Kallocain (eBook)

Roman

(Autor)

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2018 | 1. Auflage
288 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-23575-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kallocain -  Karin Boye
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Was wäre, wenn selbst die Gedanken lesbar wären?

Könnt ihr die Wahrheit hören? Nicht alle sind wahrhaftig genug, um die Wahrheit zu hören, das ist das Traurige. Sie könnte eine Brücke zwischen den Menschen sein - nun ja, solange sie freiwillig ist, solange sie als ein Geschenk gegeben und als ein Geschenk empfangen wird. Ist es nicht eigenartig, dass alles seinen Wert verliert, sobald es aufhört ein Geschenk zu sein - selbst die Wahrheit?

Aktueller denn je: 'Kallocain', der große dystopische Roman von Karin Boye - in dem Menschen gelernt haben, sich gegenseitig zu kontrollieren, und verlernt haben, sich selbst und anderen zu vertrauen.

Was wäre, wenn selbst die Gedanken unfrei wären? Mit einer Wahrheitsdroge hat der Chemiker Leo Kall einen Weg in die Seelen seiner Mitbürger gefunden. Die neue Verhörmethode des Staates übernimmt die Kontrolle über die Menschen. Staatsfeindliche Gedanken werden entlarvt, alle Bürger auf Linie gebracht, Ehen gewöhnlich als reine Zweckgemeinschaft geschlossen, um dem Staat Kinder zu schenken. Doch im Geheimen regt sich Widerstand. Manche Menschen suchen Lebenssinn jenseits der offiziellen Doktrin. Auch Leo Kall beginnt zu zweifeln und seine Rolle als loyaler Mitsoldat in Frage zu stellen. Dennoch möchte er mit Hilfe des Wahrheitsserums herausfinden, ob seine Frau ein Verhältnis hat ...



Karin Boye (1900 bis 1941) war eine schwedische Schriftstellerin und Lyrikerin. Wie viele Intellektuelle der Zwischenkriegszeit kehrte sie enttäuscht und desillusioniert von einem Aufenthalt in der Sowjetunion zurück. 'Kallocain' gilt als ihr Hauptwerk und wird in einem Atemzug mit Aldous Huxleys 'Schöne neue Welt' und George Orwells '1984' genannt. Peter Weiss setzte ihr im dritten Band seiner 'Ästhetik des Widerstands' ein literarisches Denkmal, Nelly Sachs übersetzte eine Auswahl ihrer Gedichte. Karin Boye nahm sich 1941 in einem Wald bei Alingsås das Leben.

Es war auf einem Fest zwei Monate zuvor passiert. Einer der Versammlungsräume des Jugendlagers war mit langen Tuchbahnen in den Farben des Staates geschmückt worden, man führte Sketche auf, hielt Reden, marschierte zu Trommelklang durch den Saal und aß gemeinsam. Anlass der Feier war, dass ein Trupp Mädchen im Jugendlager einen Befehl zur Umsiedelung erhalten hatte, man wusste nicht wirklich wohin, es kursierten Gerüchte über eine andere Chemiestadt, anderslautende über eine der Schuhstädte, jedenfalls über einen Ort, an dem ein Defizit bei den Arbeitskräften und beim prozentualen Verhältnis zwischen den Geschlechtern eingetreten war. Aus unserer Stadt, und vermutlich auch aus einer Reihe anderer Städte, wurden deshalb junge Frauen gesammelt und dorthin geschickt, damit die vorher festgelegten Zahlen eingehalten werden konnten. Und nun wurde die Abschiedsfeier für die Abkommandierten gefeiert.

Festlichkeiten dieser Art besaßen stets eine gewisse Ähnlichkeit mit der Feier für die ausrückenden Soldaten. Der Unterschied war natürlich groß: Bei Festen wie diesem wussten alle, sowohl die Abreisenden als auch die Zurückbleibenden, dass den jungen Menschen, die ihre Heimatstadt verließen, kein Haar gekrümmt werden würde, und im Gegenteil alles dafür getan wurde, dass sie sich rasch und reibungslos in ihrer neuen Umgebung einlebten und sich dort schon bald ausgesprochen wohlfühlen konnten. Die Ähnlichkeit bestand allein darin, dass beide Gruppen mit fast hundertprozentiger Sicherheit wussten, sie würden einander niemals wiedersehen. Zwischen den Städten war keine andere Verbindung erlaubt als die offizielle, für die vereidigte und streng kontrollierte Beamte zuständig waren, um Spionage zu vermeiden. Selbst wenn der eine oder andere abkommandierte Jugendliche tatsächlich im Verkehrsdienst landen sollte – eine minimale Chance, da die Verkehrsbeamten für ihre Berufung fast immer seit dem frühen Kindesalter in speziellen Fahrschulstädten erzogen wurden –, war außerdem der seltsame Zufall erforderlich, dass ihr Dienst ausgerechnet einer der Bahnen zugeteilt wurde, die zu ihrer Heimatstadt führten und sie ausgerechnet dann ihre Freischicht hatten, wenn sie sich in der Heimatstadt aufhielten; dies gilt für die Angestellten des Landverkehrs – das Flugpersonal lebte ja grundsätzlich vollkommen abgeschirmt von seinen Familien und unter ständiger Überwachung. Kurzum, es bedurfte fast schon eines Wunders aus ineinandergreifenden Zufällen, damit Eltern ihre Kinder wiedersehen durften, sobald diese an einen anderen Ort verlegt worden waren. Abgesehen davon – ja, wirklich abgesehen davon, schließlich hatte man an einem solchen Tag nicht das Recht, bei eher düsteren Aussichten zu verweilen – war die Feier ein ausgelassenes Freudenfest, wie es sich ja auch gehörte, wenn etwas zum Nutzen und Wohle des Staates geschah.

Wäre ich selbst unter den fröhlichen Gästen des Fests gewesen, hätten die Ereignisse sich vermutlich niemals so entwickelt, wie sie es dann taten. Die Hoffnung auf gutes Essen – bei Gelegenheiten wie dieser ist es immer reichlich und köstlich zubereitet, und die Gäste stürzen sich darauf wie ausgehungerte Wölfe –, die Trommeln, die Reden, das festliche Gedränge, die Rufe im Chor, all das versetzte den Saal in eine große gemeinsame Ekstase, wie es üblich und wünschenswert war. Ich gehörte allerdings weder zu den Eltern und Geschwistern noch zu den Jugendleitern. Der Abend war einer von vieren in der Woche, an denen ich Militär- und Polizeidienst hatte, und so war ich in meiner Eigenschaft als Polizeisekretär anwesend, was nicht nur bedeutete, dass mein Platz auf einer der vier kleinen Ecktribünen war und ich Protokoll über die Veranstaltung führen sollte, gemeinsam mit drei anderen Polizeisekretären in den drei anderen Ecken, sondern auch, dass es meine Pflicht war, einen kühlen Kopf zu bewahren, um diverse Beobachtungen dazu anstellen zu können, was unten im Saal vor sich ging. Wenn es zu einem Streit kam, wenn etwas Heimliches passierte, zum Beispiel ein Teilnehmer versuchte, sich nach dem Namensaufruf zu entfernen, war es für Vorsitzende und Türwärter, die häufig mit praktischen Details beschäftigt waren, natürlich eine große Hilfe, dass vier Polizeisekretäre von einem fast abgeschiedenen Ort aus pausenlos den Saal überwachten. Da saß ich nun also in meiner Isolation und ließ den Blick über die Menge gleiten, und wenngleich ich einerseits gern selbst dabei gewesen wäre und die allgemeine gemeinschaftliche Freude geteilt hätte, so denke ich schon, dass mein Opfer mehr als ausreichend vom Bewusstsein meiner Bedeutung und Würde aufgewogen wurde. Im Übrigen wird man am späteren Abend von jemandem abgelöst, so dass man immerhin an der Mahlzeit teilnehmen kann und es einem zumindest danach freisteht, alle Sorgen abzustreifen.

Die jungen Mädchen, die Abschied nahmen, zählten wohl kaum mehr als etwa fünfzig und waren in der Menge leicht auszumachen, da sie vergoldete Festkronen trugen, die unsere Stadt bei solchen Anlässen verlieh. Besonders eines von ihnen erregte unvermittelt meine Aufmerksamkeit, vielleicht, weil sie ungewöhnlich schön war, vielleicht auch, weil sie eine lebhafte Unruhe ausstrahlte, die wie ein heimliches Feuer in Blicken und Bewegungen war. Mehrmals ertappte ich sie dabei, suchende Blicke in Richtung der Jungen zu werfen – dies ereignete sich zu Anfang des Fests, als die Sketche aufgeführt wurden und die Jungen aus dem Jungenlager und die Mädchen aus dem Mädchenlager noch in getrennten Gruppen saßen –, bis sie endlich zu finden schien, wonach sie gesucht hatte und das Feuer in ihren Bewegungen zur Ruhe kam, als würde es nun in einer einzigen klaren, stillen Flamme lodern. Ich meinte, das Gesicht erkennen zu können, das sie gesucht und nun gefunden hatte: so schmerzlich ernst inmitten aller erwartungsvollen und fröhlichen, dass sie einem beinahe leidtun konnten. Sobald der letzte Sketch vorbei war und die Jugendlichen sich vermischten, sah ich, wie die beiden die Menge durchschnitten, als wäre diese Wasser, und sich mit nahezu blinder Sicherheit ungefähr in der Saalmitte trafen, sie allein schweigend unter all den rufenden und singenden Menschen. Sie standen inmitten des Lärms wie auf einem stillen Felseneiland, ohne zu wissen, in welchem Raum oder welcher Zeit sie sich befanden.

Ich wachte auf und schnaubte kurz über mich selbst. Es war ihnen gelungen, mich in ihre asoziale Welt zu zerren, herausgerissen aus dem einzigen großen Sakrament für alle: der Gemeinschaft. Ich war offenbar sehr müde, denn es hatte sich wie Erholung angefühlt, einfach dort zu sitzen und sie zu betrachten. Mitleid verdienten die beiden natürlich am wenigsten von allen, dachte ich. Was könnte nützlicher für die Charakterbildung eines Mitsoldaten sein, als sich frühzeitig an große Opfer für große Ziele zu gewöhnen? Sehnen sich nicht viele ihr ganzes Leben nach einem Opfer, das groß genug ist? Neid war das Einzige, was ich ihnen entgegenbringen konnte, und Neid gab es sicher auch in der Unzufriedenheit, die ich bei den Kameraden der beiden jungen Leute zu erkennen meinte – Neid, aber auch einen Hauch von Verachtung dafür, dass so viel Zeit und Kraft an einen einzigen Menschen verschwendet wurde. Ich konnte sie nicht verachten. Sie spielten ein ewiges Schauspiel, das in seiner tragischen Unerbittlichkeit schön war.

Jedenfalls muss ich wohl wirklich müde gewesen sein, denn mein Interesse kreiste unablässig um die wenigen ernsten Züge, die das heitere Fest aufzuweisen hatte. Nur wenige Minuten, nachdem ich den Blick von den beiden Jugendlichen abgewendet hatte und sie im Übrigen durch unzählige Kameraden voneinander getrennt worden waren, richtete sich meine Aufmerksamkeit stattdessen auf eine hagere Frau mittleren Alters, vermutlich die Mutter eines der abkommandierten Mädchen. Auch sie wirkte wie abgekoppelt von dem lärmenden Kollektiv. Ich weiß nicht recht, wie ich es wahrnahm und hätte es auch niemals beweisen können, da sie die ganze Zeit ja an allem teilnahm, sich im Rhythmus der Marschierenden bewegte, mit den Rednern nickte, mit den Rufern rief. Trotzdem meinte ich zu begreifen, dass dies rein mechanisch geschah, dass sie nicht von der befreienden Welle des Kollektivs getragen wurde, sondern irgendwie außerhalb stand, auch außerhalb ihrer eigenen Stimme und der eigenen Bewegungen, auf die gleiche Art abgesondert wie die beiden jungen Leute. Auch die Menschen um sie herum mussten dies wahrgenommen haben, denn sie versuchten aus verschiedenen Richtungen, an sie heranzukommen. Mehrmals sah ich von meiner Tribüne aus, wie jemand ihren Arm nahm und sie mitzog oder ihr zunickte und mit ihr sprach, sich jedoch bald darauf enttäuscht zurückzog, obwohl ihre Antwort und ihr Lächeln untadelig funktionierten. Nur ein kleiner, lebhafter und hässlicher Mann ließ sich nicht so leicht abschrecken. Als sie ihm ihr müdes Lächeln geschenkt und anschließend zu ihrem noch müderen Ernst zurückgefunden hatte, blieb er versteckt in ein paar Meter Entfernung stehen und beobachtete sie mit unverkennbarer Nachdenklichkeit.

Die müde und abgesonderte Frau ging mir irgendwie nahe, ohne dass ich zu sagen gewusst hätte, warum. Mein Verstand sagte mir, wenn bereits die beiden jungen Leute Neid verdienten, dann galt dies in einem noch höheren Maße für sie; ihr opferbereiter Heldenmut war größer als ihrer, und damit auch ihre Stärke und Ehre. Das Gefühl der jungen Leute würde trotz allem rasch verblassen und von einer neuen Flamme ersetzt werden, und selbst wenn sie versuchten, sich die Erinnerung zu bewahren, würde sie dennoch schon bald nicht mehr schmerzen und daraufhin ausschließlich schön und hell und eine Bereicherung im alltäglichen Einerlei...

Erscheint lt. Verlag 29.10.2018
Übersetzer Paul Berf
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Kallocain
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1984 • Aldous Huxley • Ästhetik des Widerstands • dystopie fantasy • eBooks • Farm der Tiere • Georg Orwell • Gunnar Ekelöf • Jonathan Swift • Peter Weiss • Roman • Romane • Schweden • Skandinavien • Sowjetunion • Spektrum • surrealisten • T.S.Eliot • Wahrheitsdroge
ISBN-10 3-641-23575-8 / 3641235758
ISBN-13 978-3-641-23575-8 / 9783641235758
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