Frauen.Geschichten. (eBook)
336 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-97099-0 (ISBN)
Andreas Altmann ist einer der bekanntesten deutschen Reiseautoren und Träger des Egon-Erwin-Kisch-Preis, des Seume-Literaturpreis und des Reisebuch-Preis. Zuletzt erschienen von ihm der Bestseller »Sehnsucht Leben«. Er lebt in Paris.
Andreas Altmann zählt zu den bekanntesten deutschen Reiseautoren und wurde u. a. mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis, dem Seume-Literaturpreis und dem Reisebuch-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschienen von ihm "Leben in allen Himmelsrichtungen" sowie die Bestseller "Verdammtes Land. Eine Reise durch Palästina", "Gebrauchsanweisung für die Welt" und "Gebrauchsanweisung für das Leben" und "In Mexiko". Andreas Altmann lebt in Paris.
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Noch ein Mädchen aus Wien will ich erwähnen, Rosalie. Das Herz wird mir schwer, wenn ich an sie denke. Die Studentin arbeitete nebenbei als Garderobiere am Theater. Sie war neunzehn und ein lichterloher Beweis für die Ungerechtigkeit in der Welt: So schön war sie. Und freundlich und gescheit. Sie war eine, bei der ich dachte: Sie wird eine Eroberin, eine Frau, die einst in alle Himmelsrichtungen strahlen wird. So bewunderte und beneidete ich sie.
Oft spazierten wir nach einer Vorstellung in ein Café und plauderten. Und setzten uns anschließend auf die nahe, so berühmte, Strudlhofstiege. Und begannen uns zu streicheln, die Hände, das Gesicht, die frühlingswarme Haut. Der Mond leuchtete bisweilen.
Zu zweit ins Bett wollte Rosalie nicht. Auch die nächsten Wochen nicht. Ich war ganz einverstanden: Um Nacktheit betteln kam nicht infrage. Nach dem Flüstern ging jeder in seine Richtung nach Hause, den Mund und die Augen voller Sterne, voller Erinnerung an den anderen.
Nach ein paar Monaten war Rosalie verschwunden. Das passte zu ihr. Sie hatte sich einmal als »existenziell heimatlos« bezeichnet. Ihre Familie war ein Fall für das Sozialamt, ihr Jurastudium hatte sie abgebrochen, sie wusste nicht, wohin. Irgendwie waren wir uns ähnlich.
Ich rief in ihrer WG an und erfuhr, dass sie ausgezogen war. Ohne eine Adresse zu hinterlassen. So betrüblich das klang, die Nachricht beruhigte mich: immerhin kein Unfall, kein Verbrechen. Jetzt konnte ich nur warten, bis sie mich anrief. Aber sie rief nicht an.
So abrupt, so wortlos sich zu trennen, das ist eine absonderliche Erfahrung. Doch der Schrecken kam Jahre später, als ich – schon längst nicht mehr Schauspieler – einen ehemaligen Kollegen aus Wien traf. Der uns manchmal flirten gesehen hatte. Und mich fragte, ob ich auf dem Laufenden sei, von wegen Rosalie. Nein, natürlich nicht. Und F. erwähnte lachend, dass er sie in Deutschland in einer Peepshow entdeckt hätte. »Hundert pro«, denn er habe sie angesprochen, ja, sie nach mir gefragt. Doch die inzwischen 30-Jährige habe abgewiegelt, die Entdeckung durch F. schien ihr peinlich.
Rosalie, die Wunderschöne, die mit den vielen Lichtern im Kopf, sie tänzelte jetzt auf einem rosa Flokatiteppich, um Männer zum Abspritzen zu animieren. Bizarr, aber ich musste sofort an meinen Vater denken. Er war ein stattlicher Mann und er war helle. Trotzdem blieb er in diesem bayerischen Kraal stecken und verscherbelte Zubehör für Betschwestern. So ist es eben: Schönheit und Verstand reichen nicht. Die Wut, sich aufzulehnen, muss dazukommen, ja, der unwiderrufliche Wille nur jenes Leben anzunehmen, das man aushält, ja, lieben könnte.
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Ein letztes Kapitel über Wien. Das Schauspielhaus war erfolgreich, das Fernsehen meldete sich und zeichnete Inszenierungen auf. So gab es ein paar Tausend Schilling mehr für uns. Ich investierte sie in Reisen, während der spielfreien Tage. Nie länger als eine Woche, mehr Zeit war nicht. Und ich ahnte, noch diffus, dass ich etwas gefunden hatte, das irgendwann meine Zukunft bestimmen sollte: eben davonfahren in die Welt. Dass ich darüber schreiben würde, dieser Gedanken kam nicht. Zu unbescheiden, zu vermessen hätte er geklungen.
In Prag, im Nachtklub des Hotels Jalta, lernte ich Mila kennen. Die Studentin aus Brünn. Nein, sie war keine der Hausfrauen, die nebenbei als »Hostessen« arbeiteten und jetzt diskret am Rande der Tanzfläche standen. (Auch im Sozialismus wurde tapfer geheuchelt.) Sie war mit ihrer Freundin gekommen, und als wir eng und langsam miteinander tanzten, ließ Maria uns allein. Wie taktvoll. Die Bee Gees spielten How deep is your love und ich fühlte Milas Formen. Und ihre warme Hand auf meinem Rücken. Ach, eines der Wunder der Welt ist das Weltwunder Frau.
Nach dem letzten Kuss vereinbarten wir, dass ich tags darauf, nach 15 Uhr, in ihr Hotel schleiche. Dann wäre das Doppelzimmer frei, die Freundin unterwegs.
Und ich kam, mit Blumen und Begeisterung. Und keine Mila weit und breit, nur der Rezeptionist (den ich noch hätte bestechen müssen), der mir ein sorgsam zugeklebtes Kuvert überreichte. Die liebliche Mila schrieb, dass sie nicht mit mir schlafen könne, nicht aus Mangel an Lust, nein, aber sie wäre schon einmal enttäuscht worden, sie habe einfach Angst, sich »unglücklich« in mich zu verlieben.
Das Zettelchen war voll ernsthafter Wörter. Ich war nicht verärgert, nur untröstlich, weil sich nun kein schöner Körper vor mir ausbreiten würde. Nach einer Nacht zügelloser Träume kam jetzt die Vollbremsung. Milas Entschuldigung schien aufrichtig. Ich kannte solche Texte bereits. Abschiedsbulletins Furchtsamer, die sich im letzten Augenblick davonmachten.
Doch stärker als die Ernüchterung über die entgangene Liebesstunde war meine Verwunderung: wie schnell sich viele nach einer (oder gleich zwei) »Niederlagen« zurückziehen und kein Risiko mehr aushalten.
Ich funktioniere anders. Ziemlich früh hatte ich erkannt, dass ich ohne die Gefahr einer Pleite nicht weiterkomme. Nicht im Leben, nicht als Mensch, nicht als Mann. Ich muss doch ausprobieren. Mich ausprobieren. Wie soll ich denn lernen, wenn ich davonrenne? Und: Warum soll ein Nachmittag – verlebt mit Küssen und In-Flammen-Stehen – unglücklich machen? Fuck, warum müssen wir immer die Zukunft mit ins Bett zerren, die Liebe, die Ewigkeit? Ich kann doch auch durch Prag flanieren, ohne von dem Wunsch verfolgt zu werden, bis ans Ende meiner Tage in dieser Stadt wohnen zu wollen. Warum wird es beim Thema Eros oft so dramatisch kompliziert?
Aber Mila konnte das nicht, das Unkomplizierte: Ihr (mir) wohlgesonnener Leib schien an Bedingungen gekettet. Die von der Gegenwart nichts wissen wollten. Unergründliches Frauenherz.
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In London flog ich aus dem Piccadilly Club. Die beiden Gorillas hatten nur ein bisschen nachgeholfen. So landete ich nicht bäuchlings auf dem Kopfsteinpflaster, sondern hielt das Gleichgewicht und zog blamiert von dannen. Die ruhmlose Geschichte ist schnell erzählt: Als armer Schlucker kam ich in den Nightclub und wollte die attraktivste Frau im Laden. Gina, die ohne Makel. Die hier als attendant arbeitete. Ich Greenhorn, ich übersetzte das englische Wort mit »Bedienung«. Aber ja, sie bediente mich, mit unbezahlbaren Spirituosen. Als ich – der Blindgänger – mit ihr flirtete und fragte, ob ich sie nach Dienstschluss abholen dürfe, meinte sie: »Of course, why not.« Und nannte einen Betrag. Nicht in Schilling, nein, in Pfund.
Irgendwann wachte ich auf, obwohl schon alkoholblöd und träge im Hirn: Die Rechnung kam, der total account für die Getränke plus »Gedeck«, plus »Eintritt«, plus »Service«, plus »Entertainment« war phänomenal. Der letzte Posten betraf wohl Gina, die so freundlich gewesen war, fleißig mitzutrinken.
Ich verlangte, den Geschäftsführer zu sprechen, und erklärte mich für zahlungsunfähig. Der Mann war der Boss: Zweireiher, Einstecktuch, gepflegte Fingernägel. Er murmelte etwas, was ich nicht verstand, und nickte diskret nach hinten. Und die beiden Gorillas kamen. Sie nickten auch, diesmal Richtung Seitenausgang. Wo niemand herumstand. Okay, jetzt hauen sie mich in Stücke und ich wüsste einmal mehr, wie schlecht die Welt ist. Dachte ich.
Keine Spur. Sie filzten mich, der eine die linken, der andere die rechten Taschen, fuhren mit ihren geübten Händen über meinen Rücken, den Gürtel entlang, ja, in meinen Schritt. Ich hoffte schon, ich käme davon. Bis einer raunzte: »Get off your boots.« Und da lagen meine vierzig Pfund, mein Budget für die letzten zwei Tage. Die vier Scheine reichten sie dem Boss, die Fünf-Pfund-Note im anderen Stiefel konfiszierten sie gleich mit. Dann öffneten sie die Tür und entfernten mich mit Schwung aus dem Etablissement. Durchaus mit Stil, kein Fluch flog hinterher.
So stand ich kurz nach drei in der Great Windmill Street und machte mich auf den Weg nach Quiswick, die sechs Meilen zu meinem maroden Bed & Breakfast. Ich war nicht unglücklich. Obwohl Gina nichts von mir, dem Banknotenlosen, hatte wissen wollen. Obwohl ich noch immer kein Weltmann war. Aber ich winselte nicht. Ich allein war für die Situation verantwortlich.
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In Rom hatten die Götter ein Einsehen. Endlich. Als ich in der Via Veneto die Treppen zu 1001 notti, einer Diskothek, hinunterstieg, überkam mich ein Gefühl, das jeden – selten genug – heimsucht: das Gefühl von Unverwundbarkeit, von grandioser Unbekümmertheit. Vollkommen ungerechtfertigt, denn nichts hatte sich in der Welt des gerade Unbekümmerten geändert. Wie ein Flash reinsten Glücks kommt es auf einen nieder. Ohne Hilfsmittel von außen, ohne Alkohol, ohne Drogen, ohne vorangegangenes Erfolgserlebnis. Es ist da, unerwartet, unangemeldet, unvermeidbar.
In diesen Sekunden unbelehrbaren Übermuts, in denen ich wusste, dass mir jetzt gelänge, was ich wollte, beschloss ich, dass ich das erste schöne Frauengesicht ansprechen würde, dessen Blick den meinen kreuzte. Ob zufällig oder wohlweislich. Egal. Ich war in dieser Stunde der König von Rom. Ohne den geringsten Anflug von Hochmut.
Und ich ging auf eine Frau zu, lächelte, verbeugte mich leicht und bat sie ganz altmodisch um einen Tanz. Und wir tanzten sacht zu Chicagos If you leave me now.
Zur Erinnerung: Ich halte Wort und werde nur Begegnungen erwähnen, die eine Geschichte erzählen, jenseits der Nachricht, dass eine Frau und ein Mann zueinanderfinden. Auch Geschichten, die vom kleinen Irrsinn...
Erscheint lt. Verlag | 14.9.2015 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Beziehungen • Frauen und Männer • Memoiren |
ISBN-10 | 3-492-97099-0 / 3492970990 |
ISBN-13 | 978-3-492-97099-0 / 9783492970990 |
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