Tausend Meilen über das Meer (eBook)

Die Flucht des Karim Deeb
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2016 | 1. Auflage
256 Seiten
cbj Kinder- & Jugendbücher (Verlag)
978-3-641-19038-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Tausend Meilen über das Meer -  Annabel Wahba
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Karim ist die Flucht aus seiner umkämpften Heimatstadt Homs gelungen. Mit seiner Familie schafft er es zunächst nach Ägypten und versucht von dort, mit seinem Onkel übers Mittelmeer nach Italien zu gelangen. Dabei verliert er den Onkel im Gedränge, verfehlt das Schlepperboot und landet im Gefängnis. Beim nächsten Fluchtversuch mit dem Boot kommt er im Sturm fast um. Es grenzt an ein Wunder, dass er Monate später in Konstanz zur Schule gehen darf. Obwohl Karim seine Eltern vermisst und es ihm schwerfällt, Freunde zu finden, beginnt er Fuß zu fassen. Doch da bezichtigt ihn eine Mitschülerin einer üblen Mobbingaktion.

Annabel Wahba, geboren 1972, studierte Politikwissenschaft in München und besuchte die Deutsche Journalistenschule. Ihr Vater ist ägyptischer Herkunft, ihre Mutter ist Deutsche. Sie berichtete als freie Korrespondentin aus dem Mittleren Osten, war Redakteurin beim Jugendmagazin 'Jetzt' der Süddeutschen Zeitung und ist seit 2007 Mitarbeiterin der ZEIT. In Reportagen beschäftigt sie sich mit der Politik im Mittleren Osten und den Themen Flucht und Integration. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Berlin.

3

Herr Maus, der Direktor, sitzt hinter einem Schreibtisch, der aussieht wie ein Verteidigungswall. Ich frage mich, wie sie dieses monströse Möbelstück mit den riesigen Schubkästen hier reinbekommen haben. Als ich auf dem Stuhl davor Platz nehme, fühle ich mich sehr klein. Ich schätze, genau das möchte Herr Maus auch.

Herr Maus hat den grauen Anzug an, den er jeden Tag trägt. Nur die Krawatte wechselt. Heute hat er eine dunkelgrüne mit schwarz-weißen Kühen darauf an.

Herr Maus schiebt seine Brille zurecht.

»Guten Tag, Herr Deeb«, sagt er.

Dann legt er seine Unterarme übereinander auf den Tisch und blickt mich eindringlich an.

»Sie haben da eine ganz dumme Sache gemacht.«

Ich blicke ratlos zurück. Er atmet tief aus.

»Frau Sturm, die Klassenlehrerin von Millie Steiner aus der Achten, war eben bei mir. Millie ist tränenüberströmt aus dem Klassenzimmer gerannt. Frau Sturm fand sie völlig aufgelöst auf der Toilette. Millie hat ihr das Foto gezeigt, das Sie von ihr gemacht haben.«

»Welches Foto?«, frage ich ihn verwirrt.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich alles richtig verstanden habe. Ich spreche besser Deutsch als alle Syrer, die ich in Konstanz kenne. Der ehemalige FC-Bayern-Trainer Pep Guardiola soll gesagt haben, als er nach Deutschland kam: Du kannst nicht in acht Monaten Deutsch lernen. Ich habe es in vier Monaten gelernt. Die Freunde meines Onkels bitten mich, für sie zu übersetzen, wenn sie auf ein Amt müssen oder einen neuen Handyvertrag brauchen. Ich könnte ein Büro für derartige Dienstleistungen eröffnen. Aber jetzt habe ich das Gefühl, meine Deutschkenntnisse reichen nicht aus, um zu verstehen, was hier gerade vor sich geht.

»Herr Deeb«, sagt der Direktor und atmet laut schnaubend aus wie ein Pferd.

»Sie haben eine erotische Aufnahme von Millie gemacht und an Freunde im Internet verschickt. Seither wird Millie in ihrer Klasse gemobbt und erhält obszöne Mails. Sie sind vielleicht nicht so mit den Regeln hier vertraut, aber was Sie getan haben, ist strafbar. Und wir dulden es an unserer Schule auch nicht, dass Mädchen auf diese Weise erniedrigt werden.«

»Was für eine erotische Aufnahme?«, frage ich bestürzt.

»Ich spreche von dem Nacktfoto, das Sie von Millie gemacht haben.«

»Ich habe überhaupt kein Foto von ihr gemacht. Sie hat mir mal ein Foto von sich geschickt, aber das war ein Selfie.«

Herr Maus sieht mich mit gerunzelter Stirn an.

»Ich habe überhaupt noch nie ein Mädchen nackt vor mir gesehen«, beteuere ich.

Und das stimmt auch.

Ich nehme an, die meisten 16-jährigen Jungs in Deutschland haben mir in dieser Hinsicht einiges voraus.

»Wir haben wenig Grund, an der Aussage dieses Mädchens zu zweifeln. Millie ist in einem so labilen Zustand, dass wir uns Sorgen machen, sie könnte sich etwas antun. Ihre Mutter hat sie abgeholt. Bis der Sachverhalt aufgeklärt ist, suspendiere ich Sie von der Schule. Kommende Woche wird es eine Schulkonferenz geben, dort werden alle Beteiligten angehört, und wir beraten, wie wir verfahren. Ich kann Ihnen aber jetzt schon sagen, dass Sie die Schule vielleicht verlassen müssen. Alles Weitere besprechen wir dann kommende Woche. Sie können jetzt gehen.«

Für ihn ist das Gespräch offenbar beendet. Er widmet sich einem Schreiben, das vor ihm auf dem Tisch liegt.

Ich überlege, was ich noch erwidern könnte. Ich könnte ihm sagen, dass seine Vorwürfe lächerlich sind. Dass er offenbar gar nichts von mir weiß. Dass es mir anfangs an den Bushaltestellen in Deutschland sogar peinlich war, wenn ich mich neben ein großes Werbefoto einer Frau in BH und Slip stellen musste. Dass meine Mutter nicht mal ihr Haar einem Fremden zeigt. Aber ich ahne, dass all das in diesem Moment keinen Sinn macht.

Ich stammle ein »Auf Wiedersehen« und verlasse sein Büro.

Auf dem Flur ertönt der Gong zur großen Pause. Aus den Klassenzimmern strömen die Schüler nach draußen. Ich lasse mir Zeit, damit alle weg sind, bis ich an unserem Klassenraum angekommen bin. Ich will jetzt mit niemandem reden.

Mein Plan geht auf, ich nehme meine Schultasche von meinem Platz und schleiche mich aus dem Gebäude.

Ich habe das Gefühl, dass sich um mich herum gerade etwas zusammenbraut, etwas, auf das ich keinen Einfluss habe. Hat Millie diese Geschichte erfunden, um sich an mir zu rächen? Wie kann sie nur so gemein sein und mir so was antun?

* * *

Zum ersten Mal war mir Millie vor ein paar Wochen aufgefallen, als ich eines Morgens in die Schule kam. Sie ist zwei Jahrgänge unter mir, in der Achten, ihr Klassenraum liegt auf demselben Flur wie unserer. Millie stand da schon mit ihren Freundinnen und unterhielt sich. Sie blickte einen kurzen Moment auf, lächelte mich an und unterhielt sich wieder weiter. Mir fiel der funkelnde Stein auf, der auf ihrem linken Schneidezahn klebte.

Jeden Morgen, wenn ich zu unserem Klassenraum ging, kam ich an ihrem vorbei. Wir sahen uns also jeden Tag, anfangs sagten wir nur »Hallo« zueinander, mehr nicht. Aber mir fiel bald auf, dass Millie mich schon von Weitem taxierte, als würde sie jeden Morgen nur auf unsere Begegnung warten. Es war mir nicht unangenehm, Millie ist hübsch, sie hat rote Locken, ihre Haut ist weiß wie Porzellan, und sie hat die längsten Wimpern der ganzen Schule. Manchmal trug sie auch einen ausgeschnittenen roten Pulli, der einen kleinen Leberfleck an ihrem Schlüsselbein offenbarte. Wenn ich Millie sah, suchte ich ihre Haut insgeheim nach diesem Leberfleck ab.

Ich war unsicher, wie ich reagieren sollte auf dieses Mädchen, das mich jeden Morgen so entschlossen anlächelte. Ich fand sie nicht uninteressant, aber auch sehr jung. Was sollte daraus werden? Ich habe ehrlich gesagt überhaupt keine Ahnung von Mädchen, an meiner Schule in Homs waren ja keine.

Millies Blick sagte mir, dass sie mehr von mir wollte als einfach nur ein bisschen quatschen hin und wieder.

Anfangs, als wir nach Deutschland kamen, hat mein Onkel mir geraten, mich von den Mädchen hier fernzuhalten. Das bringe nur Probleme. Ich verstand nicht so recht, was für Probleme das bringen sollte. Klar, sie waren anders gekleidet als die Mädchen in Syrien, sie trugen sehr kurze Hosen. Aber andererseits haben das hier nun mal alle an. Offenbar ist das hier normal und bedeutet nicht, dass das Mädchen schlecht ist. Die Mädchen hier sind eben anders erzogen, nach einer anderen Kultur, aber das sagt nichts darüber aus, ob sie gut oder schlecht sind.

Meine Familie hat einen arabischen Kopf, die denken anders als die meisten Deutschen. Mein Kopf ist halb deutsch und halb arabisch, und es ist nicht ganz einfach, beides in Einklang zu bringen. Mal ist die eine Seite stärker, mal die andere.

Ich bin eigentlich kein richtiger Syrer mehr, ich habe das Land verlassen, als ich 14 war. Das Entscheidende, das, was man braucht, um erwachsen zu sein, habe ich dort nicht gelernt. Das tue ich jetzt gerade in Deutschland. Ich glaube, in meinem ersten Jahr hier habe ich mehr gelernt als in all der Zeit zuvor in Syrien.

An einem muslimischen Mädchen wäre es sicher nicht der Leberfleck am Schlüsselbein gewesen, der mir aufgefallen wäre, weil ich den nicht zu Gesicht bekommen hätte. Aber dafür gab es andere Dinge, auf die wir Jungs heimlich starrten, wenn uns auf der Straße ein hübsches Mädchen begegnete. Auf ihre schlanken Hände zum Beispiel, auf schön geschwungene Lippen und, das muss ich zugeben, auch auf die Brüste, die sich manchmal unter ihren Blusen und Mänteln abzeichneten.

Der einzige Unterschied zu Deutschland ist eigentlich, dass man sich hier nicht schämen muss, wenn man hinsieht.

Ein paar Tage, nachdem Millie mir zum ersten Mal aufgefallen war, bekam ich eine Freundschaftsanfrage von ihr über Facebook. Sie schrieb mir, sie fände, dass ich schöne grüne Augen habe. Das schmeichelte mir. Von da an waren wir zumindest im Internet befreundet.

Wir schrieben uns täglich Nachrichten. Meist ging es um banale Dinge, Lehrer, Mitschüler, sie schickte mir Fotos von ihrer Katze, von ihrem Zimmer, irgendwann auch eines von sich selbst, wie sie auf dem Bett lag und ihre Lippen zu einem Kuss geformt hatte. Das Foto auf dem Bett kam mir schon etwas komisch vor.

Ein paar Tage später war am Seeufer das große Stadtfest. Dort war eine große Bühne aufgebaut und es spielte jede Stunde eine andere Band. Petrit hatte mich gefragt, ob wir zusammen hingehen würden. Alle aus der Klasse sollten da sein. Mein Onkel wollte, dass ich um zehn Uhr abends wieder zu Hause bin, aber mit viel Überredungskunst konnte ich ihn zumindest auf elf Uhr raufhandeln.

Als wir ankamen, spielte gerade eine Hip-Hop-Band, die ich richtig gut fand. Der Beat war so laut, dass er bis in mein Herz dröhnte. Zwei Jungs auf der Bühne machten Breakdance, sprangen mit Flickflacks über die Bühne, drehten sich auf dem Rücken und einer sogar auf dem Kopf. Es war der Wahnsinn. Clara und Matija waren da, Petrits Cousin, wir wippten im Beat und tranken Red Bull, ein Dauerlächeln im Gesicht.

Irgendwann tauchte Millie auf, sie war mit ihren Freundinnen da und kam zu mir rüber.

»Hallo«, sagte sie.

Ich sah das Funkeln auf ihrem Schneidezahn und suchte insgeheim ihr schneeweißes Dekolleté nach dem Leberfleck ab. Da oben, wo das Schlüsselbein in die Schulter übergeht, da war er.

»Hi«, grüßte ich zurück. »Tolle Band.«

Wir stießen mit unseren Dosen an und wippten zusammen im Takt. Die Stimmung war irre, die Menschenmasse um uns herum wogte hin und her, viele reckten...

Erscheint lt. Verlag 12.9.2016
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte ab 12 • Ägypten • Asyl • Bootsflüchtling • Cybermobbing • Deutschland • eBooks • Flucht • Flüchtlinge • Homs • Integration • Italien • Jugendbuch • Jugendbücher • Mittelmeer • Mobbing • Schullektüre • Syrien • Themenbuch • Unterrichtsmaterialen • Vorurteile • Young Adult
ISBN-10 3-641-19038-X / 364119038X
ISBN-13 978-3-641-19038-5 / 9783641190385
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