Tankstellenchips -  Antonia Michaelis

Tankstellenchips (eBook)

Ein Heldenepos
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2018 | 1. Auflage
368 Seiten
Verlag Friedrich Oetinger
978-3-96052-066-5 (ISBN)
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Road Novel von Antonia Michaelis über zwei ungleiche Helden und sehr viele Kühe. In einer Sommernacht lernen sie sich kennen: Sean, Student aus dem Iran, seit zwei Monaten in Deutschland, und Davy, aus dem Heim abgehauen, auf der Suche nach einem Freund. Beide werden Zeugen eines Überfalls. Von nun an verfolgt von Verbrechern und Polizei türmen sie zusammen quer durch Deutschland: über Erdbeerfelder, unter dunklen Gewitterwolken, durch Biergärten, im Heißluftballon, mit der Bahn und auf dem Moped. Immer wieder werden sie dabei von Kühen umzingelt, das scheint ihr Schicksal zu sein. Warum sonst sollte der Wagen mit Sean und dem Abschiebebescheid ausgerechnet auf dem Weg zum Flughafen in einer Kuhherde stecken bleiben? Klug, skurril und komisch nimmt Antonia Michaelis ihre Leser mit auf eine Deutschlandreise aus Sicht eines Flüchtlings und erzählt die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft.

Antonia Michaelis, Jahrgang 1979, in Norddeutschland geboren, in Süddeutschland aufgewachsen, zog es nach dem Abitur in die weite Welt. Sie arbeitete u.a. in Südindien, Nepal und Peru. In Greifswald studierte sie Medizin und begann parallel dazu, Geschichten für Kinder und Jugendliche schreiben. Seit einigen Jahren lebt sie nun als freie Schriftstellerin in der Nähe der Insel Usedom und hat zahlreiche Kinder und Jugendbücher veröffentlicht, facettenreich, fantasievoll und mit großem Erfolg. 'Der Märchenerzähler', ihr erstes Buch für junge Erwachsene, wurde für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert.

Antonia Michaelis, Jahrgang 1979, in Norddeutschland geboren, in Süddeutschland aufgewachsen, zog es nach dem Abitur in die weite Welt. Sie arbeitete u.a. in Südindien, Nepal und Peru. In Greifswald studierte sie Medizin und begann parallel dazu, Geschichten für Kinder und Jugendliche schreiben. Seit einigen Jahren lebt sie nun als freie Schriftstellerin in der Nähe der Insel Usedom und hat zahlreiche Kinder und Jugendbücher veröffentlicht, facettenreich, fantasievoll und mit großem Erfolg. "Der Märchenerzähler", ihr erstes Buch für junge Erwachsene, wurde für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert.

1 Ketchup


 

Nacht und irgendwo das Rauschen von Wellen und im Sand ein verlorener Schlüssel.

So fing es an.

Es war natürlich eine blöde Idee, nachts im Sand einen Schlüssel zu suchen. Aber als ich entdeckt hatte, dass der Schlüssel nicht da war, war es schon Nacht gewesen, und ich hatte nicht bis zum Morgen warten können, denn zwischen sechs und sieben Uhr durchkämmen sie den Strand mit Spezialfahrzeugen, um den Müll zu entfernen. Dieses Land ist sehr gründlich. Und es würde auch sehr gründlich sein in der Entfernung und Vernichtung meines Schlüssels.

Der Schlüssel schloss den grauen metallenen Spind auf, der in der Ecke meines Zimmers im Heim stand. Dieser Schrank enthielt die wichtigsten Dinge in meinem Leben: einen Laptop, eine Klarsichthülle voller Dokumente, elf Unterhosen, zwei Hemden, eine Flasche Rasierschaum, dreiundzwanzig Dosen Deo (ein Sonderangebot), eine halbe Stange polnischer Zigaretten und ein zerfleddertes Buch mit deutschen Grammatikübungen.

Sowie einen ungeöffneten Brief.

Ich hatte bisher nicht den Mut gehabt, ihn zu öffnen. Ich hatte ihn in den Schrank gelegt und eingeschlossen und war auf die Insel gefahren, ans Meer, um dort genau diesen Mut zu sammeln. Man fährt über eine Brücke hin, und eigentlich ist es keine Insel, aber die Leute sind beleidigt, wenn man ihnen das sagt.

Wenn ich »Insel« denke, denke ich an die einzige Insel meines Landes, die ich je besucht habe. Kisch: Touristenstrandgebiet, Einkaufsurlaubsziel, Freihandelszone.

Und ich denke Worte wie Hotelkette und Shopping Mall und Freiheit. Auf Kisch ist nicht nur der Handel frei und daher alles billiger. Auf Kisch ist auch die Freiheit freier als irgendwo sonst im Iran. Dort kann man Frauen sehen, deren Kopftücher eine Menge Haar zeigen und deren Kleider enger sind als irgendwo sonst, Frauen, die Beachvolleyball spielen und rauchen, starke Frauen, wunderschöne Frauen.

Sollte ich jemals zurückkehren, werde ich es vielleicht endlich wagen, eine von ihnen anzusprechen.

Und ich würde ihr nicht erzählen, dass ich in Deutschland meine Nächte damit zugebracht hatte, Schlüssel im Sand zu suchen.

Im Licht meines Handydisplays fand ich hölzerne Eisstäbchen, Einwickelpapier und Muscheln, aber keinen Schlüssel. Ich wanderte von dem großen Steg weg, den sie Seebrücke nennen, obwohl er sinnlos im Nichts endet, wanderte an den Hotels vorbei, die aussahen wie schnörkelverzierte Sahnetorten, und ließ auch sie schließlich hinter mir.

Der kalte Nachtwind riss mir zweimal den Strohhut vom Kopf, und ich musste am Strand entlangrennen wie ein Deutscher Leinenhund und meinen eigenen Hut apportieren.

Hinter dem Strand lag ein Wald aus frierenden deutschen Kiefern. Ich habe gelernt, dass es extra Orthopäden für sie gibt, vermutlich, weil sie so krumm stehen. Na, wenn die Deutschen Hundefriseure haben, warum dann keine Kieferorthopäden?

Hinter den Bäumen standen nur noch vereinzelte kleine Ferienhäuser, und darüber hingen die Sterne am schwarzen Himmel, klar und wunderschön. In Teheran ertrinken die Sterne jede Nacht im Lichtsmog der Stadt. Der große Hafis hat über die Sterne geschrieben, und ich wollte gerade eines seiner Gedichte zitieren, da bemerkte ich das Licht hinter den frierenden Kiefern: ein huschendes, heimliches Licht, begleitet von leisem, verhaltenem Lärm, den jemand sich bemühte nicht zu machen. Schritte. Ein Klirren wie von brechendem Glas. Flüsternde Stimmen.

Ich steckte das Handy weg und stand ganz still.

Und dann trugen mich meine Füße den Strand hinauf, obwohl ich wusste, dass ich hätte umkehren sollen. Das Licht kam aus einem der Ferienhäuser, einem modernen Quader mit einer großen Schiebetür aus Glas. Die Schiebetür stand offen, und von dem Glas fehlte ein Stück – ein genau kreisrund ausgesägtes, handtellergroßes Stück neben dem Griff.

Die Deutschen machen eben alles sehr ordentlich. Selbst das Einbrechen.

Im Haus waren drei Männer im Licht einer Taschenlampe dabei, etwas wegzutragen. Eine Stereoanlage. Nach einem Moment kehrten sie zurück und trugen andere Dinge fort: einen Tisch, einen Plattenspieler, einen Computer … Als ich um das Haus herumschlich, fand ich dort einen Umzugswagen.

Ich fragte mich, ob ich die Polizei rufen sollte.

Ich meine, die deutsche Polizei ist dein Freund und Helfer, ich weiß das. Aber möglicherweise hat die Polizei etwas gegen charismatische junge Männer aus Persien, die sie nachts im Wald findet. Ich meine, die Polizisten könnten ja eifersüchtig werden auf einen so charismatischen Typen, der da unter den Sternen steht und poetische Gedanken denkt und viel cooler ist als sie.

Oder, falls es ein eher unsicherer Junge mit Strohhut sein sollte, den die Polizisten finden, könnte er sich beim Erklären in ein komisches Gestottere verirren …

Ehe ich zu einem Entschluss kam, flog mit einem Knall eine Tür im Haus auf, und dann flutete grelles Licht das Wohnzimmer. Ich kniff die Augen zusammen. Jemand fluchte auf Deutsch. Jemand sagte: »Was, zum Teufel, ist hier los?«

Und dann sah ich wieder etwas.

Hinter der Glastür standen die Einbrecher: drei Männer in dunkler Kleidung, mit schwarzen Mützen und schwarzen Handschuhen.

In der Tür zum nächsten Zimmer jedoch stand jetzt noch jemand.

Ein vierter Mann in einem hellblauen Pyjama mit kleinen gelben Mustern. Und ich begriff: Diesem Mann gehörte das Ferienhaus. Die Einbrecher hatten nicht damit gerechnet, dass er zu Hause war.

Der Mann war groß, breitschultrig und sehr selbstsicher. Er hielt ein Handy in der einen Hand, und in der anderen – ich schluckte – eine Pistole.

Er schien keine Angst zu haben. Ich hatte Angst. Ich stand draußen im Wind und hatte an seiner Stelle Angst und wusste, dass es manchmal besser ist, Angst zu haben. Wenn es drei gegen einen sind, Pistole hin oder her.

Er sagte noch mehr, und gleichzeitig tippten seine Finger jetzt etwas auf dem Handy.

Da löste sich die Starre der Männer. Einer machte einen Satz auf den Pyjamamann zu, um ihm das Handy zu entreißen, der zweite griff nach der Pistole, der dritte gesellte sich dazu, und es wurde sehr unübersichtlich. Sie rangen miteinander, stumm und keuchend.

Und dann knallte etwas. Wahnsinnig laut. Und der große, starke, breitschultrige Mann sackte in sich zusammen. Das Handy fiel aus seiner Hand.

Jemand löschte das Licht.

Alles lag wieder im Dunkeln, und es war einen Augenblick lang unheimlich still. Ich hörte meinen eigenen raschen Atem.

Bis einer der Männer etwas flüsterte, noch nervöser als zuvor.

Sie beeilten sich jetzt, rafften ihre Ausrüstung zusammen und verließen kurz darauf das Haus.

Das Geräusch eines Motors zerhackte die Nacht und wurde dann leiser.

Ich stand und starrte ins Dunkel.

Nein, ich stand nicht mehr.

Denn ich bin vielleicht ein Versager, und ich bin vielleicht der einzige Schüler im Deutschkurs A2, der nach Monaten immer noch nicht versteht, warum es der Büstenhalter heißt, aber die Männerunterhose.

Aber ich bin keiner, der zusieht, wie jemand stirbt.

Ich kniete neben dem gefällten Riesen im hellblauen Pyjama und suchte den Puls an seinem Handgelenk. Und fand nichts. Was allerdings an meiner Unsicherheit mit Pulsen liegen konnte.

»Verzeiherung«, sagte ich. »Excuse me, do you hear me? Are you alive? Lebt Sie?«

Der Riese im Pyjama gab ein Knurren von sich, das von tief unten in seinem massigen Körper kam, es war wie ein Erdbeben.

Da war Blut an seinem Pyjama, viel und sehr feuchtes Blut. Es sah unecht aus, wie Ketchup.

Ich dachte an den Freund meines Onkels, den wir einmal besuchen wollten, als ich noch klein war. Der lag auch in so viel Blut auf dem Teppich. Der Teppich war im Eimer. Irgendwer sagte, ein Krankenwagen müsste kommen, aber keiner rief einen.

Der Mann auf dem Teppich damals war Schriftsteller, das ist ein sehr gefährlicher Beruf im Iran. Es wurde nie jemand für den Mord verhaftet, die Polizei sagte, die Spur verliefe sich im Dunkeln.

Aber ich dachte damals, dass ich einen Arzt rufen würde, wenn ich noch mal jemanden in so viel Blut fände.

»A doctor«, sagte ich zu dem Mann im Pyjama. »I will call a doctor. Bitte zu warten mit Sterben, until ich habe gefunden.«

Meine Hand zitterte, als ich das Handy bediente. Der Netzempfang war schlecht, ich wartete ewig. Im Licht des Displays sah ich das schmerzverzerrte Gesicht des Riesen. Es rasselte, wenn er Luft holte.

»This is an emergency«, sagte ich schließlich zu der Frau im Wolgaster Krankenhaus. »Do you speak English, please?«

»Was ist los?«, fragte sie.

Und ich sagte »Blut« und »Zinnowitz, beach, holiday house« und »schnell« – und dann sah ich neben mir eine Bewegung. Eine Bewegung, die nicht von dem röchelnden Mann herrührte.

Ich steckte das Handy blitzschnell weg und griff nach der Pistole, die noch auf dem Boden lag.

Sie war unerwartet schwer in meinen Händen.

»Wer ist da?«, fragte ich in die Dunkelheit. »I have weapon. Kommen Sie nicht naher.«

»Was?«, fragte eine Stimme, und dann ging das Licht an.

In der Tür zum Flur stand ein kleiner Junge.

Vielleicht acht Jahre alt.

Er war sehr dünn, trug eine viel zu große blaue Windjacke, dreckige Turnschuhe und eine löcherige Jeans. Seine Augen waren blaugrau und weit aufgerissen, was daran liegen konnte, dass ich die Pistole auf ihn gerichtet hielt. Ich senkte sie.

Der Junge starrte mich nur weiter an.

Schließlich öffnete er den Mund und sagte...

Erscheint lt. Verlag 19.7.2018
Mitarbeit Cover Design: Kathrin Schüler
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte Asylantrag • Coming of Age • Erwachsen werden • Flüchtling • Iran • Missverständnis • quer durch Deutschland • Raubüberfall • Roadtrip • seltsames Paar • Sprachstörung • Weglaufen • Zeugen
ISBN-10 3-96052-066-2 / 3960520662
ISBN-13 978-3-96052-066-5 / 9783960520665
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