Alles so leicht (eBook)

(Autor)

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2015
320 Seiten
Thienemann Verlag
978-3-522-62127-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Alles so leicht - Meg Haston
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Stevie ist siebzehn und hatte es fast geschafft. Sie stand so kurz vor ihrem Ziel, endlich zu verschwinden aus diesem Körper, aus diesem Leben, aber wie soll das hier funktionieren? Auf Schritt und Tritt wird sie kontrolliert, immerzu soll sie irgendetwas essen. Und da ist auch noch Anna, diese Therapeutin, die so ganz anders ist als die anderen Seelenklempner. Selbst den Mädchen, mit denen sie ein Zimmer und ein Schicksal teilt, fühlt sich Stevie jeden Tag näher. Aber sie wird sich nicht öffnen, sie hat schließlich einen Plan. Eine Geschichte von solch einer Wucht und Schönheit, dass man immerzu Sätze unterstreichen möchte

Meg Haston lebt in Jacksonville, Florida. Hier schreibt sie und arbeitet als Beratungslehrerin an einer Privatschule. 'Alles so leicht' ist ihr erster Jugendroman.

ERSTER TAG


Freitag, 4. Juli, 13.34 Uhr

Noch siebenundzwanzig Tage bis zur Freiheit, und ich bin gefangen in einem Blechkasten mit grau bezogenen Sitzen und dem künstlichen Piña-colada-Gestank eines Wunderbaums, der am Rückspiegel baumelt.

Josh – Verzeihung! Joshua – würde mich vermutlich ein hysterisches Huhn nennen. Manchmal stelle ich mir vor, wie er solche Dinge sagt. Es ist nicht so, dass ich seine Stimme höre oder er mir im Traum erscheint oder irgend so ein Quatsch. Aber wenn ich ganz still bin, kann ich beinahe – nur beinahe – die Worte verstehen. Je näher der Jahrestag rückt, desto mehr strenge ich mich an. Ich tue so, als würde er neben mir auf dem verfaulten Holzbalkon stehen, vor Sonnenaufgang, wenn mein flacher, rasselnder Atem das einzige Geräusch auf der Welt ist. Ich beschwöre ihn mitten in der Nacht herauf, und dann sitzt er an meinem Bett, in dem ich berauscht und krank vor Eden und Alkohol liege. Ich bilde mir ein, er würde mir mit kreisenden Bewegungen sanft den Rücken massieren und mir diese lieblichen französischen Schlaflieder ins Ohr flüstern, die unsere Mutter uns immer vorgesungen hat. Dann fühle ich fast die Wärme seiner Hand.

Ich wünschte, er wäre jetzt hier, um mich zu beruhigen. Ich sitze in der Falle – auf dem Beifahrersitz eines weißen Minivans neben einer fremden Frau mit Haaren wie ingwerfarbene Zuckerwatte. Sie erzählt mir gerade von der fantastischen Leistung ihrer Enkelin als Velma Kelly in der Schulaufführung des Musicals Chicago. Als ob wir alte Freunde wären, als ob sie denkt, ich hätte nicht gemerkt, dass sie die Kindersicherung eingeschaltet hat, als wir vom Flughafen losfuhren.

In alten Filmen kommen immer Männer in Weiß und karren die Verrückten in die Irrenanstalt. Ich kriege eine Frau in einem weißen Minivan.

»… so eine lebendige Darstellung.« Die Zuckerwatte ist nicht zu bremsen. Ihre schimmernden, pinkfarbenen Nagelverlängerungen tippen auf das Lenkrad, die Hände liegen exakt auf der Viertel-vor-drei-Position. »Sie ist tatsächlich in die Rolle hineingeschlüpft. Bill – das ist mein Mann – hat alles auf dem Camcorder aufgenommen.«

Ich schaue aus dem Fenster auf das endlose Band eines zweispurigen Highways. Die flache Wüste New Mexicos sieht aus wie eine Kinderzeichnung: ein wächsern blauer Himmel über der gezackten, roten Erde; Kakteen, die so schief stehen, als ob jemand sie einfach achtlos in den Boden gesteckt hätte. Ich kann sogar die kräuselnden Hitzewellen sehen, wie damals, als Josh und unser Dad hinter dem Haus in der Broad Street gegrillt haben. Aber wenn ich blinzele, verschwinden sie.

»Sie ist die Einzige in unserer Familie mit einer künstlerischen Ader.« Die Zuckerwatte lacht und schüttelt den Kopf. Ihr Haar sitzt fest wie eine Haube.

Der Minivan biegt auf eine lange, schmale Landstraße ein. Rechts liegt ein Feld, seit Stunden das erste Grün, das ich zu sehen bekomme. Hinter dem Grün ist ein staubiger Reitplatz, an dessen Zaun ein paar Pferde gebunden sind. Mehrere quadratische, weiß verputzte Gebäude mit flachen Dächern verteilen sich über das Gelände. Sie sind alt und stehen in unregelmäßigen Abständen, wie Würfel, die man auf den sandigen Boden geworfen und dort liegen gelassen hat.

»Wir melden dich erst einmal in der Villa an, und dann bringe ich deine Sachen in deinen Bungalow«, sagt die Zuckerwatte.

Villa? Bungalow? Aus ihrem Mund klingt das Ganze wie ein All-inclusive-Hotel. Beinahe hätte ich den Begrüßungscocktail verlangt. Der Rausch von gestern Abend verfliegt allmählich.

Der Bluterguss über meiner linken Augenbraue pocht, und ich betrachte mein Spiegelbild im Fenster. Die Schwellung hat sich zu einer rötlichen Beule ausgewachsen, die wie die Kontur von Italien aussieht, um neunzig Grad gedreht. Ich hätte mir die Haare darübergestrichen, wenn ich noch Haare hätte, die der Erwähnung wert gewesen wären. Aber letzte Woche hatte ich sie satt – an einigen Stellen waren sie wellig, an anderen glatt, als ob sie sich nicht entscheiden könnten. Also habe ich Eden dazu gebracht, sie mir ganz dicht am Kopf abzuschneiden. Jetzt kleben mir unregelmäßige Stoppelflächen am Schädel. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal geduscht habe.

Die Straße mündet in einer kreisrunden Auffahrt vor einem großen, ebenfalls weiß verputzten Gebäude. Es sieht aus wie die anderen, nur ausladender, mit einem geneigten Dach aus roten Ziegeln.

»Im Augenblick sind noch neunzehn weitere Mädchen bei uns, vier pro Bungalow. Du bist in Bungalow drei. Tolle Mädchen in Bungalow drei, ganz tolle Mädchen«, erklärt die Zuckerwatte zwitschernd. »Sie werden sich so freuen, dir alles zu zeigen.«

Oh, super, ich hoffe, es gibt auch Gruppenkuscheln.

»Und das hier ist die Villa.« Sie stellt den Minivan ab und dreht sich zu mir um. Sie ist eine bekehrte Ex-Raucherin, das sieht man an den bläulich weiß gefärbten Zähnen und den haarfeinen Linien, die sich von ihren gekräuselten Lippen nach außen ziehen wie ausgetrocknete Bachläufe.

»Ich freue mich sehr, dass du dich zu diesem Schritt entschlossen hast, Stephanie.« Einen Augenblick lang fürchte ich, dass sie meine Hände umfasst, vielleicht, um mit mir zu beten. Aber vermutlich steht mir ins Gesicht geschrieben, dass das keine gute Idee wäre, und so lässt sie es bleiben. »Wir alle freuen uns.«

»Stevie. Ich werde Stevie genannt.« Meine Stimme ist rau. Schwach, obwohl ich plötzlich stinksauer bin. Warum hat Dad ihnen nicht gesagt, wie ich genannt werden will? Stevie. Niemals Stephanie. Ich bin keine Stephanie.

»Stevie.« Sie klingt unsicher, vielleicht hat sie gerade das Antlitz meiner Mutter auf meinem linken Unterarm entdeckt. »Stevie«, versucht sie es noch einmal. »Willkommen zum ersten Tag deiner Heilung.«

Ein Klicken ertönt, und ich betätige den Hebel. Die Tür schwingt auf.

Ich setze meine grauen Flip-Flops in den roten Staub und blinzle ins Licht. Zwei Betontreppen führen hinauf zu einer hölzernen Eingangstür mit einem verspielten Griff aus Schmiedeeisen. Zwischen den Treppen steht ein gekachelter Springbrunnen, aus dem ein Rinnsal aus fauligem Wasser tröpfelt.

Der Anblick erinnert mich an eine von diesen dämlichen Renovierungsshows, die Josh nebenher laufen ließ, während er für sein Psychologiestudium lernte. So klug war er: mit siebzehn an der Uni und in der Lage, gleichzeitig fernzusehen und zu lesen.

»Also ehrlich, Josh«, sagte ich und setzte mich auf den schäbigen, senffarbenen Wohnzimmerteppich. Der Teppich roch nach Katzenpisse und Zigaretten. Nachdem unsere Mutter uns verlassen hatte, zogen wir in diese heruntergekommene Wohnung im Westen der Stadt. Kein Vergleich zu dem luftigen viktorianischen Haus in der Broad Street, in dem wir zu viert gelebt hatten. Josh und ich nannten unsere neue Wohnung Château Bruchbude. »Können wir nicht was anderes gucken?« Auf dem Couchtisch lag eine ungeöffnete Tüte mit Salt-&-Vinegar-Chips, etwas, das unsere Mutter uns nie erlaubt hätte.

»Solltest du nicht schreiben?«, gab Josh vom Sofa zurück, einer französischen Recamiere aus dem achtzehnten Jahrhundert. Wie der Rest unserer Möbel gehörte sie früher unserer Mutter. Sie passte überhaupt nicht zu den billigen Plastikrollos und den hässlichen Leuchtstoffröhren. »Oder dich wenigstens mit einer Schreibblockade in deinem Zimmer einschließen?«

»Ben sagt, dass es so etwas wie eine Schreibblockade nicht gibt. Nur ein verdrängtes Ich-will-das-auf-gar-keinen-Fall-machen-Gefühl.« Bennett Ashe war Schriftsteller und ein Freund unseres Vaters. Sie hatten sich kennengelernt, als mein Dad eine Schreibgruppe für Männer gründete und sie in der Zeitung annoncierte, bei der er als Journalist im Kunst- und Kulturressort arbeitete. Die Zusammenkünfte der Gruppe verliefen immer gleich: Donnerstagabends trafen sie sich in unserer Küche, tranken Bourbon und erzählten sich von ihren neuen Romanen, die nie Wirklichkeit wurden. Ben war der einzige echte Autor in der Gruppe, wenn man von den drei Manuskripten absah, die mein Dad wie Pornoheftchen ganz unten in seiner Schreibtischschublade versteckte.

»Wie läuft’s mit … ähm, dem Seminar?« Das war es nicht, was er fragen wollte. Oder worüber – über wen – er etwas wissen wollte. Aber es gab ein ungeschriebenes Gesetz zwischen uns beiden, und er hielt sich daran.

»Gut, denke ich.« Ben bot während des Sommers ein Literaturseminar für die Studierenden des Community College an, und er war bereit, mich teilnehmen zu lassen. Dad schwor Stein und Bein, dass es nur an meinem Talent lag und überhaupt nichts mit der Tatsache zu tun hatte, dass Ben praktisch zur Familie gehörte und mich armes mutterloses Kind bemitleidete. Aber klar doch.

»Ich könnte mir deinen Text anschauen, wenn du möchtest.«

»Er ist noch nicht fertig«, sagte ich schnell. »Vielleicht später.«

Ich streckte die Beine aus und presste meine Handflächen gegen den Teppich, fühlte, wie die kratzigen Fasern gegen den Druck ankämpften. Ich holte tief Luft, ganz langsam, und spannte gezielt meine Beinmuskeln an. Die Bein-Lifts müssen akkurat sein, sonst zählen sie nicht. Eins. Pause. Halten. Und ab. Zwei. Pause. Halten. Und ab.

Josh achtete nicht auf mich, sondern starrte auf das Haus im spanischen Stil, das im Fernsehen gezeigt wurde. Es stand in Miami, umringt von Palmen. Im Garten gab es sogar einen Pool. Das Hemd des Hausbesitzers war so weit aufgeknöpft, dass man seine haarige Brust...

Erscheint lt. Verlag 13.7.2015
Mitarbeit Designer: Natalie C. Sousa
Übersetzer Alexandra Ernst
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte Bulimie • Essstörung • Jugendbuch • Jugendroman • Magersucht • Therapie • Therapiezentrum
ISBN-10 3-522-62127-1 / 3522621271
ISBN-13 978-3-522-62127-4 / 9783522621274
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