Vor der Verwandlung (eBook)
171 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-1205-4 (ISBN)
Erwin Strittmatter wurde 1912 in Spremberg als Sohn eines Bäckers und Kleinbauern geboren. Mit 17 Jahren verließ er das Realgymnasium, begann eine Bäckerlehre und arbeitete danach in verschiedenen Berufen. Von 1941 bis 1945 gehörte er der Ordnungspolizei an. Nach dem Kriegsende arbeitete er als Bäcker, Volkskorrespondent und Amtsvorsteher, später als Zeitungsredakteur in Senftenberg. Seit 1951 lebte er als freier Autor zunächst in Spremberg, später in Berlin, bis er seinen Hauptwohnsitz nach Schulzenhof bei Gransee verlegte. Dort starb er am 31. Januar 1994. Zu seinen bekanntesten Werken zählen sein Debüt 'Ochsenkutscher' (1950), der Roman 'Tinko' (1954), für den er den Nationalpreis erhielt, sowie die Trilogie 'Der Laden' (1983/1987/1992).
Am Nachmittag wollte ich mir ansehen, was Ernstle geschafft hatte. Am Wegrand lagen drei gefällte Bäumchen. Aus der Schonung kam das Gestöhn von Ernstle. Ich ging nach ihm sehen. Er mühte sich ab, eine gefällte Jungkiefer quer zu den Schonungsreihen aus dem Wäldchen zu schieben. Manchmal kam der Bäumling von selber in eine Schieflage, dann glückte es, und Ernstle kam ein Stück weiter mit ihm. Hast du das gesehn, dachte ich, und immer dachte ich, die Schildbürgerstreiche hätte sich jemand mühevoll erdacht. Die Waldarbeiter hatten Feierabend, schoben ihre Fahrräder durch den Sand, sahen Ernstle in der Schonung, stießen einander an, sieh mal an, der Bua arbeitet. Der Bua, so wurde Ernstle daheim vom Wilhelminele genannt. Aber es kommt alles unter die Leute, da ist kein Ritz zu schmal. Der Bua arbeitet. Ich horchte auf, ich stutzte und wurde neugierig auf das, was mir Ernstle noch bieten würde. Das Arbeitsergebnis von Ernstle waren an diesem Tage fünf abgesägte Jungkiefern die traurig am Wegrand lagen, und einige andere Jungkiefern, im Bestand, deren Rinden Ernstle mit seinem merkwürdigen Holztransport verletzt hatte und die still ihre honigartigen Harztränen weinten, als der Mond aufging.
Am nächsten Tag kam Ernstle nicht zur Arbeit. Dafür kam das Wilhelminele und erkundigte sich, ob etwas geschehen sei. Leider nicht, es sei so gut wie gar nichts geschehen, sagte ich. Als ich mich leise über die ungenügende Arbeitsleistung vom Ernstle beklagte, blätterte das Wilhelminele in dem Block der bereitliegenden Entschuldigungen. Ich hätte Ernstle wohl am falschen Ende an die Arbeit gesetzt. Mit Holzarbeiten wäre er ganz und gar nicht vertraut. Und wo war Ernstle? Er saß zu Hause, die Zigarre im Mund, und studierte. Dazu muß man wissen, daß in jener Zeit der Drang bestand, sich wissenschaftlich auszudrücken, selbst eine Zeitung las man nicht, man studierte sie. Und Ernstle studierte die gesammelten Reden Stalins. Er hatte sie jedenfalls vor sich liegen, las, bewegte die Lippen, die Zigarre wackelte, und Zigarrenqualm hüllte die gedruckten Reden Stalins ein. Das Wilhelminele wußte auch daraus eine Tugend vom Ernstle zu filtern. Weischt, er ist von allen Mitgliedern der Ortsgruppe stets am beschte im Parteilehrjahr vorbereitet. Wenn er sich mit seinem Stalin beschäftige, sei er nicht aus den Büchern zu kriegen. Ich möge es dem Ernstle, besonders ihr, nicht verübeln und Ernstle wieder heranholen und vielleicht im Garten beschäftigen. Ich tat so und ließ Ernstle am nächsten Tag die Erdbeeren im Garten behacken. Er tats nicht ungeschickt, wußte das Unkraut von den Erdbeerpflanzen zu unterscheiden. Eine halbe Stunde lang stieg blauer Rauch vom Erdbeerfeld auf, wenn ich aus meiner Arbeitsstube nach Ernstle sah. Aber dann wurde mit voller Faust an meine Stubentür geklopft, Klopfzeichen Marke Ernstle, ihm sei so merkwürdig im Kopf. Das müßten wohl Kopfschmerzen sein, ob ich wohl eine Zigarre für ihn übrig hätte. Ich ließ ihn eine schmerzstillende Tablette schlucken, gab ihm eine Zigarre und wies ihn an, die erst anzubrennen, wenn die Kopfschmerzen verflogen wären.
Schon nach fünf Minuten stieg wieder blauer Zigarrenrauch aus dem Erdbeerbeet, und mit dem Rauch, den die Zigarre von sich gegeben hatte, verschwand auch Ernstle um die zehnte Vormittagsstunde.
Am Abend ging ich nach ihm sehen. Natürlich wußte das Wilhelminele ihn zu entschuldigen. Diese Kopfschmerzen, schon seit seiner Schülerzeit plage sich der arme Junge damit. Manchmal seien die Kopfschmerzen so schlimm, daß sie für sie, die da außen stände, sichtbar wären. Ernstles Kopf röte und vergrößre sich. Besonders, wenn Ernstle genügend Freibier getrunken hätte, ergänzte Albert, der an diesem Abend daheim war. Wie kannscht so über den Bua rede, wies ihn Wilhelminele zurecht.
Damals wars gefährlich, Stalins Reden zu betadeln, so gefährlich, wie in der Zeit, die wir vorher hatten, etwas Abträgliches gegen die Hitlerbibel Mein Kampf zu sagen. Könnte es nicht sein, daß Stalins zukunftbezogene Reden und die Wirklichkeit, in der Ernstle lebt, ihn verwirrten und die Kopfschmerzen herbeiführten, sagte ich vorsichtig, sehr vorsichtig. An diese Möglichkeit hatte auch das Wilhelminele schon gedacht, und sie hätte die Absicht gehabt, Ernstle eine andere Lektüre zu unterschieben. Es stehen da im Regal fünf Bücher, von einem Manne geschrieben, der freilich schon älter wäre als der Genosse Stalin. Zur Vorsorge habe sie jedoch erst selber ein wenig drin gelesen, und sie habe lauter dunkle Gedanken darinnen gefunden. Ich wurde neugierig. Ob ich diese Bücher sehen dürfe? Ich durfte. Der Mann, um den es sich handelte, war Schopenhauer, und die fünf Bücher waren die Großherzog-Wilhelm-Ernst-Ausgabe, auf Dünndruckpapier vom Insel Verlag gedruckt. Ich hatte Schopenhauer schon in meiner Fabrikarbeiterzeit gelesen. Billige Reclam-Bände. Meine erste Frau hatte sie in einem Antiquariat zu Kinogeld umgeformt. Lüstern blätterte ich in der Insel-Dünndruckausgabe. Wer konnte wissen, wie sie sich in die Obentrautsche Wohnung verirrt hatte? Nach dem Weltkrieg römisch zwei waren viele Dinge als Tauschobjekte unterwegs. Wer hätte herausfinden wollen, in die Bibliothek welches Gutsbesitzers oder Schloßherrn die Schopenhauerbände gehörten.
Das Wilhelminele bat mich, es doch noch einmal mit ihrem Ernstle zu versuchen, er habe ja nicht alle Tage Kopfschmerzen. Wenn ich Lust hätte, könnte ich die fünf Schopenhauerbände mitnehmen und behalten. Mitnehmen und behalten ja, aber nicht unentgeltlich. Ich zahlte dem Wilhelminele einige Tage später hundert Mark, weiß ich, und das war ein rechter Segen für ihre magere Haushaltskasse. Und so war es eigentlich Schopenhauer, der mich willig machte, es noch einmal mit Ernstle zu versuchen. Aber auch aus diesem von Schopenhauer abgesegneten Arbeitsverhältnis wurde nichts. Ich nagelte die Heureuter zusammen. Ernstle sollte mir zuarbeiten, sollte die Stangen nach Maß zurechtschneiden. Eine Weile gings gut, aber eben nur eine Weile, dann stimmten die Maße der Stangen nicht mehr, und ich sah, wie Ernstle, wenn die Länge der Stange nicht ausreichte, den Zollstock weiterschob, bis das Stangensoll erreicht war. Es kam zu keiner Zusammenarbeit mit Ernstle. Das Wilhelminele bedauerte es zeit ihres Lebens und verstieg sich zu allerlei gewagten Behauptungen, wie zum Beispiel, der einzige Mensch, den ihr Ernstle wirklich respektiere, sei ich. Und eine andere Behauptung lautete, daß, wenn ihr Ernstle mit einer solchen Frau wie meiner Eva verheiratet sein könnte, er mit seiner geistigen Veranlagung und Hinwendung zu den Büchern auch was Ähnliches geworden wäre wie ich.
Ach ja, ach ja, der Ernstle, ohne daß eine der Behauptungen seines Mütterleins zutraf, meldete er sich von Zeit zu Zeit, solang das Wilhelminele noch lebte, bei mir. Einmal sagte er, ich habe es mir überlegt und bin ein anderer Mensch geworden, Genosse Strittmatter. Oder er sagte, ich habe mir grundlegend verbessert, und wenn ichs nicht glauben würde, könnte ich ja sein Mütterlein fragen. Nun, wir werden noch hören, in welcher Weise Ernstle sein Leben verbesserte.
Merkwürdige Leute besuchten uns. Sie hatten ihren Besuch schon zwei Wochen vorher angekündigt. Ein Herr Rat und seine Frau vom Rhein. Weshalb sollten wir mit solchen Leuten nicht einmal sprechen, da wir jetzt doch Bonn unterstellt waren? Die Frau des Regierungsrates beschenkte mich mit einer Tube total wirksamer Antirheuma-Salbe, und er beschenkte mich mit drei Flaschen weißem Moselwein. Der Herr Rat verfügt über eine Glatze, die nicht kleiner ist als meine. Doch er ließ sein Schläfenhaar in die Länge wachsen und bauschte es auf, und es steht ihm zu Kopfe wie die Gänseflügel am Helm von Gott Hermes.
Er packt mindestens dreißig Bücher von mir und Evchen auf den Tisch und will sie signiert haben. Einen Teil der Bücher scheint er sich aus Antiquariaten zusammengeschleppt zu haben.
Zuerst beschnüffelt man einander. Die untersetzte Frau hat ein gütiges Gesicht. Das Gesicht des Herrn Rats ist schwer zu deuten. Wenn sie so reden, jedenfalls Leute mit dem achtundsechziger Linksdrall. Sie kritisieren die Regierung, die ja jetzt auch die unsre ist. Die meisten Politiker wären korrupt (das wissen wir inzwischen auch). Sie knurren, aber beißen nicht, heißts von den Politikern. Aber unsere Besucher knurren und beißen eben auch nicht, mit Rücksicht auf ihre feste Anstellung. Quintessenz: Man schreit empört nach Gerechtigkeit und gesteht, daß man gegen die Ungerechtigkeit als Kleiner Leut nichts tun kann. Selbst Revolutionen helfen nur für kurze Zeit oder gar nicht. Ich riet, man sollte sich der Wünsche nach einer Weltgerechtigkeit entschlagen und in dieser Hinsicht stolz und unangreifbar werden. Aber das lag nicht in den Erwägungen des Herrn Regierungsrates. Er war dafür, die Haltung der zu kurz Gekommenen zu kultivieren, war bereit, auf neue oder frisierte Utopien einzusteigen.
Vor dem Treppenpodest am alten Haus steht eine stämmige Wegwartenstaude, und ihre zartblauen Blüten strahlen auf die Umgebung aus.
Elf Jungrinder, bunt und zutraulich, grasen in der Wiesenlandschaft vor dem Haus. Sie gehören einem neuen Neubauern aus dem Dorf. Um die Mittagszeit liegen sie um den Stamm einer Erle herum und bilden eine bunte Rinderrabatte.
In der Hamburger Morgenpost wurde mein Geburtstag einen Monat zu früh angezeigt. Leser aus der Hamburger Gegend gratulierten demgemäß zu früh. Sie machen mich zu einem Spätgeborenen.
Viele Pferde hats bis zu meinem achtzigsten Geburtstag auf dem Schulzenhof gegeben, viele Pferde, allein über hundert Fohlen sind hier geboren. Es gab nur eine Ponystute, mit...
Erscheint lt. Verlag | 17.10.2016 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Aufzeichnungen • Autobiografie • Berichte • Erinnerungen • Erzählungen • Geschichten • Memoiren • Schriftsteller • Tagebuch |
ISBN-10 | 3-8412-1205-0 / 3841212050 |
ISBN-13 | 978-3-8412-1205-4 / 9783841212054 |
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