Die Attentäter (eBook)

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2016 | 1. Auflage
480 Seiten
Verlag Friedrich Oetinger
978-3-86274-752-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Attentäter -  Antonia Michaelis
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Obwohl sie aus grundverschiedenen Verhältnissen stammen, sind Cliff und Alain fasziniert voneinander. Zwischen ihnen steht Margarete, die beide von klein auf kennen. Dann konvertiert Cliff zum Islam und verschwindet. Als er zurückkehrt, wird klar: Er soll für den IS einen 'Tag des Blutes' planen. Alain will seinen Freund retten - doch wie lange kann er noch zu ihm halten? Mit 'Die Attentäter' liefert Antonia Michaelis einen beklemmenden Blick in die Abgründe des Terrorismus.

Antonia Michaelis, Jahrgang 1979, in Norddeutschland geboren, in Süddeutschland aufgewachsen, zog es nach dem Abitur in die weite Welt. Sie arbeitete u.a. in Südindien, Nepal und Peru. In Greifswald studierte sie Medizin und begann parallel dazu, Geschichten für Kinder und Jugendliche schreiben. Seit einigen Jahren lebt sie nun als freie Schriftstellerin in der Nähe der Insel Usedom und hat zahlreiche Kinder und Jugendbücher veröffentlicht, facettenreich, fantasievoll und mit großem Erfolg. 'Der Märchenerzähler', ihr erstes Buch für junge Erwachsene, wurde für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert

Antonia Michaelis, Jahrgang 1979, in Norddeutschland geboren, in Süddeutschland aufgewachsen, zog es nach dem Abitur in die weite Welt. Sie arbeitete u.a. in Südindien, Nepal und Peru. In Greifswald studierte sie Medizin und begann parallel dazu, Geschichten für Kinder und Jugendliche schreiben. Seit einigen Jahren lebt sie nun als freie Schriftstellerin in der Nähe der Insel Usedom und hat zahlreiche Kinder und Jugendbücher veröffentlicht, facettenreich, fantasievoll und mit großem Erfolg. "Der Märchenerzähler", ihr erstes Buch für junge Erwachsene, wurde für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert

1


Ich hätte ihn beinahe nicht erkannt.

Er stand an einen Baum gelehnt und rauchte, sehr konzentriert, als müsste er all seine Aufmerksamkeit der Zigarette in seinen Fingern schenken, als wäre dies wichtig. Der Himmel war hellblau und fadenscheinig an diesem Tag wie etwas, das wir so lange benutzt hatten, bis es beinahe zerriss. Der Rauch der Zigarette zog in dieses Blau hinauf, durch den kalten Sonnenschein, und der Wind griff ins gelbe Herbstlaub der Parkbäume.

Leute führten Hunde spazieren, spielten mit Kindern, lachten, warfen auf einer Wiese einen Ball hin und her. Saßen auf Bänken. Und an diesem Baum stand Cliff und rauchte und betrachtete das alles wie etwas ihm Fremdes, etwas, womit er sich erst wieder arrangieren musste.

Cliff war schmal geworden.

Der Wind fuhr durch sein braunes Haar, doch es war nicht mehr braun, es sah staubig aus. Grau. Natürlich lag das am Licht. Das Licht malte auch Schatten unter seine Wangenknochen, unter seine Augen, tiefe Schatten, in denen etwas Unbekanntes wohnte.

Er hatte immer im Schatten gelebt. Im Dunkel. Und das Dunkel hatte geglüht, hatte eine eigene Anziehungskraft ausgeübt, wie ein schwarzes Feuer. Er hatte im Schatten gelebt, doch jetzt lebten die Schatten in ihm. Er schien nicht mehr Herr über sie zu sein.

Ich stand ganz still, halb hinter einem anderen Baum, er sah mich nicht. Einen Moment lang betrachtete ich meine eigenen Hände, die ich an die Rinde des Stammes gelegt hatte: schlanke Hände mit Farbresten unter den Nägeln, Hände, die ein wenig zu zerbrechlich wirkten. Ich war immer der Schmalere von uns beiden gewesen, der, den der Wind wegwehen konnte. Cliff war stets der Stärkere gewesen, stark genug, um den Wind aufzuhalten. Jetzt sah ich seine Schulterblätter, die sich unter dem T-Shirt abzeichneten. Er war immer noch kräftig, ich sah auch die Muskeln unter dem T-Shirt, aber er mochte gerade noch die Hälfte seines damaligen Gewichts auf die Waage bringen.

Und er wirkte nicht, als hielte er sich an der Zigarette fest, um nicht mit dem Herbstlaub davonzutreiben.

Ich schluckte.

Ich hatte gedacht, es wäre vorbei. Ich hatte gedacht, ich würde ihn nie wiedersehen, hatte mir gesagt, das Dunkle wäre mit ihm aus meinem, aus unserem Leben verschwunden. Aber natürlich hatte ich gewusst, dass es nicht so war. Dass er wiederkommen würde.

Ich hatte auf ihn gewartet.

 

Als er schließlich die Zigarette austrat und den Weg entlangging, an den Kindern und Ballspielern vorbei, folgte ich ihm. Er ging langsam, blieb immer wieder stehen, wie jemand, der aus einem langen Schlaf erwacht. Er drehte sich nicht um, aber sicher würde er sich umdrehen. Gleich. Mein Herz schlug rascher, und ich legte mir die Worte zurecht, die ich sagen würde, wenn er mich sah. Ich wünschte mir, dass er mich sah. Ich hatte mir immer gewünscht, dass er mich sah, schon mit vier Jahren.

Obgleich mir die Vernunft sagte, dass es besser wäre, herauszufinden, wohin er ging, ohne von ihm gesehen zu werden. Herauszufinden, warum er nach Berlin zurückgekommen war.

Der Park, durch den wir gingen, zu zweit und doch allein, war der Mauerpark.

Rechts erhob sich der Hügel, auf dessen Spitze die Reste der Mauer saßen, Betonblöcke wie große Tiere, die alles beobachteten, was in der Stadt geschah: alles Licht und allen Schatten. Sie wechselten ihre Farbe fast täglich, wurden von den Graffitisprayern in andere Blau-, Grün-, Gelb-, Bunttöne gekleidet: wie Frauen, die sich ständig umzogen und von jedem gesehen werden wollten, wie wechselndes Wetter auf Stein.

Die Oktoberluft schmeckte schon nach der kommenden Kälte, und entlang des breiten, geraden Weges wuchsen kleine, alte Gasöfen, über denen Leute Würstchen brieten oder Glühwein warm machten: sonntägliche Mauerpark-Feierstimmung. Das in mir, das nicht vernünftig war, sehnte sich danach, Cliff mit ein paar langen Schritten einzuholen, seine Schulter zu berühren, zu sagen:

»Hey! Wäre Glühwein eine gute Idee? Komm.«

Und wir würden den Hügel hinaufgehen mit unseren Styroporbechern und uns oben auf eine der riesigen Schaukeln vor der Mauer setzen und in den Himmel schwingen: Weißt du noch, wie damals.

Aber vermutlich hatte er es vergessen, vermutlich verwahrte nur ich all diese kleinen Erinnerungsfetzen in mir wie Juwelen. Schwarze Juwelen, die ein gefährliches Funkeln an sich hatten, da war ein ganzer Berg von ihnen, durch den ich mit den Händen fuhr, wenn ich alleine war. Jeder der Erinnerungsjuwelen trug das Gesicht des Menschen, dem ich folgte. Und ich schnitt mich an ihnen, wenn ich sie durch meine Finger gleiten ließ, bis das Blut über meine Finger lief.

Aber das war nur eine verrückte Idee, man hat wohl solche Bilder im Kopf, wenn man zwanzig Stunden am Tag vor einer Leinwand steht und Acrylfarbe darauf verteilt.

Was hatte Cliff das letzte Jahr über getan, während ich Acrylfarbe auf Leinwand verteilt hatte? Letzten Herbst, nachdem er verschwunden war, hatte ich ihn gemalt.

Immer wieder. Acryl, Aquarell, Kohle, Dreck auf Papier, Teer, Vulkankleber, Kreide.

Am Ende hatte ich alle Bilder in einen Karton gepackt, um sie wegzuwerfen, aber Margarete hatte gesagt: Tu das nicht. Und sie in den Keller gebracht. Tu das nicht, als würde ich Cliff damit töten. Auch Margarete hatte nie aufgehört, an ihn zu denken.

Er war stehen geblieben, am Rande der Menge, die sich um das Amphitheater gebildet hatte, in dem die Technik der Karaokeleute aufgebaut war wie jedes Wochenende. Die steinernen Ränge des Runds waren voll, die Menschen saßen in Mänteln und Daunenjacken dort, Glühweinbecher in den Händen, hundert oder zweihundert Menschen, und ihre Gesichter waren rot vor Kälte und Aufregung, auf ihnen glühte die Möglichkeit, der Nächste zu sein, der dort unten ins Mikro singen würde. Es war ein guter Platz, um Menschen zu beobachten, wenn man sie malen wollte.

Cliff stand da und tippte mit dem Fuß den Rhythmus von Zombie. Gott, war das Lied lange her. Es gehörte in die Zeit meiner Eltern. Cliff sah nicht die Frau an, die sang, eine rothaarige, nicht ganz schlanke Schottin mit einem glücklichen, breiten Lächeln auf dem Gesicht und einer Stimme, die immer um einen Halbton neben der Melodie blieb. Nein, Cliff sah nicht die Schottin an, sein Blick wanderte über die Ränge. Ich fragte mich, ob er jemanden suchte.

In der Menge stand ein Typ in einem alten Parka mit Kurt Cobains Konterfei auf dem Rücken, ein Typ, dessen Schultern etwas zu schmal waren für seine Größe, ein Typ, der sein hellblondes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengenommen hatte, ein Typ mit zu hellen, zu blauen Augen. Wie der Himmel über einem Haufen schwarzer Diamanten. Cliff sah ihn nicht.

Der Typ strich sich eine helle Haarsträhne aus dem Gesicht und steckte die Hände in die Taschen der Jacke: Alain Dubois, neunzehn Jahre und elf Monate alt. Sohn eines französischen Musikers und einer deutschen Galeristin. Unsichtbar, vielleicht, in einer Berliner Menschenmenge, nur einer von vielen, ein Mensch voller dummer Träume, mit Farbe unter den Fingernägeln und an den Jeans. Ein Mensch, der in diesem Moment gleichzeitig Angst hatte und glücklich war.

Ich.

Damals, als wir uns zum allerersten Mal gesehen hatten, war es genauso gewesen. Ich sah es noch vor mir, sah mich von außen, mich, das Kind.

Da war eine Menge von Menschen, obgleich natürlich eine kleinere, eine Menge von Menschen, die Möbel durch ein dunkles Berliner Treppenhaus trug und Topfpflanzen in den Armen hielt.

Dazwischen, im schwärzesten Schatten, in einer Ecke auf dem ersten Treppenabsatz, stand ein kleiner Junge. Etwa so alt wie Alain. Kräftig für sein Alter, muskulös, in einem schäbigen, zu großen T-Shirt und Jeans. Sehr kurz geschnittenes braunes Haar. Eine Zahnlücke vorne rechts.

Er sah den Menschen zu, die die Möbel hinauftrugen, er hatte sich in die Ecke gedrängt.

Dann drehte er den Kopf und sah nach unten. Dorthin, wo ein anderer kleiner Junge stand, ein kleiner Junge mit blondem Haar wie ein Heiligenschein, ein kleiner Junge mit einem schmalen, feinen Gesicht, der die Hände in den Taschen verbarg.

Als der dunkelhaarige Junge ihn ansah, von seinem Treppenabsatz aus, durch die Menge an Menschen und Möbeln hindurch, bekam der blonde Junge gleichzeitig Angst und fühlte sich seltsam erhoben. Als ströme eine unerklärliche Energie durch seinen Körper.

Die Augen des Jungen auf dem Treppenabsatz waren dunkelblau, beinahe schwarz, eine Farbe, von der der andere Junge bisher nicht gewusst hatte, dass Augen sie haben können. Sie funkelten. Wie Diamanten. Von diesem Moment an war nichts mehr so, wie es vorher gewesen war.

Das war der Beginn.

Angst und Glück und ein dunkles, staubiges Treppenhaus in Berlin.

Der Beginn.

 

Man hat mit vier oder fünf Jahren keine Zahnlücken. Die Milchzähne fallen erst später aus.

Alain Dubois, ebenfalls vierjährig, wusste das nicht.

Er stand an jenem ersten Tag in Berlin lange auf seinem Bett, am Fenster des Zimmers, das aufregend nach altem Haus und neuen Möbeln und nicht nach zu Hause roch, er wippte auf der Matratze auf und ab und sah in den Hof hinunter: sah die beiden großen Bäume an, die Büsche, die Fahrräder, die Mülltonnen, an denen bunte Aufkleber in verschiedenen Stadien der Auflösung klebten.

Er dachte an den kleinen Ort an der französischen Küste, der jetzt sehr weit weg war, und an alles, was dort geblieben war, seine Freunde, seine Großeltern, sein Meer. Und er dachte, dass er wahrscheinlich nicht gut gekaut hatte beim Mittagessen, auf der Reise, weil etwas in seinem Magen lag, schwer wie ein Stein....

Erscheint lt. Verlag 22.8.2016
Illustrationen Kathrin Schüler
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte ab 16 • Angst • Attentat • Dreiecksbeziehung • Freundschaft • Frieden • Gewalt • Jugendbuch • Liebe • Terrorismus • Vertrauen • Young Adult
ISBN-10 3-86274-752-2 / 3862747522
ISBN-13 978-3-86274-752-8 / 9783862747528
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