Sorge dich nicht! (eBook)

Vom Verlust eines Bruders oder einer Schwester durch Suizid
eBook Download: EPUB
2013 | 1. Auflage
176 Seiten
Rüffer & Rub Sachbuchverlag
978-3-907625-73-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Sorge dich nicht! -  Samira Zingaro
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Sie arbeiten bei der Polizei, sind als selbständige Unternehmer tätig oder üben einen Pflegeberufaus, wohnten vor kurzem noch im Elternhaus, haben bereits eine Familie gegründet oder kümmern sich um die Enkel. Es sind Menschen, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Und doch verbindet sie eine traumatische Erfahrung: Sie alle verloren eine Schwester oder einen Bruder durch Suizid. Die Autorin und Journalistin Samira Zingaro rückt in ihrem Buch die Geschwister der Suizidenten ins Zentrum und dokumentiert ihre Trauer, die Selbstzweifel und Schuldgefühle. Zugleich zeigt sie, wie die Zurückgebliebenen mit dem letztlich Unbegreiflichen umgehen und dass sie trotz des schmerzlichen Verlustes ihr Leben meistern.

Es gab eine Zeit, da hatte Eberhard »Ebo« Aebischer-Crettol für jede und jeden jederzeit ein offenes Ohr. Mitte der 1990er-Jahre flackerte der Bildschirm seines Computers Tag und Nacht, täglich füllte sich sein Posteingang mit Zeilen von Hilfesuchenden, die um Rat und seine Unterstützung baten. Jahrelang boten der Theo-loge und seine Frau Zurückgelassenen nach Suizid ihren Beistand an, er als Seelsorger via E-Mail, sie per SMS. Heute hingegen ist es nicht einfach, mit ihm in Kontakt zu treten, denn nach über einem Jahrzehnt Seelsorge im Internet fuhr Ebo Aebischer eines Tages seinen Computer herunter, die Schicksale der Hinterbliebenen belasteten ihn zu sehr. Aebischers sind im Telefonverzeichnis nicht mehr registriert, ihre Fußspuren in der virtuellen Welt in den letzten Jahren verblasst. Die Nummer, die im Internet kursiert, ist außer Betrieb. Doch auf eine Postkarte reagiert der Pfarrer und studierte Chemiker.

Aebischers wohnen an begüterter Adresse an der Stadtgrenze zu Bern. Der ehemalige Seelsorger führt den Besuch in den Wintergarten, ein Zierbrunnen blubbert. Im Garten vor dem Haus kniet eine oxydgrüne Bronzestatue in gebeugter Haltung. Ebo Aebischer wägt seine Worte sorgfältig ab. Die ungezählten E-Mails füllen heute Bundesordner in seinem Arbeitszimmer, und der pensionierte Theologe hofft darauf,dass eines Tages ein Doktorand daran Interesse findet.

Ebo Aebischer, gilt Suizid heute noch als ein Tabu?

Sicher nicht mehr so stark wie früher. Die Gesellschaft sieht Suizid zunehmend als eine Möglichkeit an, aus dem Leben zu scheiden. Doch nimmt sich jemand das Leben, glauben viele Menschen, dass etwas in der betreffenden Familie nicht in Ordnung war. Diese Vorurteile, Anschuldigungen und die Angst vor Stigmatisierung existieren nach wie vor und sind der Grund, warum Hinterbliebene eine Selbsttötung oft verschweigen und sich oft auch ›auffällig‹ verhalten: Sie wechseln die Straßenseite, wenn ihnen ein Bekannter entgegenkommt oder gucken in ein Schaufenster, um nicht angesprochen zu werden.Außenstehende spüren diese Art Scham, wissen nicht, wie damit umgehen und vermeiden folglich das Thema.

Sind es nicht gerade die Außenstehenden, die nicht wissen, wie angemessen reagieren und dem Thema oder gar den Hinterbliebenen aus dem Weg gehen?

Dieses Verhalten zeigt sich auf beiden Seiten. Niemand weiß, wie mit einem solchen Tod umzugehen ist.

Was wäre der bessere Weg?

Das Wichtigste erscheint mir, sowohl von Seiten der Hinterbliebenen wie auch von Seiten der Bekannten, aufeinander zuzugehen und den Verlust direkt anzusprechen. Um ein Gespräch und Hilfe zu ermöglichen, sollten auch die Hinterbliebenen versuchen zu sagen: ›Schön, dass wir uns treffen.‹ Schon dieser Satz ist eine Einladung an das Gegenüber, weniger befangen mit den Hinterbliebenen umzugehen. Die andere Person kann diesen Satz aufnehmen und ganz ehrlich sagen: ›Ich bin sprachlos, ich weiß nicht, was sagen.‹ Oft hilft auch einfach eine Umarmung, die zeigt, dass jemand da ist und mitfühlt.

Den meisten Zurückgelassenen fehlt dazu die Energie.

Wenn der Tod ganz frisch ist, stehen die Hinterbliebenen unter einem derart heftigen Schock, dass sie entweder wie in Trance agieren und funktionieren oder völlig apathisch sind. In diesem schweren Zustand bietet es sich für einen Außenstehenden an, ungefragt einen Besuch abzustatten und den Trauernden zu essen oder zu trinken vorbeizubringen. Das empfinden Hinterbliebene normalerweise als sehr wohltuend – auch wenn sie die Geste mitunter in diesem Ausnahmezustand nicht richtig wahrnehmen.

Viele Hinterbliebene zerbrechen endgültig.

Die Resilienz, also die psychische Belastungsfähigkeit, spielt bei solchen Traumata eine zentrale Rolle. Manche Menschen verfügen über eine größere innere Spannkraft, um Schicksalsschläge zu überwinden. Nehmen wir das Beispiel eines Holzstocks. Man biegt ihn, bis er bricht. Das ist je nach Beschaffenheit des Holzes sehr unterschiedlich, und so verhält es sich auch mit unseren Resilienzen. Ein Bambusrohr bedarf einer viel größeren Kraft, um es zu knicken.

Inwiefern unterscheidet sich die Trauer nach Suizid von dem Schmerz, jemanden durch eine andere Todesursache verloren zu haben?

Wenn jemand aufgrund einer Krankheit stirbt, kann sich die Familie mit dem Ableben des Angehörigen beschäftigen – der Abschiedsprozess setzt bereits vor dem Tod ein. Manche erkrankte Kinder trösten nicht selten sogar die Eltern, bevor sie sterben.Verliert jemand bei einem Unfall sein Leben oder stirbt ganz plötzlich, hat dies nichts mit der Familie zu tun.Allen Leuten ist klar: Es ist furchtbar und tragisch, der Lastwagen fuhr rückwärts, sah die Person nicht und überfuhr sie. Die Trauer ist groß, aber nicht schamoder schuldbehaftet, es sei denn, der oder die Gestorbene ist noch sehr jung und die Eltern werfen sich vor, nicht genügend auf ihr Kind aufgepasst zu haben.

Scham und Schuld spielen bei Zurückgelassenen nach Suizid also eine wichtige Rolle?

Ja. Nimmt sich ein Familienmitglied das Leben, dann gerät das Gleichgewicht aus den Fugen. Es tauchen sofort Fragen auf:Wie war das möglich? Warum haben wir nichts gemerkt? Warum hat er oder sie uns nichts gesagt, warum konnten wir nicht auf die Signale achten, die sie oder er ausgesendet hat? Sind wir schuld am Tod? Folgen gegenseitige Beschuldigungen, kann eine Familie gar daran zersplittern. Ich kenne die statistischen Zahlen nicht, aber der größte Teil der Überlebenden hat selbst Jahre nach dem Suizid psychiatrische oder andere Begleitung nötig – das fordert eine Familie heraus.

Was raten Sie Hinterbliebenen, wenn sie ständig um die Warum-Frage kreisen?

Wenn sie wüssten, warum jemand sich das Leben genommen hat, was würde es ihnen bringen? Ich erwähne hier ein mir bekanntes Beispiel eines Botschafters, der sich von einer Brücke stürzte. Er landete praktisch unverletzt, denn er sprang an einer Stelle, an der ihn die Bäume abfederten, und trug nur Schürfwunden davon. Der behandelnde Psychiater fragte ihn, was ihm vor dem Sprung durch den Kopf gegangen sei. Der Botschafter sagte: ›Wenn ich das wüsste.‹ Die Gründe, warum sich jemand umbringt, sind nicht immer klar.

Wie wichtig sind Abschiedsbriefe?

Ich kann nicht sagen, sie sind sehr oder gar nicht wichtig. Ich habe aber festgestellt, dass Zurückgelassene, die nichts dergleichen gefunden haben, zusätzlich litten. Sie wünschten sich wenigstens ein Wort, einen Satz, auch wenn es nur ein ›Ich habe dich gern, es tut mir leid‹ ist. Umgekehrt kann es aber auch sein, dass in einem Abschiedsbrief schreckliche Wahrheiten an den Tag kommen oder Vorwürfe laut werden. Ist es deshalb mitunter nicht einfacher, sich vorzustellen, die Person hätte sicher etwas Gutgemeintes geschrieben?

Die größte Aufmerksamkeit nach einem Suizid erhalten meist trauernde Eltern oder Partner. Drohen dabei nicht die Geschwister vergessen zu gehen?

Der Tod reißt ein Loch in die Familie, an dessen Rand sich viele Eltern mit beiden Händen festkrallen. Folglich bleiben keine Hände mehr frei für die noch lebenden Kinder. Sie sind kaum mehr existent, steht doch die tote Person im Zentrum, ob ausgesprochen oder nicht. Ich kannte ein Elternpaar mit einer Tochter und einem Sohn. Der Junge zeigte Anzeichen einer psychischen Erkrankung, die Eltern erlebten mehrere Suizidversuche des Sohnes mit. Dieser Zustand zermürbte sie derart, dass sie sich sagten, es wäre vielleicht besser, er könne sterben. Ein Gedanke, entstanden aus Ratlosigkeit. Dann nahm sich der Sohn tatsächlich das Leben. Das war für die Eltern die allergrößte Schuldzuweisung, sie war so stark, dass die Mutter zwei Jahre später auch Hand an sich legte. Die noch lebende Tochter hatte nach dem Tod des Sohnes keine Rolle mehr gespielt im Familienleben. Ich habe die Mutter kurz vor ihrem Tod noch in einer Klinik besucht und ihr angeboten,Tag und Nacht für sie da zu sein. Doch auch diese Unterstützung konnte sie nicht retten.

Tendieren Eltern dazu, die verbliebenen Kinder als Krücke zu benutzen?

Das kann passieren, doch kein Kind darf zum Schutzengel der Eltern werden. Je freier man die Kinder gehen lässt, umso eher kommen sie zurück. Die besorgten Mütter und Väter laufen sonst Gefahr, das Einzige, was sie noch haben, zu zerdrücken und machen so die übrigen Kinder lebensunfähig.

Leiden Geschwister anders als Eltern?

Schuldgefühle können auch auf Seiten der Geschwister entstehen, das Verhältnis unter Brüdern und Schwestern ist bekanntlich oft geprägt durch Neid und Streitigkeiten. Nach einem Tod kann auch dies zu großen Selbstvorwürfen führen. Geschwister sind nicht unbedingt das ganze Leben lang ein Herz und eine Seele, bei den Eltern hingegen verhält sich die Liebe in den meisten Fällen anders. Es handelt sich um ihr ›Produkt‹, sie lieben die Kinder bedingungslos. Deshalb äußert sich auch die Trauer unterschiedlich: Verliert man das eigene Kind, verliert man ein Stück seines Selbst.

Eine Selbsttötung erschüttert bei vielen Hinterbliebenen das Selbstvertrauen, weil sie nicht mit dem Suizid eines Nahestehenden gerechnet haben.

Da stimme ich zu, doch, so sachlich es klingen mag, ›it happens‹. Man kann – zum Glück – nicht alles kontrollieren, zu unserem Lebensverlauf gehören eben auch Schicksalsschläge. Man kann es nicht begreifen, es gibt Dinge, die sind höher als die eigene Vernunft.Wenn wir alles kontrollieren könnten, wäre das Leben unerträglich. Ich kann nicht immer überall sein, sondern muss versuchen, zu vertrauen und loszulassen.

Sie führten als Seelsorger auch unzählige Einzelgespräche.Was waren die Hauptanliegen der Zurückgelassenen?

Hinterbliebene quälen sich häufig mit Fragen wie ›Alle sagen, der Tod müsse...

Erscheint lt. Verlag 10.12.2013
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Esoterik / Spiritualität
ISBN-10 3-907625-73-0 / 3907625730
ISBN-13 978-3-907625-73-6 / 9783907625736
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