Ich gebe dir die Sonne (eBook)

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2016 | 1. Auflage
480 Seiten
cbj Kinder- & Jugendbücher (Verlag)
978-3-641-19040-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ich gebe dir die Sonne -  Jandy Nelson
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Am Anfang sind Jude und ihr Zwillingsbruder Noah unzertrennlich. Noah malt ununterbrochen und verliebt sich Hals über Kopf in den neuen, faszinierenden Jungen von nebenan, während Draufgängerin Jude knallroten Lippenstift entdeckt, in ihrer Freizeit Kopfsprünge von den Klippen macht und für zwei redet. Ein paar Jahre später sprechen die Zwillinge kaum ein Wort miteinander. Etwas ist passiert, das die beiden auf unterschiedliche Art verändert und ihre Welt zerstört hat. Doch dann trifft Jude einen wilden, unwiderstehlichen Jungen und einen geheimnisvollen, charismatischen Künstler ...

Jandy Nelson ist wie Noah und Jude in einem abergläubischen Haushalt aufgewachsen. Schon als kleines Mädchen wurde ihr beigebracht, wie man vierblättrige Kleeblätter aufstöbert; sie klopft auf Holz, wirft Salz über die Schulter und trägt Glücksbringer mit sich herum. Ihr Debüt Über mir der Himmel stand auf mehreren Bestenlisten und wurde ein großer internationaler Erfolg. Ihr zweiter Roman Ich gebe dir die Sonne ist New York Times-Bestseller, die Filmrechte sind an Warner Brothers verkauft, er stand ebenfalls auf mehreren Bestenlisten und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Printz Award. Derzeit lebt Jandy Nelson in Kalifornien - nicht weit von den Schauplätzen aus Über mir der Himmel und Ich gebe dir die Sonne -, wo sie sich ganz dem Schreiben widmet.

Noah

13 Jahre

So fängt alles an.

Mit Zephyr und Fry – den Soziopathen von nebenan –, die hinter mir hergeschossen kommen, und dem Waldboden, der unter meinen Füßen bebt, während ich durch Luft, Bäume, gleißend grelle Panik sprenge.

»Du gehst über die Kante, du Pussy!«, brüllt Fry.

Dann ist Zephyr auf mir, drückt mir einen, beide Arme auf den Rücken, und Fry hat sich meinen Skizzenblock gegrapscht. Ich will ihn mir zurückholen, doch ich bin armlos, hilflos, versuche, mich aus Zephyrs Griff zu winden. Keine Chance. Ich blinzele, damit die beiden sich in Motten verwandeln. Nichts da. Sie sind immer noch sie selbst: Fünf Meter lange Arschgeigen aus der Zehnten, die aus lauter Jux und Tollerei lebende, atmende dreizehnjährige Menschen wie mich von der Klippe stoßen.

Zephyr hat mich in den Schwitzkasten genommen, seine Brust brandet an meinen Rücken, mein Rücken an seine Brust. Wir schwimmen in Schweiß. Fry blättert den Block durch. »Was hastn gemalt, Bubble?« Ich stelle mir vor, wie er von einem Laster überrollt wird. Er hält ein Blatt mit Skizzen hoch. »Zeph, guck dir mal die ganzen nackten Kerle an.«

In meinem Körper stockt das Blut.

»Das sind keine Kerle. Das ist der David«, stoße ich hervor und bete, dass ich mich nicht anhöre wie eine Rennmaus, bete, dass er nicht weiterblättert zu den Zeichnungen, die ich heute gemacht habe, als ich sie heimlich beobachtet habe, Zeichnungen von ihnen, wie sie aus dem Wasser gestiegen sind, mit ihren Surfbrettern unterm Arm, ohne Neoprenanzüge, ohne alles, total glitzernd und – äh – Händchen haltend. Da habe ich mir vielleicht ein wenig künstlerische Freiheit zugestanden. Sie werden also denken … Oh Mann, das war’s dann wohl. Ich bin so gut wie tot. Die Welt beginnt Saltos zu schlagen. Ich schleudere Fry Worte entgegen: »Sagt dir das was? Michelangelo? Schon mal gehört?« Ich werde nicht so handeln wie sonst immer. Mach auf hart, dann bist du hart, wie Dad immer sagt und sagt und sagt – so als wäre ich irgendein kaputter Regenschirm.

»Ja, von dem hab ich gehört«, kommt über Frys fette Punschlippen, die sich mit seinen übrigen feist wulstenden Zügen unter der gewaltigsten Stirn der Welt drängeln, sodass man ihn nur allzu leicht mit einem Nilpferd verwechseln könnte. Er reißt das Blatt aus dem Block. »Hab gehört, der war schwul.«

War er wirklich – meine Mom hat ein ganzes Buch über ihn geschrieben. Was Fry natürlich nicht weiß. Er nennt jeden schwul, wenn er nicht gerade Homo oder Pussy besser findet. Und in meinem Fall: Homo und Pussy und Bubble.

Zephyr lacht ein finsteres Dämonenlachen, dessen Vibrationen mich durchlaufen.

Fry hält die nächste Skizze hoch. Noch ein David. Die untere Hälfte von ihm. Eine Detailstudie. Ich erstarre.

Jetzt lachen sie beide. Es hallt im Wald wider. Es kommt aus Vögeln raus.

Wieder versuche ich, mich aus Zephyrs Griff zu befreien, damit ich Fry den Block aus der Hand reißen kann, aber Zephyr packt nur noch fester zu. Zephyr, der der verdammte Thor ist. Einer seiner Arme schlingt sich um meinen Hals, der andere spannt sich über meinen Rumpf wie ein Sicherheitsgurt. Er ist oben ohne, kommt direkt vom Strand, und seine Hitze sickert durch mein T-Shirt. Sein Kokossonnenöl kriecht mir in die Nase, den ganzen Kopf – der starke Geruch des Meeres auch, so als würde er es auf dem Rücken tragen … Zephyr, der die Gezeiten hinter sich herschleppt wie eine Wolldecke … Das wäre gut, ja, das wär’s doch (Porträt: Der Junge, der sich mit dem Meer davonmachte) – aber nicht jetzt, Noah, das ist jetzt überhaupt nicht der Moment für ein Kopfbild von diesem Vollidioten. Blitzschnell bin ich wieder da, schmecke das Salz auf den Lippen, rufe mir in Erinnerung, dass ich gleich sterben werde …

Zephyrs langes Algenhaar tropft mir auf Nacken und Schultern. Wir atmen synchron, schwere, wuchtige Atemzüge. Ich versuche, diesen Rhythmus zu durchbrechen, ich versuche die Gesetze der Schwerkraft außer Gefecht zu setzen und nach oben zu gleiten. Schaffe weder das eine noch das andere. Kann nichts machen. Der Wind reißt Fetzen meiner Zeichnungen – jetzt hauptsächlich Familienporträts – aus Frys Händen, während der ein Blatt nach dem anderen zerfetzt. Er reißt eins von mir und Jude mittendurch, reißt mich raus aus dem Bild.

Ich beobachte, wie ich weggeweht werde.

Ich beobachte, wie er den Zeichnungen immer näher kommt, die mich das Leben kosten werden.

Der Puls dröhnt mir in den Ohren.

Dann sagt Zephyr: »Zerreiß sie nicht, Fry. Seine Schwester sagt, er ist gut.« Weil er Jude mag? Die meisten mögen sie jetzt, weil sie härter surft als alle anderen, gern von Klippen springt und keine Angst hat, vor gar nichts, nicht mal vor großen weißen Haien oder Dad. Und wegen ihrer Haare – ich verbrauche all mein Gelb, wenn ich die male. Sie sind Hunderte von Meilen lang, und in Nordkalifornien muss jeder befürchten, sich darin zu verheddern, besonders kleine Kinder und Pudel und jetzt auch noch Arschgeigensurfer.

Und dann sind da auch noch ihre Möpse, die per Nachtkurier geliefert wurden, ich schwör’s.

Unglaublich, Fry hört auf Zephyr und lässt den Block fallen.

Jude guckt vom Blatt zu mir hoch, sonnig, wissend. Danke, sage ich im Kopf zu ihr. Sie rettet mich ständig, und normalerweise ist das peinlich, aber jetzt nicht. Das war bloß fair.

(Porträt, Selbstporträt: Zwillinge: Noah in den Spiegel schauend, Jude aus dem Spiegel heraus schauend)

»Du weißt, was wir mit dir machen, oder?«, keucht Zephyr mir ins Ohr, der wieder in die Menschen mordende Werkseinstellung zurückgefallen ist. In seinem Atem ist zu viel von ihm. Auf mir ist zu viel von ihm.

»Bitte, Jungs«, flehe ich.

»Bitte, Jungs«, äfft mich Fry mit quietschender Mädchenstimme nach.

Mir dreht sich der Magen um. Der Devil’s Drop, die zweithöchste Absprungstelle des Hügels, von dem sie mich werfen wollen, trägt diesen Namen nicht ohne Grund. Darunter befinden sich eine Gruppe zerklüfteter Felsen und fiese Strudel, die tote Gebeine in die Unterwelt hinabzerren.

Wieder versuche ich, Zephyrs Griff zu entkommen. Und noch mal.

»Nimm seine Beine, Fry!«

Fry stürzt sich mit seinen ganzen sechstausend Nilpferdpfund auf meine Knöchel. Sorry – das passiert jetzt nicht in echt, oder? Das geht einfach nicht. Ich hasse das Wasser, ich neige nämlich dazu, zu ertrinken und nach Asien abzutreiben. Und ich brauche meinen Schädel noch, heil und intakt. Wenn der jetzt zertrümmert wird, wär das so, als würde man sich mit der Abrissbirne über ein geheimes Museum hermachen, bevor irgendjemand überhaupt sehen konnte, was da drinnen ist.

Also wachse ich. Und wachse und wachse, bis ich mit dem Kopf an den Himmel knalle. Dann zähle ich bis drei und raste total aus, dabei danke ich Dad im Geiste für all die Ringkämpfe auf der Terrasse, zu denen er mich gezwungen hat. Kämpfe auf Leben und Tod, bei denen er nur einen Arm einsetzen durfte und ich alles – und trotzdem hat er mich immer auf die Matte gedrückt, weil er zehn Meter groß ist und aus Lastwagenteilen besteht.

Aber ich bin sein Sohn, sein ungeheuerlicher Sohn. Ich bin ein wirbelnder, arschtretender Goliath, ein Taifun aus Fleisch und Blut – und auf einmal winde ich mich, schlage um mich und versuche mich zu befreien, und sie ringen mich wieder nieder, lachen und sagen Sachen wie: »Was für eine Schwuchtel.« Und ich meine Respekt herauszuhören, sogar aus Zephyrs Stimme, der sagt: »Ich kann ihn nicht unten halten, der ist wie ein verfickter Aal.« Und das spornt mich nur noch mehr an. Ich liebe Aale, vor allem die elektrischen – ich stelle mir vor, dass ich eine unter Strom stehende Leitung bin, voll geladen mit meiner ganz persönlichen Voltzahl, während ich mal hierhin, mal dahin peitsche und spüre, wie sich ihre Körper um meinen winden, warm und glitschig. Beide drücken mich immer wieder auf den Boden und ich breche immer wieder aus, all unsere Gliedmaßen sind miteinander verflochten, und jetzt drückt Zephyr mir den Kopf auf die Brust und Fry ist mit hundert Händen hinter mir und es fühlt sich nur noch nach Bewegung und Durcheinander an und ich gehe darin unter, bin verloren, verloren, verloren, als sich in mir der Verdacht regt … als mir klar wird, dass ich ein Rohr habe, ein übernatürlich großes, hartes Rohr, das sich in Zephyrs Bauch bohrt. Furcht in hoher Oktanzahl kreist in mir. Ich rufe das blutigste, höllisch widerlichste Machetenmassaker in meiner Vorstellung wach – mein effektivster Schlaffmacher –, doch es ist zu spät. Zephyr erstarrt für einen Moment, dann springt er von mir runter.

»Was zum …?«

Fry wälzt sich auf die Knie. »Was ist los?«, keucht er in Zephyrs Richtung.

Ich bin herumgewirbelt und auf dem Hintern gelandet, mit den Knien an der Brust. Aufstehen kann ich nicht, aus Angst vor einem Zelt, deshalb lege ich alle Anstrengung in den Versuch, nicht zu weinen. Das widerliche Gefühl, ertappt worden zu sein, wühlt sich in jeden Winkel meines Körpers, als ich meine letzten Atemzüge keuche. Und selbst wenn sie mich nicht jetzt und hier umbringen, bis heute Abend wird jeder auf dem Hügel wissen, was eben vorgefallen ist. Ich kann auch gleich eine angezündete Stange Dynamit schlucken und mich selbst vom Devil’s Drop stürzen. Das hier ist schlimmer, so viel schlimmer, als dass sie ein paar blöde Zeichnungen sehen.

(Selbstporträt: Begräbnis im Wald)

Doch Zephyr sagt nichts, er steht bloß da, so ganz Wikinger wie immer, nur...

Erscheint lt. Verlag 21.11.2016
Übersetzer Catrin Frischer
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel I’ll give you the Sun
Maße 140 x 140 mm
Themenwelt Literatur
Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte ab 14 • eBooks • Erste Liebe • Familie • Geschwister • Jugendbuch • Jugendbücher • Kalifornien • Kunst • LGBTQ • Liebesromane • Malen • New York Times Bestseller • pride • pridemonth • Pubertät • Queer • Selbstwert • Verrat • Versöhnung • Young Adult • Zwillinge
ISBN-10 3-641-19040-1 / 3641190401
ISBN-13 978-3-641-19040-8 / 9783641190408
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