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Menschen im Autismus-Spektrum (eBook)

Verstehen, annehmen, unterstützen
eBook Download: PDF
2014 | 1. Auflage
296 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-025394-0 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
30,99 inkl. MwSt
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Das Buch bestimmt ein radikaler Blickwechsel auf das Phänomen Autismus. Pathologische und defizitorientierte Perspektiven werden hier endgültig verabschiedet. Unter dem Leitmotiv 'Verstehen' geht es zunächst um die Innensicht und die Selbstbilder autistischer Personen. Unter dem Motto 'Annehmen' wird dann das Kernthema Wertschätzung von Autisten als 'Experten in eigener Sache' behandelt. Der dritte Teil des Buches steht im Zeichen von 'Unterstützen' und liefert einen profunden Einblick in pädagogische Unterstützungsformen auf den unterschiedlichsten Handlungsfeldern im schulischen, außerschulischen, im beruflichen und privaten Bereich. Das Buch eröffnet nicht nur völlig neue Sichtweisen auf Menschen im Autismus-Spektrum, sondern liefert auch richtungsweisende Impulse für einen neuen Umgang mit Autismus in der Praxis.

Professor Dr. Georg Theunissen hat den Lehrstuhl für Geistigbehindertenpädagogik und Pädagogik bei Autismus an der Universität Halle-Wittenberg.

Professor Dr. Georg Theunissen hat den Lehrstuhl für Geistigbehindertenpädagogik und Pädagogik bei Autismus an der Universität Halle-Wittenberg.

Deckblatt 1
Titelseite 5
Impressum 6
Inhaltsverzeichnis 7
Vorwort 11
I Verstehen 13
1 Autismus heute und morgen: Spektrum-Sicht und funktionale Betrachtung 15
Von der Tradition zur Innovation 15
Autismus – innovativ ausgelegt 18
DSM 5 26
Autismus verstehen lernen 32
Funktionale Betrachtung autistischer Verhaltensmuster 33
Vulnerabilitäts-Stress-Bewältigungsmodell 43
2 Innovative Erklärungsansätze 50
Monotropismus-Hypothese 51
Intense World Theory 66
Bedeutung der Amygdala 69
Theory of Mind 70
Modell der Schwachen Zentralen Kohärenz 71
Modell der Exekutiven Dysfunktion 72
Resümee im Hinblick auf eine verstehende Sicht 73
Konsequenzen für die Praxis und Ausblick 79
Empathy Imbalance Hypothesis und Extreme Male Brain Theory 83
Revision und Weiterentwicklung der Theory of Mind 84
Enhanced Perceptional Functioning 94
Konsequenzen für die Praxis 109
II Annehmen 113
1 Innovative Leitprinzipien: Empowerment und Inklusion 115
Die Geschichte von Kayla Takeuchi 115
Empowerment 116
Inklusion 120
2 Paradigmenwechsel im Zeichen von Empowerment und Konsequenzen für die Praxis 130
Das Beispiel TW 131
Von der Top-down-Partizipation zur Bottom-up-Partizipation 133
Personzentrierte Planung 134
Persönliche Zukunftsplanung 137
Persönliche Lebensstilplanung 139
Soziale Netzwerkplanung 140
Das Instrument »My Plan« 141
Individuelle Hilfeplanung (IHP-3) 143
Resümee und Organisation der Personzentrierten Planung 147
Sozialraumorientierung 149
Behinderten-Beiräte und Betroffenenbeteiligung 153
III Unterstützen 155
1 Leitperspektive Ressourcenaktivierung 157
2 Frühe Hilfen 161
Das Beispiel Jeff 161
Elternberatung und Familienarbeit 165
Unterstützerkreis und Programmplanung 167
Pädagogische und therapeutische Methoden 170
Das Beispiel ABA: Von der restriktiven zur ressourcenorientierten Praxis 174
3 Schule und Unterricht 181
Schulische Inklusion 181
Vertrauen in die Lernfähigkeit autistischer Schüler(innen) und allgemeine Unterstützungsmöglichkeiten 185
Individuelle Unterstützungsplanung 190
Lehrplanimplementierung 195
Subjektzentrierte Unterstützung 196
Kontextgestaltung 200
Planung eines inklusiven Unterrichts 204
Schlussbemerkung 215
4 Arbeit und Wohnen 218
Einleitende Bemerkungen zur Teilhabe am Arbeitsleben 218
Spezielle Bildungs- und Unterstützungssysteme zur Teilhabe am allgemeinen Arbeitsleben 220
Übergangsschulen 222
Angebote und Systeme zur beruflichen Bildung 224
Unterstützte Beschäftigung 228
Integrationsfirmen, -projekte und soziale Unternehmen 233
Unterstützte Hochschulausbildung oder Weiterbildung 235
Wohnen aus der Betroffenen-Sicht 237
Realität des Wohnens 240
5 Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten 244
Positive Verhaltensunterstützung im Arbeitsfeld Schule 244
Ein Beispiel aus der Praxis (nach Hyman 2009) 244
Verständnis von Verhaltensauffälligkeiten 248
Entwicklung und Grundzüge der PVU 249
Vorgehen der PVU als Einzelhilfe 252
Schlussbemerkung 257
Pädagogischer Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten im außerschulischen Bereich 258
Aus Geschichten lernen – Autismus positiv denken 258
Das Beispiel Frau F. 259
Literatur und Quellennachweise 278

2          Innovative Erklärungsansätze


Bis heute werden in der deutschsprachigen Autismusliteratur und -forschung drei Ansätze herausgestellt, wenn es um Erklärungen und/oder kognitive Theorien des Autismus geht. Dies betrifft (1) die Theory of Mind (Baron-Cohen, Leslie & Frith 1985; Baron-Cohen 1999; Happé & Frith 1995), (2) das Modell der Exekutiven Dysfunktion (Ozonoff 1995; Perner & Lang 2000) und (3) das Modell der Schwachen Zentralen Kohärenz (Frith 1989; Happé 1999; Happé & Frith 2006). Allen drei Ansätzen gemeinsam ist eine Defizitorientierung, indem Schwächen autistischer Personen in Bezug auf Einfühlungsvermögen, Übernahme der Perspektive Anderer, Erkennen und Ausdrücken von Gefühlen (Theory of Mind), Handlungsplanungen sowie Flexibilität im Denken, Planen und Handeln (exekutive Dysfunktionen) und Erfassen komplexer Situationen (schwache zentrale Kohärenz) konstatiert werden.

Allerdings sind die Forschungsergebnisse und Interpretationen bei allen drei Erklärungsansätzen nicht immer eindeutig (vgl. Fangmeier 2013; Müller 2007a;b; Paul 2001; Schaller 2013; Schmukler 2005).

So wurden zum Beispiel bei Untersuchungen der Theory of Mind bei der Beantwortung von Fragen festgestellt, dass autistische Personen mit veränderten Fragestellungen bessere Ergebnisse erreichen (z. B. statt der Verwendung des Wortes »denken« die Worte »zuerst nachschauen«). Ferner spielen bestimmte Einflussfaktoren (Sprache, Alter und Intelligenz) eine wichtige Rolle.

Hinsichtlich der exekutiven Dysfunktionen wurde beobachtet, dass autistische Menschen eher Probleme im planenden Handeln innerhalb neuer, unbekannter Situationen haben als in einer gestörten Vorstellungskraft. Zudem nehmen Forscher an, »dass mit zunehmendem Alter die exekutiven Fähigkeiten reifen und sich verbessern« (Fangmeier 2013, 55) sowie Kinder mit Entwicklungsverzögerungen oder der sogenannten Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) stärker betroffen sind als andere (vgl. Freitag 2008, 53), weshalb die exekutive Dysfunktion »kein notwendiges Merkmal von Autismus« ist (Smith 2005, 498; so auch Thompson, Thompson & Reid 2009, 11).

Wurde ursprünglich die schwache zentrale Kohärenz nur negativ interpretiert, so ist heute von einem »veränderten Wahrnehmungsstil« autistischer Personen (vgl. Happé 1999; Happé & Frith 2006; Müller 2007a) die Rede, der auch seine Stärken (Erkennen von Details) hat.

Keines der genannten Modelle ist in der Lage, das Autismus-Spektrum vollständig zu erfassen. Inwieweit ein Zusammenspiel der Ansätze vorstellbar ist, das eine umfänglichere Erfassung von autistischen Merkmalen ermöglichen kann, wird nach wie vor diskutiert (Schaller 2013, 77; Perner und Lang 2000).

Alles in allem lässt sich aus dieser Befundlage schlussfolgern, dass die genannten Ansätze als Erklärungsmodelle für autistisches Verhalten nicht überbewertet werden sollten. Dieser Einsicht begegnen wir vor allem in der internationalen Autismusforschung einiger hoch entwickelter Industrienationen und insbesondere im angloamerikanischen Sprachraum, wo heute andere Modelle zur Erklärung von Autismus den Ton angeben, die aus der Sicht von Autist(inn)en wesentlich eher ihrem autistischen Sein entsprechen würden sowie ihren Erfahrungen und Auffassungen sehr nahe kämen (vgl. Cohen-Rottenberg 2009a; Lawson 2011; Kommentare in Markram & Markram 2013). Gemeint sind damit Ansätze wie die Monotropismus-Hypothese (Lawson 2011), die Intense World Theory (Markram, Rinaldi & Markram 2007; Markram & Markram 2010), die Empathy Imbalance Hypothesis (Smith 2005) und das Enhanced Perceptional Functioning (Mottron & Burack 2001; Mottron et al. 2006), die allesamt hierzulande noch wenig bekannt sind und bislang in der deutschsprachigen Autismusliteratur kaum beachtet werden. Umso wichtiger ist es, sie für die hiesige Fachdiskussion aufzubereiten, um den Anschluss an eine zeitgemäße Betrachtung autistischen Verhaltens und entsprechender Unterstützungskonzepte nicht zu verpassen. Denn die Stärke der neueren Ansätze besteht vor allem darin, dass sie mit ihren Erklärungen bisherige Sichtweisen über Autismus erweitern und vor allem zu einem besseren Verstehen autistischer Personen beitragen.

Monotropismus-Hypothese


Wie schon in der Einleitung angedeutet, gelingt es dem ASAN mit seiner neutralisierten und erweiterten Perspektive die bisherige defizitorientierte Betrachtung von Autismus zu überwinden – so wie es sich autistische Menschen seit einigen Jahren wünschen. Das betrifft vor allem die Berücksichtigung der Stärken-Perspektive, eines spezifischen Lernverhaltens und insbesondere die Würdigung von Spezialinteressen. Genau dies ist erklärtes Ziel der Vertreter der sogenannten Monotropismus-Hypothese1, welche von Autistinnen erforscht und dem Anschein nach von vielen Betroffenen gestützt wird. Damit scheint sie, obwohl sie noch keine ausreichende empirische Unterstützung erfährt (Lawson 2011, 132), verheißungsvoll zu sein. Hinzu kommt, dass die Monotropismus-Hypothese für eine funktionale Betrachtung autistischer Verhaltensweisen richtungsweisend und somit zum Verstehen von Menschen im Autismus-Spektrum hilfreich ist. Daher lohnt es sich, den Ansatz näher zu betrachten und daraus Folgerungen für die Praxis zu ziehen.

Die Monotropismus-Hypothese wird vor allem von Lawson (2011) in enger Zusammenarbeit mit Murray und Lesser (2005)2 erforscht und vertreten.

Nach dem aktuellen Forschungsstand im Bereich der Humangenetik und Neurowissenschaften wird davon ausgegangen, dass Autismus vermutlich durch eine Veränderung mehrerer Gene, die noch exakt bestimmt werden müssen, verursacht wird (Poustka 2009), wobei die genetische Komponente als Dispositionsfaktor anzusehen ist und ein späteres Auftreten von Autismus gleichermaßen von einer Exposition gegenüber bestimmten, zum Teil noch unbekannten, Umweltfaktoren während der Schwangerschaft abzuhängen scheint (Zarembo 2011). Der genaue Zusammenhang zwischen einem veränderten Genom, veränderten neurobiologischen Strukturen, einer veränderten Synapsentätigkeit bestimmter Neurone, einer veränderten neuronalen Konnektivität und Funktionsweise im Gehirn (z. B. einer verringerten oder erhöhten Konnektivität zwischen sensorischen und kognitiven Prozessen), einer veränderten Zusammenarbeit zwischen Langzeit- und Kurzzeitgedächtnis, spezifischen Veränderungen in Hirnarealen wie beispielsweise im limbischen System (Amygdala, Gyrus angularis) sowie im Neurotransmittersystem und den konkreten Auswirkungen auf das Verhalten und Erleben einer Person im Autismus-Spektrum ist gleichfalls noch unbekannt (vgl. Lawson 2011, 130).

Auch Vertreter der Monotropismus-Hypothese gehen von veränderten neurobiologischen Strukturen, Prozessen und Funktionsweisen im Gehirn aus, allerdings versuchen sie nachzuweisen, dass eine veränderte Hirnstruktur nicht konsequenterweise mit einem Defizit gleichzusetzen ist (vgl. Lawson 2011, 27, 108).

Ausgangspunkt ihres Ansatzes ist die Annahme, dass die Aufmerksamkeit eines Menschen quantitativ begrenzt sei, sodass es einen »Wettbewerb zwischen mentalen Prozessen um die knappe Aufmerksamkeit … bei der Formung des kognitiven Prozesses« gebe (Murray, Lesser & Lawson 2005, 140). Die Strategien, die zur Verteilung der Aufmerksamkeit angewandt werden, seien weitgehend genetisch bestimmt und würden einer Normalverteilung entsprechen (ebd.).

Während »neurotypische« (nicht-autistische) Menschen in der Lage seien, sich auf viele Aktivitäten und Interessengebiete gleichzeitig zu konzentrieren, ihre Aufmerksamkeit flexibel anzuwenden und zu verteilen (z. B. Konzentration auf das Wesentliche in einem Gespräch bei gleichzeitiger Beobachtung des Verhaltens des Gesprächspartners), würden Autist(inn)en hingegen ein breites Feld an Informationen »ignorieren« und nur wenige Interessen3 fokussieren – ein Phänomen, das als »tunnel vision« (Attwood zit. n. Lawson 2011, 101) beschrieben wird. Hören wir hierzu den Autisten T. Mukhopadhyay (2005, 115): »Wenn ich mich auf den Klang von etwas konzentrierte, merkte ich, dass meine Augen und meine Nase abschalteten. Ich konnte nie alles gleichzeitig wahrnehmen. Das heißt, ich konnte nicht jemanden sehen und ihn gleichzeitig auch hören. Mein Gehör war immer schärfer als mein Sehsinn. Das ist der Grund, weswegen ich nie meine Augen benutze, um mit jemandem Kontakt aufzunehmen. Die Psychologen nennen das fehlenden Blickkontakt.«

Diese Konzentration auf wenige, »hoch-erregende« (highly aroused) und miteinander unverbundene Interessen erfolge dafür wesentlich intensiver und sei als eine monotropistische Form der Wahrnehmung Ursache für ein verändertes Denken, Erleben und Handeln von Autist(inn)en im Vergleich zu »neurotypischen«...

Erscheint lt. Verlag 6.3.2014
Zusatzinfo 1 Abb.
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften
Sozialwissenschaften Pädagogik Sonder-, Heil- und Förderpädagogik
Schlagworte ASS • Unterstützung • Verständnis
ISBN-10 3-17-025394-8 / 3170253948
ISBN-13 978-3-17-025394-0 / 9783170253940
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