Wittgenstein und Heidegger (eBook)
448 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-04511-8 (ISBN)
Manfred Geier, geboren 1943 in Troppau, studierte Germanistik, Philosophie und Politik in Frankfurt/Main, Berlin und Marburg. Er lehrte viele Jahre Sprach- und Literaturwissenschaften an den Universitäten Marburg und Hannover. Jetzt lebt Manfred Geier als freier Publizist in Hamburg. Buchpublikationen, u.a.: Das Sprachspiel der Philosophen. Reinbek 1989; Der Wiener Kreis. Reinbek 1992; Karl Popper. Reinbek 1994; Das Glück der Gleichgültigen. Reinbek 1997; Orientierung Linguistik. Reinbek 1998; Fake. Leben in künstlichen Welten. Reinbek 1999; Kants Welt. Reinbek 2003; Martin Heidegger. Reinbek 2005; Worüber kluge Menschen lachen. Reinbek 2006; Was konnte Kant, was ich nicht kann? Reinbek 2006; Die Brüder Humboldt. Reinbek 2009; Aufklärung. Das europäische Projekt. Reinbek 2012; Geistesblitze. Eine andere Geschichte der Philosophie. Reinbek 2013; Leibniz oder Die beste der möglichen Welten. Reinbek 2016 (als E-Book); Wittgenstein und Heidegger. Die letzten Philosophen. Reinbek 2017.
Manfred Geier, geboren 1943 in Troppau, studierte Germanistik, Philosophie und Politik in Frankfurt/Main, Berlin und Marburg. Er lehrte viele Jahre Sprach- und Literaturwissenschaften an den Universitäten Marburg und Hannover. Jetzt lebt Manfred Geier als freier Publizist in Hamburg. Buchpublikationen, u.a.: Das Sprachspiel der Philosophen. Reinbek 1989; Der Wiener Kreis. Reinbek 1992; Karl Popper. Reinbek 1994; Das Glück der Gleichgültigen. Reinbek 1997; Orientierung Linguistik. Reinbek 1998; Fake. Leben in künstlichen Welten. Reinbek 1999; Kants Welt. Reinbek 2003; Martin Heidegger. Reinbek 2005; Worüber kluge Menschen lachen. Reinbek 2006; Was konnte Kant, was ich nicht kann? Reinbek 2006; Die Brüder Humboldt. Reinbek 2009; Aufklärung. Das europäische Projekt. Reinbek 2012; Geistesblitze. Eine andere Geschichte der Philosophie. Reinbek 2013; Leibniz oder Die beste der möglichen Welten. Reinbek 2016 (als E-Book); Wittgenstein und Heidegger. Die letzten Philosophen. Reinbek 2017.
Vorwort
Die Philosophie lebt zugleich in einer Spannung mit der lebendigen Persönlichkeit, schöpft aus deren Tiefe und Lebensfülle Gehalt und Wertanspruch.[1]
Martin Heidegger
Die Arbeit an der Philosophie ist – wie vielfach die Arbeit in der Architektur – eigentlich mehr die Arbeit an Einem selbst. An der eignen Auffassung. Daran, wie man die Dinge sieht. (Und was man von ihnen verlangt.)[2]
Ludwig Wittgenstein
Im Juni 1938 notierte sich Martin Heidegger in einem seiner mit schwarzem Wachstuch eingebundenen Hefte, die erst vor kurzem veröffentlicht werden durften und eine heftige philosophisch-politische Debatte auslösten,[3] einige Lebensdaten, die ihm bemerkenswert erschienen. Er wusste, dass es sich dabei nur um Zufallsereignisse handelte. Aber es sollte sich ihm doch etwas gezeigt haben, das er mit der unterstrichenen Überschrift hervorhob: «Spiel und Unheimlichkeit historischer Zeitrechnungszahlen im Vordergrund der abgründigen deutschen Geschichte.»[4] Dabei wies Heidegger unter anderem auf die folgenden Ereignisse hin: «1843 – Hölderlin geht aus der ‹Welt› und ein Jahr darauf kommt Nietzsche auf sie. 1883 – ‹Zarathustra I› kommt heraus und Richard Wagner stirbt. 1888 – Ende Dezember Nietzsches ‹Euphorie› vor dem Zusammenbruch und – – – (26. 9. 1889).»
Heidegger schrieb nur dieses besondere Datum auf, ohne es näher zu kennzeichnen. Schließlich wusste er selbst ja am besten, was am 26. September 1889 geschehen war. Es war sein Geburtstag gewesen. Unheimlich erschien ihm, dass er ausgerechnet in dem Jahr auf die Welt gekommen war, in dem sich Nietzsche aus ihr zurückgezogen hatte, nachdem er in Turin aus Mitleid einem geschundenen Droschkengaul um den Hals gefallen und nervlich völlig zusammengebrochen war.
Das Jahr 1889 lässt sich durch drei andere Geburtstage anreichern, die «abgründig» miteinander verbunden sind, wenn man sie rückblickend aus der Perspektive der deutschen Geschichte von 1938 sieht. – Am 16. April 1889 wurde Charlie Chaplin geboren, der 1938 das Drehbuch für seinen Film Der große Diktator schrieb, in dem Anton Hynkel gerade Osterlitsch überfallen hat als einen ersten Schritt zur angestrebten Weltherrschaft. – Vier Tage nach Chaplins Geburtstag kam am 20. April 1889 im österreichischen Braunau am Inn Adolf Hitler zur Welt, den Chaplin hasste, während ihn Heidegger als die Führergestalt bewunderte, in der sich, wie er glaubte, der neue Geist und die Größe einer völkisch-staatlichen Gemeinschaft aller Deutschen charismatisch konzentrierten. – Und am 26. April 1889, eine Woche nach Hitler, wurde in Wien Ludwig Wittgenstein geboren, der 1903/1904 gemeinsam mit Hitler die Oberrealschule in Linz besuchte, jedoch nicht in der gleichen Jahrgangsstufe. 1938 hielt er sich in Cambridge auf, wo er seit einigen Jahren philosophisch tätig war. Nun musste er erfahren, dass nach Hitlers Überfall seine Heimat dem Deutschen Reich einverleibt worden war, was für ihn bedeutete, infolge der «Nürnberger Gesetze zum Schutz deutschen Blutes und der deutschen Ehre» plötzlich ein jüdischer Deutscher geworden zu sein. Das war für ihn ein entsetzlicher Zustand, dem er so schnell wie möglich entkommen wollte durch den Erwerb der englischen Staatsbürgerschaft.
Dass Wittgenstein und Heidegger im selben Jahr geboren wurden und dass sie beide etwas mit Hitler zu tun hatten, mag zufällig gewesen sein. Es hätte auch anders sein können. Doch es gab einen ersten Anstoß, die Denk- und Lebenswege dieser beiden Philosophen in Beziehung zu setzen und sie in einer Doppelbiographie darzustellen. Gemeinsame «Zeitrechnungszahlen» lieferten dazu den geschichtlichen Rahmen. Im gleichen Alter verließen sie 1903 ihre Elternhäuser. 1911, am Ende ihrer Studien, wurden beide von der Philosophie ergriffen. Sie erlebten die Katastrophe des Großen Krieges, die ihre existenzielle Lebenseinstellung grundlegend veränderte. Die Zwischenkriegszeit, das «Dritte Reich», der Zweite Weltkrieg und die Nachkriegszeit hinterließen ihre Spuren im Welt- und Denkbild der beiden Philosophen. Die größte Differenz in politischer Hinsicht stellte dabei ihre Haltung in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre dar. Während sich Heidegger für die «Größe» des Nationalsozialismus begeisterte, reiste Wittgenstein in die Sowjetunion, wo er die letzten Reste seines bürgerlichen Stolzes abbauen wollte. Enttäuscht wurden beide. Heidegger fand nicht die Menschen, «die den Willen und die innere Kraft aufbringen, das Große ständig zu vergrößern»[5]; und Wittgenstein fühlte sich wie in einer Armee eingesperrt, wo er niemals wirklich seine Meinung äußern durfte, «und das ist für gebildete Menschen ziemlich schwierig»[6].
Eine Doppelbiographie muss die Ähnlichkeiten deutlich machen, die Wittgenstein und Heidegger verbinden, und die Unterschiede klarstellen, die sie voneinander trennen. Das betrifft sowohl ihre Lebensgeschichte und ihren Charakter als auch ihre Philosophie.
Beide haben in ihren frühen Hauptwerken versucht, eine «Fundamentalphilosophie» zu entwickeln. Wittgenstein rückte in seinem Tractatus logico-philosophicus die Welt-abbildende Sprache in den Mittelpunkt, während Heidegger in Sein und Zeit das In-der-Welt-sein des menschlichen Daseins zu verstehen versuchte. Und beide haben fast zur gleichen Zeit ihre revolutionären Kehren oder Wenden zu ihren späten Werken vollzogen. Während Heidegger dabei immer allgemeiner und abstrakter wurde, das Dasein hinter sich ließ und das «Sein» selbst zur Sprache bringen wollte, begann Wittgenstein, sich immer genauer und differenzierter den alltäglichen Sprachgebrauch anzuschauen und in den Zusammenhang menschlicher Lebensformen einzubinden.
Persönlich begegnet sind sie sich nie, und es ist schwer vorstellbar, was geschehen wäre, wenn es zu einem Aufeinandertreffen des hochgradig empfindsamen Wittgenstein mit dem rustikal auftretenden, streitbaren Heidegger gekommen wäre.
Den entscheidenden Impuls, Heidegger und Wittgenstein nicht einfach nebeneinanderzustellen oder einzelne ihrer philosophischen Gedanken herauszugreifen und gegeneinander auszuspielen,[7] lieferte Heideggers Hinweis, dass er in jenem Jahr geboren wurde, als Nietzsche sich nach seiner letzten euphorischen Phase in seine eigene Welt zurückzog. Denn 1889 hatte Nietzsche die Frage «Was ist ein Philosoph?» mit einer Charakterisierung beantwortet, die heute als antiquiert erscheinen muss: «Ein Philosoph, das ist ein Mensch, der beständig außerordentliche Dinge erlebt, sieht, hört, argwöhnt, hofft, träumt; der von seinen eignen Gedanken wie von außen her, wie von oben und unten her, als von seiner Art Ereignissen und Blitzschlägen getroffen wird; der selbst vielleicht ein Gewitter ist, welches mit neuen Blitzen schwanger geht; ein verhängnisvoller Mensch, um den herum es immer grollt und brummt und klafft und unheimlich zugeht. Ein Philosoph: ach, ein Wesen, das oft von sich davon läuft, oft vor sich Furcht hat, – aber zu neugierig ist, um nicht immer ‹zu sich zu kommen› …»[8]
Es war, wie gesagt, eine zufällige Zeitgleichheit, dass Nietzsche ausgerechnet in dem Jahr in den dunklen Abgrund seines göttlichen Größenwahnsinns stürzte, in dem Wittgenstein und Heidegger das Licht der Welt erblickten. Aber philosophiegeschichtlich bedeutsam ist, dass beide dem Bild entsprachen, das Nietzsche vom sonderbaren Wesen eines Philosophen gezeichnet hatte. Sie selbst haben es ebenso gesehen. Denn auch für sie war das Philosophieren keine professionalisierte Kultur der Nachdenklichkeit, die den Regeln klarer und deutlicher Begriffsbildung und rationaler Argumentation folgt. Eine akademische Welt, in der hochgradig spezialisierte Berufsphilosophen mit Argumenten und Gegenargumenten gemeinsam bestimmte Probleme zu lösen versuchen, war beiden fremd. Seit Anfang der zwanziger Jahre zogen sie sich deshalb am liebsten in ihre Hütteneinsamkeiten zurück, um ungestört denken zu können. Philosophieren war für sie eine Leidenschaft, die sie ergriffen hatte und Werke entstehen ließ, die nur aus der Spannung zu ihren besonderen Charakteren verstanden werden können. In ihnen war am Arbeiten, was Nietzsche als «Trieb, der philosophiert»[9] diagnostiziert hatte, der sich nicht eingrenzen und disziplinieren ließ, sondern bis zu jenem Unsagbaren drängte, das sich, Heidegger wie Wittgenstein zufolge, nur in großen künstlerischen, dichterischen und religiösen Werken zeigen konnte.
Als letzte Philosophen gehörten beide zu einem Typus, der Geschichte geworden ist. Sie waren Solitäre wie all die Philosophen, die seit den griechischen Anfängen kosmologischer und metaphysischer Welterklärung einen eigenen Sprachstil entwickelten, mit dem zugleich ein neuer Denkstil erprobt wurde. Als lebendige Persönlichkeiten, die lehrten, die Welt mit anderen Augen zu sehen und sprachlich neu zu denken, verantworteten sie das Eigenwillige ihres Philosophierens, das sich selbsttätig anzutreiben schien. Ihre Zeit ist abgelaufen. Denn heute kann kein Einzelner mehr in der Lage sein, die Welt als alles, was der Fall ist, so zu durchschauen, dass er eine philosophisch tief begründete theoretische oder praktische Orientierung geben könnte.
Wittgenstein und...
Erscheint lt. Verlag | 17.2.2017 |
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Zusatzinfo | Zahlr. s/w Abb. |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • 20. Jahrhundert Philosophen • bedeutende Denker des 20. Jahrhunderts • bedeutende Philosophen • Cambridge • deutsche Philosophen • Ethik und Moral • Freiburg • Judentum • Lebenswege Philosophen • Logik • Nationalsozialismus • Philosophie • Philosophiegeschichte • Philosophische Auseinandersetzung • philosophische konzepte • Sein • Sprache • Todtnauberg • Weltkrieg • Wien • Zeit • zentrale Themen der Philosophie |
ISBN-10 | 3-644-04511-9 / 3644045119 |
ISBN-13 | 978-3-644-04511-8 / 9783644045118 |
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