Lost Girl (eBook)

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2017 | 1. Auflage
240 Seiten
Oetinger Taschenbuch (Verlag)
978-3-86418-047-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Lost Girl -  Johannes Groschupf
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Virtual Reality: Das Buch zum neuen Spiele-Trend! Ein verlassenes Waisenhaus mitten im Wald. Acht Berliner Jugendliche. Und ein Virtual-Reality-Game, das jedem Spieler gibt, was er sich insgeheim wünscht. Rasch entsteht ein Suchtfaktor, die Freunde beginnen sich zu verändern und es kommt zu Spannungen in der Gruppe. Schließlich verschwindet eins der Mädchen spurlos. Versuchungen, Gefahren und Abgründe der Gaming-Welt: Eine Geschichte nah an der Psyche der Figuren und hoch spannend erzählt!

Johannes Groschupf, 1963 in Braunschweig geboren, studierte Germanistik, Publizistik und Amerikanistik. Heute lebt er als freier Journalist in Berlin und schreibt für Die ZEIT, die FAZ, den Tagesspiegel, die Berliner Zeitung u.a. Er hat bereits zwei Romane für Erwachsene veröffentlicht und erhielt 1999 den Robert-Geisendörfer-Preis für das NDR-Feature 'Der Absturz'.

Johannes Groschupf, 1963 in Braunschweig geboren, studierte Germanistik, Publizistik und Amerikanistik. Heute lebt er als freier Journalist in Berlin und schreibt für Die ZEIT, die FAZ, den Tagesspiegel, die Berliner Zeitung u.a. Er hat bereits zwei Romane für Erwachsene veröffentlicht und erhielt 1999 den Robert-Geisendörfer-Preis für das NDR-Feature "Der Absturz".

6.Kapitel


Das Haus am Waldrand wirkte abweisend. Mürrisch. Ein Kinderheim aus alten Zeiten. Die alten Zeiten waren nicht immer gute Zeiten.

Mit den Jahren war das Haus gealtert, die Fenster waren blind, die Fassade schrundig. Unter dem abgeplatzten Putz lugte das Mauerwerk hervor, hässliche gelbe Ziegelsteine. Die Mauern wirkten an manchen Stellen eingesunken, an anderen wie krankhaft vorgewölbt. Auf dem Dachfirst hockte eine Gruppe von Krähen und blickte uns misstrauisch entgegen. Sie flogen nicht weg, sondern rückten enger zusammen, wie um sich gegen einen Eindringling zu wappnen.

Das war der Moment, in dem das Mädchen mit dem roten Schal zum ersten Mal mit mir redete.

»Irgendwoher kenne ich dieses Haus«, sagte sie.

Ich drehte mich zu ihr um. Sie stand neben mir, ich hatte sie nicht näher kommen hören. Die anderen standen weiter entfernt, alle kämpften noch mit ihren Eindrücken.

»Warst du schon mal hier?«, fragte ich sie.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ganz sicher nicht. Aber es kommt mir so bekannt vor.«

Sie sah mich an, als könnte ich das Rätsel für sie lösen. Und die Krähen schienen ebenfalls auf eine Antwort zu warten.

»Vielleicht hast du mal davon geträumt«, sagte ich.

»Wieso sollte ich?«

»Ich hatte eine Tante, die haben wir mal in so einer Anstalt besucht«, sagte ich. »Das Haus war auch so verfallen. Eine Klapsmühle. Ich habe noch Wochen später davon geträumt.«

Das Mädchen sagte nichts, sie schaute mich erwartungsvoll an. Ich streckte ihr meine Hand entgegen. »Jan.«

»Hannah«, sagte sie. Ihre Hand war lang und schmal. Sie hatte sehr helle Augenbrauen und Wimpern und rotblondes Haar. Ihr Blick war so intensiv, dass es fast schmerzte.

Die anderen holten zusammen mit dem Fahrer die Rucksäcke aus dem Auto. Die Kisten mit den Lebensmitteln. Die Koffer mit den VR-Brillen, Konsolen und Rechnern.

»Was ist aus deiner Tante geworden?«, fragte Hannah.

Ich schaute noch einmal hoch zum Giebel des Hauses. Das Fenster im ersten Stock war von innen vernagelt.

»Sie hat sich kurz darauf umgebracht.«

»Krass«, sagte sie. Weiter nichts, aber es kam mir okay vor. Sie kannte meine Tante nicht, und ich hatte sie auch nicht gut gekannt. Ihr Tod hatte mich tatsächlich nicht sehr berührt.

Ulf stellte sich zu uns und lächelte. »Gefällt es euch? Ich liebe dieses Haus. Es hat echt eine besondere Aura. War früher mal ein Kinderheim, heute wird es kaum noch genutzt. Ein altes Ehepaar schaut hier nach dem Rechten. Aber nicht dieses Wochenende. Da gehört es ganz allein euch.«

Wir versuchten, begeistert zu nicken. Lu und der Älteste von uns hatten ihre Rucksäcke schon auf und hoben gerade Kisten mit Lebensmitteln an, um sie ins Haus zu tragen.

Aber das Haus war noch zu, also stellten sie die Kisten wieder ab und warteten. Wir anderen standen untätig auf dem Vorplatz herum und scharrten im Kies. Vielleicht wurde den meisten erst jetzt klar, worauf sie sich eingelassen hatten. Für die Aussicht auf achthundert Euro. Geld, das jeder von uns offenbar so dringend brauchte, dass er bereit war, dafür ein Wochenende in der Brandenburger Einöde zu verbringen. Keine Eltern in Reichweite. Kein öffentlicher Nahverkehr. Kein Späti. Kein Handy. Kein Netz. Unsere Handys hatten wir zu Beginn der Fahrt bei Ulf abgegeben. Widerwillig. Aber so stand es in dem Vertrag, den wir alle beziehungsweise unsere Eltern unterschrieben hatten.

»Ihr habt hier doch sowieso keinen Empfang«, hatte Ulf gesagt. »Kriegt ihr wieder, wenn ich euch am Sonntagmittag abhole.« Und wir hatten sie ihm gegeben, einige zögerlicher als andere, aber am Freitagmittag, mitten in der Stadt, umgeben von Menschen, Autos, Zivilisation hatte sich der Gedanke an zwei Tage ohne Handy anders angefühlt als jetzt am Abend, am Rand eines riesigen Waldes.

Ich musterte die anderen.

Lu kannte ich ja schon, aber mir war nie aufgefallen, was für ein blasses, angestrengtes Gesicht er hatte – ein Gesicht, wie man es bekommt, wenn man nicht einschlafen kann. Weil die Eltern sich andauernd streiten. Oder weil das Mädchen, das man gut findet, nicht zurücktextet. Oder weil man mit Resident Evil VII nicht zurande kommt. Er stand da, klein und dünn, wippte unruhig auf den Füßen hin und her und betrachtete das Haus.

Der älteste Junge war groß und ziemlich durchtrainiert. Er hieß Alex, wie ich bald erfuhr. Gab sich lässig. Lehnte am Auto, kaute Kaugummi, wie schon die ganze Fahrt über, und wirkte irgendwie undurchschaubar. Seine Augen waren sowieso nicht zu sehen, die Sonnenbrille hatte er bisher kein einziges Mal abgenommen. Ich fand das übertrieben, weil sich die Aprilsonne nur ab und zu für Momente zeigte. Wahrscheinlich damit wir nicht vergaßen, dass es sie noch gab. Nele scharrte mit ihren Doc Martens Muster in den Kies. Ab und zu schaute sie hoch zu den Krähen und den vernagelten Fenstern. Eher desinteressiert. Unbeteiligt.

Ein anderes Mädchen war neben sie getreten. Sie hatte einen leichten holländischen Akzent und wirkte mit ihrem Prinzessinnenstyle vollkommen fehl am Platz. Sie betrachtete das Haus am misstrauischsten.

Hannah stand ein wenig abseits und schien immer noch darüber nachzudenken, warum es ihr so bekannt vorkam.

»Auf geht’s!«, sagte Ulf, und wir folgten ihm. Eine Herde beunruhigter, aber gehorsamer Schafe.

Er führte uns zum Seiteneingang und fummelte mit dem Schlüssel im Schloss, bis die Tür nachgab.

»Das habe ich mir echt anders vorgestellt«, flüsterte das Mädchen mit dem holländischen Akzent hinter mir. Sie sah eher aus, als wäre sie auf dem Weg ins Tropical Island. Sie trug Leopardenleggings, türkisfarbene Ballerinas und dazu passende türkisfarbene Plastikohrringe. Ihre Sonnenbrille hatte sie ins Haar gesteckt. »Das ist ja übel heruntergekommen. Ich dachte, die bringen uns in einem Hotel unter oder in einer Landvilla. Oh, nein, ich glaub, ich geh da nicht rein. Das stinkt ja schon von außen.«

Sie hatte recht. Ein muffiger Geruch schlug uns entgegen. Ulf versuchte ihn wegzulächeln und wedelte sich theatralisch mit der Hand vorm Gesicht herum.

»Ihr könnt natürlich auch mal durchlüften«, sagte er betont munter. Er drückte einen Lichtschalter, woraufhin eine nackte Glühbirne im Flur aufglomm. »Kommt näher, schaut es euch an! Es wird euch gefallen. Hundertpro!«

Wir trotteten an ihm vorbei. Keiner von uns, das hätte ich schwören können, hatte in diesem Moment wirklich Lust auf dieses Haus. Auf dieses Wochenende. Auf die Sessions mit ilinx. Dabei hatten wir in Berlin vier Casting-Nachmittage durchgemacht, um bei diesem Wochenende dabei sein zu dürfen. Stundenlange Interviews über unsere Vorlieben, Befürchtungen, Lieblingsspiele, Bücher, Filme, Freunde, Freizeitverhalten. Die Leute von Ulfs Firma hatten uns wirklich durchleuchtet. Aber sie boten jedem achthundert, wenn er das Casting überstand und dann an diesem Wochenende mit hier herauskam, um in die virtuellen Welten von ilinx einzutauchen. In Berlin wollten wir das, um jeden Preis.

»Ich würde so gern an eurer Session teilnehmen«, redete Ulf weiter. »Diese Erfahrung mit euch teilen. Ich bin sicher, dass ein unvergessliches Wochenende auf euch wartet. Ihr seid Pioniere an den Randbezirken unserer Realität. Ihr werdet Stars. Glaubt mir, dieses Wochenende wird euch unsterblich machen.«

Wir ließen ihn reden. Standen unentschlossen in der Küche herum, unsere Rucksäcke noch auf dem Rücken. Hannah sah nicht glücklich aus. Ihre Augen waren ganz dunkel. Sie kaute auf ihrer Unterlippe und schien unmerklich den Kopf zu schütteln. Sie sah mich an, als wäre es meine Entscheidung. Aber ich war noch nie gut darin, Entscheidungen zu treffen. Ich brachte es einfach nicht über mich zu sagen: Nein danke, ohne mich. Die anderen wären mir in diesem Augenblick vermutlich gefolgt. Aber ich sagte es nicht. Ich wollte kein Feigling sein. Und ich wollte nicht nach Berlin zurück, sondern nach Detroit. Ich wollte die achthundert Euro haben.

Ulf spielte mit seinen Autoschlüsseln. Alex stellte seine Kiste mit Lebensmitteln auf den Küchentisch. Das war wie ein Startschuss. Unsere Bedenken zerstreuten sich.

Lu stellte seine Kiste daneben. »Ich hab so einen Hunger«, sagte er. »Ich könnte sofort anfangen mit dem Abendessen.«

Wir mussten lachen. So ging es uns allen.

Ulf lächelte wieder. »Ich zeige euch noch das Kaminzimmer«, sagte er.

Wir folgten ihm in einen großen Raum. Er zog die schweren Vorhänge zur Seite. Die Fenster reichten beinahe bis zum Boden und ließen ein stilles Abendlicht herein. Der Raum war fast leer. Eine Couch, die ganz gemütlich aussah, ein flacher Tisch davor, gegenüber noch eine Couch, außerdem drei Sessel. Alles war ziemlich eingestaubt. In einer Ecke lagen leere Flaschen.

»Die hätten hier eigentlich aufräumen sollen«, sagte Ulf, und zum ersten Mal hörte er sich genervt an.

»Passt schon«, sagte Lu. »Das kriegen wir auch hin.«

Ulf sah auf seine Armbanduhr. »Mensch, ich müsste längst zurück in der Stadt sein. Tut mir leid, Leute. Den Rest des Hauses müsst ihr euch allein ansehen.«

Er ging hinaus. Wir liefen hinter ihm her, um das restliche Gepäck zu holen.

Ulf setzte sich hinter das Steuer des Kleinbusses und nickte uns mit breitem Lächeln zu. »Wie besprochen. Ihr könnt machen, was ihr wollt. Habt Spaß mit dem Spiel, kniet euch richtig rein. Die Auswertung machen wir dann in Berlin. Am Sonntagmittag hole ich euch wieder ab.«

Wir hoben die Hand, als er Gas gab und eine Runde vor dem Haus drehte, sodass der Kies aufspritzte. Wir winkten.

Ulf winkte nicht zurück. Er hatte es eilig,...

Erscheint lt. Verlag 21.8.2017
Reihe/Serie Lost Places
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte Abenteuer • Abgeschiedenheit • Freundschaft • Gaming • Geheimnis • Hütte im Wald • Jungen • Mädchen • Medien • Spannung • Suchtfaktor • Thriller • urban exploring • Verlassenes Haus • Verschwinden • Virtual Reality • Virtuelle Welten
ISBN-10 3-86418-047-3 / 3864180473
ISBN-13 978-3-86418-047-7 / 9783864180477
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