ich fragte mich, ob sie sich nach jedem Toilettenbesuch die Hände desinfizierte.

Die Sohlen ihrer Gesundheitsschuhe quietschten auf dem ausgetretenen Linoleumboden. In der Hand klimperte ein Schlüsselbund. Wir schritten eine ganze Galerie von Türen ab, von denen aber keine für mich bestimmt war. Erst zwei Etagen tiefer, vorbei an Vitrinen, in denen Unterstufenklassen Gipsköpfe und Nudelreliefs ausgestellt hatten, blieben wir vor einem Raum stehen. Frau Schuchardt klopfte und öffnete die Tür, ohne ein »Herein« abzuwarten.

Natürlich richteten sich alle Blicke auf mich. Ein Lehrer, der gerade hektisch etwas an die Tafel schrieb, drehte sich zu uns um, wobei er eine ungeduldige Geste machte, um der Klasse mehr Ruhe zu verordnen.

»Herr Gödert, ich bringe den Neuen«, sagte Frau Schuchardt.

Gödert strich sich die ergrauenden Haare aus dem zerknautschten Gesicht. Er schaute von ihr zu mir und wieder zurück.

»Okay«, sagte er. »Dahinten ist noch ein Platz frei.«

Der Raum, in dem der Deutschkurs stattfand, sah aus, als hätten hier schon etliche Jahrgänge ihren Frust am Mobiliar ausgelassen. Der mir zugewiesene Tisch war genauso Schrott wie der viel zu niedrige Stuhl. Wenigstens die Rückenlehne konnte man noch verstellen.

Ich fühlte mich wie im Warteraum des Jobcenters, bei dem sich meine Mutter immer mal wieder melden musste.

Frau Schuchardt hatte das Klassenzimmer bereits verlassen, als sich Herr Gödert an mich wandte. An der Tafel standen Regeln zur Beugung starker und schwacher Verben. Stoff für die Unterstufe.

»Möchtest du dich vorstellen?«, fragte er mich freundlich.

Eigentlich mochte ich nicht. Eigentlich wollte ich viel lieber unsichtbar sein.

»Mein Name ist …«

»Steh bitte auf, damit dich jeder hören kann.«

Also stand ich auf. Die Rückenlehne meines Stuhls rutschte wieder nach unten.

»Mein Name ist Vincent Amos …«

»… und ich bin schwul«, vollendete der Typ vor mir meinen Satz. Er erntete lautes Gelächter.

Der Kerl drehte sich zu mir um und grinste mich an, als erwartete er, dass ich ihm anerkennend auf die Schulter klopfte. Ich überlegte mir, ob ich mich nicht wieder hinsetzen sollte.

»Bist du gerade hierhergezogen?«, fragte Gödert.

»Ja«, sagte ich.

Alle Blicke waren auf mich gerichtet, und ich spürte, wie ich rot wurde. Man kann Angst riechen, und ich muss in diesem Moment regelrecht nach Loser gestunken haben. Ich hätte kotzen können.

Das Knautschgesicht schaute mich auffordernd an, doch ich setzte mich wieder, die Lehne stützte nun meine Nierengegend, die Tischkante reichte mir zur Brust. Gödert setzte seinen Unterricht fort, und ich hoffte, dass der Vormittag schnell zu Ende ging.

***

Nach Schulschluss saß ich mit einem riesigen Stapel Bücher an der Haltestelle und wartete auf meinen Bus, als ich Dennis sah. Er rauchte eine Zigarette, trat sie dann aber nur halb heruntergebrannt aus. Er setzte sich zu mir auf die Bank und sagte kein Wort. Ich klemmte meine Tasche fester zwischen die Beine. Mein Bus würde erst in einer Viertelstunde kommen.

»Den Tag gut überstanden?« Der freundliche Klang seiner Stimme überraschte mich. Aber ich traute ihm nicht, deshalb schwieg ich und schaute in eine andere Richtung.

Er beugte sich vor, starrte mich an und schnippte vor meinen Augen mit den Fingern. »He, ich sitze neben dir! Ich bin nicht unsichtbar! Ich hab dich was gefragt!«

Es gab jetzt zwei Möglichkeiten, wie ich mit der Situation umgehen konnte. Entweder ich ignorierte den Kerl mit dem Nazi-Scheitel, was dieses wohlstandsverwahrloste Arschloch definitiv als Provokation auffassen würde. Oder ich redete mit ihm und verankerte mich so in seinem Bewusstsein. Dann würde ich ihn nicht mehr so schnell loswerden. Aber dieser Zug war vermutlich ohnehin schon abgefahren. Der Kerl hatte mich so oder so auf dem Radar, so tief konnte ich gar nicht fliegen. Trotzdem versuchte ich es, bückte mich nach meiner Tasche und stand auf, als ein Bus kam, der mich in eine völlig falsche Richtung bringen würde.

Dennis blieb sitzen und starrte mir hinterher, als ich einstieg und mich auf einen der wenigen freien Plätze setzte. Er machte einfach gar nichts. Wie in einem Musikvideo: scheppernde Gitarren, stampfender Beat, tragischer Gesang, die Welt zieht rasend schnell vorüber. Nur Dennis blieb wie aus der Zeit gefallen, wo er war. Weil er nicht wusste, wo er hinsollte. Oder weil er sich einen Dreck um alles scherte.

Dann setzte sich der Bus in Bewegung.

***

Ist schon mal jemandem aufgefallen, dass all diese Großstadtghettos so niedliche Nagernamen haben?...

Erscheint lt. Verlag 22.8.2018
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte Action & Adventure • All Age • Bye,bye, crazy chick • Charisma • Coming of Age • Depression • Dia de los Muertos • durchgeknallt • Erste Liebe • Erwachsen werden • Jesse Kellerman • Joe Schreiber • Jugendroman • Krimis und Detektivgeschichten • Liebe • Loser • Mexiko • Musik • Mystery • Nerd • Schuldgefühle • Selbstfindung • Selbstmord • Todeslust • Untergrund • Verlustbewältigung
ISBN-10 3-7336-0061-4 / 3733600614
ISBN-13 978-3-7336-0061-7 / 9783733600617
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