Ohne jeden Zweifel (eBook)
400 Seiten
Manhattan (Verlag)
978-3-641-09148-4 (ISBN)
Für Daniel ist die Nachricht ein Schock: Seine Mutter, die seit einigen Monaten mit ihrem Mann in Schweden lebt, wurde in die Psychiatrie eingeliefert. Tilde leide unter Verfolgungsangst und Wahnvorstellungen, behauptet Daniels Vater. Doch Tilde selbst, die aus Schweden zu ihrem Sohn nach London flieht, erzählt eine ganz andere Geschichte. Eine von vertuschten Verbrechen in einer eingeschworenen kleinen Gemeinschaft und dem Verschwinden einer jungen Frau in jener abgelegenen Gegend Schwedens. Doch niemand will ihr glauben. Nun ist Daniel ihre letzte Hoffnung. Tilde schildert ihm die Ereignisse der vergangenen Monate, immer in der Angst, dass auch er an ihrem Verstand zweifeln könnte ...
Tom Rob Smith wurde 1979 als Sohn einer schwedischen Mutter und eines englischen Vaters in London geboren, wo er auch heute noch lebt. Er studierte in Cambridge und Italien und arbeitete anschließend als Drehbuchautor. Mit seinem Debüt »Kind 44« gelang Tom Rob Smith auf Anhieb ein internationaler Bestseller. Der in der Stalin-Ära angesiedelte Thriller basiert auf dem wahren Fall des Serienkillers Andrej Chikatilo und wurde u. a. mit dem »Steel Dagger« ausgezeichnet, für den »Man Booker Prize« nominiert und bisher in dreißig Sprachen übersetzt. Nach »Kind 44« und »Kolyma« schloss der Autor seine Trilogie um den Geheimdienstoffizier Leo Demidow mit dem Roman 'Agent 6' ab.
BIS ZU DEM ANRUF war es ein ganz normaler Tag gewesen. Ich ging mit Einkäufen beladen zu meiner Wohnung gleich südlich der Themse in Bermondsey. Es war ein drückend heißer Augustabend, und als das Handy klingelte, überlegte ich, es einfach zu ignorieren, weil ich nur noch nach Hause und duschen wollte. Aber meine Neugier war stärker, also ging ich langsamer, zog das Handy aus der Tasche und hielt es mir ans Ohr. Schweiß perlte auf das Display. Es war mein Vater. Vor Kurzem erst war er nach Schweden gezogen, und der Anruf war ungewöhnlich – er benutzte sein Handy ohnehin nur selten, und ein Anruf nach London war teuer. Mein Vater weinte. Ich blieb wie angewurzelt stehen und ließ die Einkaufstüte fallen. Ich hatte ihn noch nie weinen gehört. Meine Eltern hatten sich nie vor mir gestritten oder waren wegen irgendwas aus der Haut gefahren. Bei uns hatte es keine bösen Streits oder tränenreichen Szenen gegeben. Ich sagte:
»Dad?«
»Deine Mutter … Es geht ihr nicht gut.«
»Ist sie krank?«
»Es ist so traurig.«
»Traurig, weil sie krank ist? Wie krank? Was hat sie denn?«
Dad weinte immer noch. Ich konnte nur stumm warten, bis er erklärte: »Sie bildet sich Dinge ein – wirklich schlimme Dinge.«
Es war so seltsam und kam so unerwartet, dass sie ein psychisches Problem haben sollte, dass ich mich erst einmal hinhocken und mit einer Hand auf dem warmen, rissigen Gehweg abstützen musste. Aus der heruntergeknallten Einkaufstüte sickerte Tomatensoße auf den Beton. Nach einem Moment fragte ich:
»Wie lange schon?«
»Den ganzen Sommer über.«
Seit Monaten, und ich hatte nichts davon gewusst – ich hatte ahnungslos hier in London gesessen, während mein Dad mir nach alter Tradition alles verschwieg. Er erriet meine Gedanken und fügte hinzu:
»Ich war sicher, ich könnte ihr helfen. Vielleicht habe ich zu lange gewartet, aber die Symptome haben sich erst nach und nach gezeigt – am Anfang war sie nur etwas überreizt und hat manchmal komische Dinge gesagt, aber so sind wir alle mal. Dann folgten Anschuldigungen. Sie behauptet, sie hätte Beweise, sie redet von Indizien und Verdächtigen, aber das sind alles Lügen und Unsinn.«
Dad hatte aufgehört zu weinen, er sprach lauter, nachdrücklicher, als müsse er sich verteidigen. Er stockte nicht mehr, und in seiner Stimme lag mehr als nur Traurigkeit.
»Ich habe gehofft, es würde vorbeigehen, sie müsste sich vielleicht nur an das Leben in Schweden und auf einem Bauernhof gewöhnen. Aber es wurde immer schlimmer. Und jetzt …«
Meine Eltern gehörten einer Generation an, die nur bei Verletzungen zum Arzt ging, die man mit eigenen Augen sehen oder mit dem Finger ertasten konnte. Einen Fremden mit intimen Details aus ihrem Leben zu belasten war unvorstellbar.
»Dad, sie war doch hoffentlich beim Arzt?«
»Er glaubt, sie würde an einer akuten Psychose leiden. Daniel …«
Mum und Dad waren die einzigen Menschen, die meinen Namen nicht zu Dan abkürzten.
»Deine Mum ist im Krankenhaus. Ich musste sie einweisen lassen.«
Als ich das hörte, öffnete ich den Mund, um etwas zu sagen, aber ich hatte keine Ahnung, was, und am Ende blieb ich stumm.
»Daniel?«
»Ja?«
»Hast du gehört?«
»Ja, habe ich.«
Ein verbeulter Wagen fuhr vorbei, wurde langsamer, damit der Fahrer mich angaffen konnte, blieb aber nicht stehen. Ich sah auf meine Uhr. Es war acht Uhr abends, heute würde ich keinen Flug mehr bekommen – ich würde morgen früh fliegen. Statt mich meinen Gefühlen zu überlassen, zwang ich mich zu funktionieren. Wir unterhielten uns noch eine Weile. Nach den ersten aufwühlenden Minuten wurden wir wie immer – beherrscht und verhalten. Ich sagte:
»Ich buche für morgen früh einen Flug. Danach rufe ich dich wieder an. Bist du auf dem Hof? Oder im Krankenhaus?«
Er war auf dem Hof.
Als wir uns verabschiedet hatten, holte ich alle Sachen einzeln aus der Einkaufstüte und reihte sie auf dem Bordstein auf, bis ich das gesprungene Glas Tomatensoße fand. Vorsichtig entfernte ich die Scherben, die nur noch vom Etikett zusammengehalten wurden. Ich warf sie in einen Abfalleimer in der Nähe, bevor ich mit Papiertüchern die restliche Soße von meinen Einkäufen wischte. Es wirkte vielleicht unnötig – Scheiß auf die Tüte, meine Mutter ist krank –, aber diese schlichten Handgriffe hatten für mich etwas Tröstliches. Schließlich nahm ich die Tüte und legte mit schnelleren Schritten den restlichen Weg nach Hause zurück, in den obersten Stock einer ehemaligen Fabrik, die jetzt in mehrere Wohnungen unterteilt war. Ich stellte mich unter die kalte Dusche und dachte darüber nach, ob ich weinen sollte – wäre das jetzt angebracht?, überlegte ich, als ginge es darum, sich eine Zigarette anzuzünden. Musste ich das als Sohn nicht sogar? Aber Tränen sollten von selbst fließen, womit ich mich schwertue. Ich zögere, bevor ich Gefühle zeige. Auf Fremde wirke ich reserviert. In diesem Fall zögerte ich allerdings nicht aus Vorsicht, sondern weil ich es nicht glauben konnte. Auf eine Situation, die ich nicht verstand, konnte ich nicht emotional reagieren. Ich würde nicht weinen. Dafür gab es zu viele offene Fragen.
Nach dem Duschen ging ich an meinem Computer die Mails durch, die mir meine Mum in den letzten fünf Monaten geschrieben hatte, und suchte nach Hinweisen, die mir vielleicht entgangen waren. Ich hatte meine Eltern nicht mehr gesehen, seit sie im April nach Schweden gezogen waren. Bei ihrer Abschiedsparty hatten wir auf ihren gemütlichen Ruhestand angestoßen. Alle Gäste hatten vor ihrem alten Haus gestanden und ihnen fröhlich nachgewinkt. Ich habe keine Geschwister, auch keine Onkel oder Tanten, wenn ich »Familie« sage, meine ich uns drei, Mum, Dad und mich – ein Dreieck, wie ein Teil eines Sternzeichens, drei helle Sterne nah beieinander, umgeben von weitem, leerem Raum. Wir hatten nie groß darüber gesprochen, dass wir keine Verwandten hatten. Es gab nur Andeutungen – meine Eltern hatten keine leichte Kindheit gehabt, waren von ihren eigenen Eltern entfremdet, und sicher stritten sie sich vor allem deshalb nie vor mir, weil sie mir eine andere Kindheit bereiten wollten. Es ging ihnen nicht um die feine englische Art. Sie sparten nie an Liebe oder Freude, solche Gefühle drückten sie bei jeder Gelegenheit aus. Die guten Zeiten wurden gefeiert, in weniger guten gaben sie sich optimistisch. Deshalb glauben manche, ich hätte ein behütetes Leben geführt – ich habe nur die guten Zeiten gesehen. Das Schlechte wurde verborgen. Und ich spielte mit. Ich bohrte nie nach. Diese Abschiedsparty gehörte zu den guten Zeiten. Die Gäste jubelten, als meine Eltern zu ihrem großen Abenteuer aufbrachen, mit dem meine Mum in das Land zurückkehrte, das sie mit sechzehn verlassen hatte.
In der ersten Zeit auf dem abgelegenen Hof am südlichen Zipfel Schwedens hatte meine Mum regelmäßig Mails geschickt. Darin beschrieb sie, wie wunderbar das Leben dort war, wie schön die ländliche Gegend, wie freundlich die Menschen. Wenn sie einen Hinweis enthielten, dass etwas nicht stimmte, war er sehr dezent, und ich hatte ihn nicht verstanden. Mit den Wochen wurden ihre Mails kürzer, die begeisterten Zeilen weniger. Ich hatte das als positives Zeichen gedeutet. Ich hatte gedacht, meine Mum habe sich eingewöhnt und sei einfach zu beschäftigt. Ihre letzte Mail an mich erschien auf dem Monitor:
Daniel!
Mehr nicht, nur mein Name, ein Ausrufezeichen – ich hatte kurz geantwortet, die Mail sei nicht richtig durchgegangen und sie solle sie bitte noch einmal schicken. Ich hatte diese kurze Nachricht als Übertragungsfehler abgetan und keinen Gedanken daran verschwendet, sie könnte ein Hilferuf gewesen sein.
Ich sah unseren gesamten Briefwechsel durch, irritiert, dass ich so blind gewesen war, und überlegte besorgt, was ich vielleicht sonst noch übersehen hatte. Aber es gab keine verräterischen Anzeichen, keine Fantasiegespinste, ihr Stil war nicht ungewöhnlich, und sie schrieb größtenteils auf Englisch, weil ich zu meiner Schande das meiste Schwedisch, das sie mir als Kind beigebracht hatte, längst vergessen hatte. Eine der Mails enthielt zwei große Anhänge, aber keinen Text. Es waren Fotos. Ich musste sie mir schon angesehen haben, konnte mich jedoch nicht an sie erinnern. Auf dem Monitor öffnete sich das erste Foto – eine desolate Scheune mit rostigem Stahldach, ein grauer Himmel, davor ein abgestellter Traktor. Beim Hineinzoomen erkannte ich, dass sich die Fotografin – meine Mum – zum Teil im Fenster der Scheune spiegelte. Ihr Gesicht wurde vom Blitz überstrahlt, so dass es aussah, als würde ihr Kopf in weiße Lichtspitzen zerspringen. Auf dem zweiten Bild unterhielt sich mein Vater vor ihrem Bauernhaus mit einem groß gewachsenen Fremden. Mein Vater schien nicht gemerkt zu haben, dass er fotografiert wurde. Durch die große Entfernung wirkte es eher wie ein Überwachungsfoto als wie ein Familienschnappschuss. Beide passten nicht zu den Beschreibungen, es sei alles so schön, obwohl ich das in meiner Antwort natürlich nicht erwähnt hatte. Ich hatte nur geschrieben, ich würde mich darauf freuen, den Hof selbst zu sehen. Was gelogen war. Ich hatte keine Lust auf einen Besuch und hatte mich mit vagen Halbwahrheiten herausgeredet und ihn vom Frühsommer auf den Spätsommer und schließlich auf den Frühherbst verschoben.
Tatsächlich schob ich es hinaus, weil ich Angst hatte. Ich hatte meinen Eltern nicht erzählt, dass ich mit meinem Partner...
Erscheint lt. Verlag | 14.10.2013 |
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Übersetzer | Eva Kemper |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Farm |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | eBooks • Geheimnis in der Vergangenheit • Krimibestenliste • KrimiZEIT-Bestenliste • London • Mutter und Sohn • psychologische Spannung • psychologische Spannung, Mutter und Sohn, Schweden, Verbrechen, KrimiZeit-Bestenliste, Geheimnis in der Vergangenheit • Psychothriller • Schweden • Thriller • Verbrechen |
ISBN-10 | 3-641-09148-9 / 3641091489 |
ISBN-13 | 978-3-641-09148-4 / 9783641091484 |
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