Mythos Weimar (eBook)

Zwischen Geist und Macht
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2013 | 1. Auflage
448 Seiten
Pantheon (Verlag)
978-3-641-10012-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mythos Weimar -  Peter Merseburger
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Dem Geist von Weimar auf der Spur
Weimar steht für deutsche Größe wie für deutsche Schande. Die Höhen und Tiefen dieses zwiespältigen Ortes sind die Angelpunkte in Merseburgers politischer Kulturgeschichte dieser Stadt: Von Luther, Bach, Goethe und Liszt spannt er den Bogen über die Geburt der Republik und den Aufbruch in die Moderne mit dem Staatlichen Bauhaus zu den Diktatoren des 20. Jahrhunderts. Peter Merseburgers Buch ist aber nicht nur die Geschichte einer Stadt, es erzählt auch deutsche Geschichte.

Peter Merseburger (1928-2022) war Journalist bei verschiedenen Tageszeitungen, 1960 bis 1965 Redakteur und Korrespondent beim SPIEGEL, moderierte ab 1967 »Panorama«, wurde 1969 TV-Chefredakteur des NDR und leitete danach die ARD-Studios in Washington, London und Ost-Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, darunter der Longseller »Mythos Weimar. Zwischen Geist und Macht«. Seine Biographie Willy Brandts wurde 2003 mit dem Deutschen Bücherpreis ausgezeichnet. Zuletzt erschien seine Autobiographie »Aufbruch ins Ungewisse. Erinnerungen eines politischen Zeitgenossen« (2021).

Im Anfang war die Obrigkeit

Luther, Weimar und die Ehe von Thron und Altar

IN STIEFEL UND SPORN, sagt die Fama, hat der Pfarrherr auf der Kanzel gestanden. Das war zu Weimars lustiger Zeit, als mit dem jungen Frankfurter Advokaten Goethe Sturm und Drang in die abgelegene, idyllische Residenz einbrach und höfische Etikette plötzlich nichts mehr zu gelten schien. Da überbot man sich an Tollheiten, ritt die wildesten Jagden über Stock und Stein, zechte, vagabundierte und tanzte mit den Mägden auf den Dörfern. Selbst der Pastor Primarius, Kirchenrat und Oberhofprediger Johann Gottfried Herder soll gelegentlich mit von der Partie gewesen sein. Als Superintendent der höchste Beamte des geistlichen Standes, war er eine Art Landesbischof von Sachsen-Weimar und damit Herr über ein Juwel der Reformation: die Stadtkirche St. Peter und Paul, in der schon Martin Luther mehrfach gepredigt hatte. Zwei mächtige Bronzeplatten unter dem Triumphbogen in der Mittelachse künden davon, daß hier, neben seiner Frau Sybille, Johann Friedrich begraben liegt, der die Protestanten gegen Karl V. führte und unterlag. Cranach der Ältere hat ihn auf einem Seitenflügel seines berühmten Triptychons für St. Peter und Paul festgehalten, auf jenem Altarbild, das Goethe, kaum in Weimar eingetroffen, bewundert und davon Herder berichtet hat, der damals noch in Bückeburg tätig war.

Da kniet Johann Friedrich, den man den Großmütigen nennt, die Hände zum Gebet gefaltet; ungemein breitgesichtig schaut er aus, hat dunkle, kurzgeschorene Haare, dunkelbraune Augen, den gekräuselten Bart trägt er lang, aber wohlgeschnitten, mit einem Schnauzer darüber, ein Typ von unverkennbar slawischem Einschlag. Ein wenig aufgeschwemmt hat ihn der treue Cranach festgehalten, sichtlich scheint sein Herzog mit der Trunksucht, dem Laster der Deutschen, geschlagen, das freilich auch seinem theologischen und politischen Berater Luther nicht fremd gewesen. Sagt der doch einmal von sich, er fresse wie der Böhm und saufe wie ein Deutscher. Ein Politiker klugen Kalküls ist dieser Johann Friedrich nicht, auch fehlt ihm zum Feldherrn die nötige Fortüne. Ein Jahr nach Luthers Tod vom Kaiser 1547 vernichtend bei Mühlberg an der Elbe geschlagen und gefangengenommen, geht er der Kurwürde samt der Hälfte seines Landes verlustig. Wohl oder übel macht er Weimar mit dem wenigen Land, das ihm bleibt, zur alleinigen Residenz des ernestinischen Herzogtums, das nun Sachsen-Weimar heißt.

Cranach der Ältere entwirft diese Altarbilder als Achtzigjähriger in Weimar, nachdem er zwei Jahre die Gefangenschaft mit seinem Herrn geteilt hat, ja selbst die Kutsche, die ihn nach dessen Freilassung von Innsbruck Ende September 1552 in die Residenz an der Ilm bringen sollte. Der Einzug des Fürsten und seines Malers nach den Jahren kaiserlicher Haft kommt der Triumphfahrt eines evangelischen Märtyrers gleich. Ganz Weimar ist auf den Beinen und des Jubelns kein Ende, vermeldet ein Zeitgenosse.

Aber die Begeisterung der Untertanen gilt nicht nur dem Schutzherrn und Sachwalter der Reformation, als deren Kernland Thüringen gelten muß, auch handfeste materielle Erwartungen schwingen mit. Mit dem Hof kommen fürstliche Verwalter und Angehörige des umfangreichen Hofstaats in die Stadt, zahlungskräftige neue Bürger, welche die Geschäfte beleben und dem Ort wachsende Bedeutung verleihen. Um 1500 noch zählte Weimar tausendachthundert Einwohner in dreihundert Häusern, meist mit leicht brennbaren Schindeln statt mit Ziegeln gedeckt. Gute fünfzig Jahre später leben hier knapp dreitausend Menschen, aber die Stadt hat noch immer ländlichen Charakter, die Einwohner sind Handwerker und Ackerbürger, deren Schweine und Gänse zum Kummer der Ratsherren die ungepflasterten Gassen bevölkern.

Auch der Hof kann die Nachteile der geographischen Lage nicht ausgleichen. Weimar liegt abseits der großen Handelsstraßen, sein Markt ist unbedeutend, Geschäfte, die in diesem toten Winkel an der Ilm abgewickelt werden, reichen nicht über die weitere Umgebung hinaus. Eine wohlhabende Kaufmannschaft oder ein Patriziat, das anderswo zu Trägern stadtrepublikanischer Ideen wird, kann sich unter solchen Bedingungen nicht heranbilden. Die Stadt entwickelt kein Eigengewicht, ihre Bürgerschaft wird nicht zum Gegenpol des Hofs, sondern bleibt abhängig und geprägt von der feudalen Macht, die über ihr Wohl und Wehe entscheidet, auch über Zeiten des Glanzes und des Niedergangs. Diese politisch-soziale Struktur verändert sich bis zur Zeit Goethes und Schillers, Wielands und Herders nicht und wird von nicht zu unterschätzendem Einfluß auf die deutsche Klassik sein.

Lucas Cranach der Ältere, der mit dem Fürsten gekommen ist, wohnt bei seiner Tochter Barbara, der Ehefrau des herzoglichen Kanzlers Christian Brück, in jenem stattlichen Renaissancehaus am Markt, das heute seinen Namen trägt. Weimar ist ihm nicht unbekannt, er hat hier schon 1521 die Orgel in der Schloßkirche bemalt. Jetzt richtet er sich eine kleine Werkstatt ein und bekommt Hilfe von seinem Sohn Lucas, der des Vaters große Malmanufaktur weiter betreibt, aber vor der Pest, die in Wittenberg ausgebrochen ist, für einige Monate Zuflucht in Weimar sucht. Das Triptychon für St. Peter und Paul gilt als des älteren Cranach letztes, eindrucksvollstes und berühmtestes Werk, als Epitaph und Glaubenszeugnis des nach Dürer bedeutendsten deutschen Malers seiner Zeit, auch wenn es von ihm nur begonnen wird und nach seinem Tod 1553 von dem Jüngeren vollendet werden muß.

Sein Weimarer Altar ist ein Symbol für den Erfolg der neuen Lehre, der ohne die reformatorische Dreieinigkeit von Luther, dem Theologen und Prediger, Cranach, dem Illustrator und Agitator, und den ernestinischen Territorialherren, die sie politisch durchsetzen und schützen, nicht denkbar gewesen wäre. Geradezu demonstrativ und voller Stolz steht er als eine der wichtigsten Mitväter dieser reformatorischen Erfolgsgeschichte im Mittelbild des Klappaltars neben Martin Luther, sein Gesicht strahlt Aufrichtigkeit, Festigkeit, ja Glaubensgewißheit aus. Blut aus Christi Seitenwunde spritzt auf Cranachs Kopf und wird von allen Sünden reinigen. So in winzigen Lettern nachzulesen in der aufgeschlagenen Bibel, welche der Reformator in der Linken hält, indes er mit der Rechten auf die Heilige Schrift weist – das Evangelium soll lauter und rein, ohne Zusatz menschlicher Lehre oder Interpretationen der verderbten römischen Kurie gepredigt werden.

Der sächsische Kurfürst Johann Friedrich der Großmütige (1503–1554) auf dem linken Seitenflügel des Triptychons von Lucas Cranach in der Stadtkirche St. Peter und Paul zu Weimar.

© Constantin Beyer, Weimar

Auf dem linken Seitenbild der Fürst und Schutzherr der Reformation, rechts dessen Söhne, die sein Werk einmal fortsetzen sollen. Aber näher dem Herrn Christus und dem Reformator eben er selbst, der große Agitpropkünstler der Reformation, der Hofmaler, Drucker und Unternehmer, der in Wittenberg eine große Werkstatt mit Malern, Holzschneidern, Vergoldern und Tischlern unterhielt. Cranach entwarf die Titelbilder für die Brandschriften und Traktate, die der Reformator unter das Volk schleuderte, er illustrierte sie mit Holzschnitten und druckte sie auf mehreren Pressen, die er eigens dafür angeschafft hatte; der große Maler war zugleich Chef der ersten evangelischen Werbeagentur. Wenn bald nach dem Thesenanschlag allerorten in Deutschland das Feldgeschrei »Luther« und »Tod dem römischen Hof« erschallt, ist dies nicht nur lutherischer, dem Maul des Volks abgeschauter Wortgewalt, sondern auch Luthers eifrigstem Propagandisten zu danken, der für die werbewirksame Aufmachung der Flugschriften gesorgt hat. Übrigens wurde aus der zunächst eher geschäftlichen Beziehung zwischen dem Reformator und seinem Verleger bald eine echte Freundschaft. Luther nannte ihn seinen lieben Gevatter Lucas und stand Pate bei der Taufe von Cranachs Tochter Anna, Cranach wiederum war Luthers Brautwerber und Pate seines Sohnes Hans.

DIE KULTURHISTORISCHE BEDEUTUNG Weimars beginnt wahrlich nicht erst mit dem Musenhof der Regentin Anna Amalia, ihrem Prinzenerzieher Wieland und dessen »Teutschem Merkur«. Für die Ernestiner, Vorkämpfer des deutschen Protestantismus, ist die Stadt nach Wittenberg, später Torgau, ihre wichtigste Residenz. Weimar spielt eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung eines neuen evangelischen Lehrgebäudes und dem Aufbau einer neuen kirchlichen Hierarchie, die alsbald in ein modernes Landeskirchentum mündet und sich für die Geschichte der Deutschen als äußerst problematisch erweisen wird. Die Reformation entwickelt sich um eine Achse Wittenberg-Weimar, wobei Thüringen mit dem Bilderstürmer Karlstadt in Orlamünde und dem Schwärmer Müntzer in Allstedt (später Mühlhausen) zum Schnittpunkt der verschiedensten reformatorischen Bewegungen wird, und zwar solcher »von unten« wie auch derjenigen, welche die Obrigkeit zusammen mit Luther schließlich als gültige Norm beschließt.

Jener Johann Friedrich der Großmütige, der auf dem Altarbild Cranachs so fromm und andächtig darniederkniet, wächst bei seinem Vater Herzog Johann im Weimarer Schloß auf und schmuggelt schon als Sechzehnjähriger lutherische Schriften ins Franziskaner-Kloster, das damals als Hochburg der Anhänger des alten Glaubens in Weimar gilt. Gedacht sind die Traktate für jene Dissidenten, die sich ernsthaft mit den Thesen des früheren Augustinerbruders Martin auseinandersetzen wollen und bald evangelische Geistliche werden: Bruder Friedrich Myconius aus Annaberg, später erster Superintendent von Gotha, und Johann Voit, dann erster evangelischer Pfarrer in Ronneburg. In einem Winkel versteckt, lesen beide als junge...

Erscheint lt. Verlag 10.6.2013
Zusatzinfo mit Abbildungen
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte Anna Amalia Bibliothek • Aufbruch in die Moderne • Bauhaus • Deutsche Klassik • eBooks • Geschichte • Goethe • Kulturgeschichte • Kulturgeschichte, Deutsche Klassik, Goethe, Schiller, Nationalsozialismus, Bauhaus, Weimarer Republik, Thüringen, Kulturhauptstadt Europas, Aufbruch in die Moderne • Kulturhauptstadt Europas • Nationalsozialismus • Nietzsche • Schiller • Thüringen • Weimarer Republik • Weltkulturerbe
ISBN-10 3-641-10012-7 / 3641100127
ISBN-13 978-3-641-10012-4 / 9783641100124
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