Der Märchenerzähler (eBook)

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2011 | 1. Auflage
448 Seiten
Verlag Friedrich Oetinger
978-3-86274-560-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Märchenerzähler -  Antonia Michaelis
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Geliebter Mörder? Atemlos spannend - ein Meisterwerk von Antonia Michaelis! Abel Tannatek ist ein Außenseiter, ein Schulschwänzer und Drogendealer. Wider besseren Wissens verliebt Anna sich rettungslos in ihn. Denn es gibt noch einen anderen Abel: den sanften, traurigen Jungen, der für seine Schwester sorgt und der ein Märchen erzählt, das Anna tief berührt. Doch die Grenzen zwischen Realität und Fantasie verschwimmen. Was, wenn das Märchen gar kein Märchen ist, sondern grausame Wirklichkeit? Was, wenn Annas schlimmste Befürchtungen wahr werden? Ein temporeicher Thriller und eine zu Herzen gehende Liebesgeschichte - lässt nicht los! Eindrucksvoll, begeisternd und abwechslungsreich - eine ganz neue Antonia Michaelis.

Antonia Michaelis, Jahrgang 1979, in Norddeutschland geboren, in Süddeutschland aufgewachsen, zog es nach dem Abitur in die weite Welt. Sie arbeitete u.a. in Südindien, Nepal und Peru. In Greifswald studierte sie Medizin und begann parallel dazu, Geschichten für Kinder und Jugendliche schreiben. Seit einigen Jahren lebt sie nun als freie Schriftstellerin in der Nähe der Insel Usedom und hat zahlreiche Kinder und Jugendbücher veröffentlicht, facettenreich, fantasievoll und mit großem Erfolg. 'Der Märchenerzähler', ihr erstes Buch für junge Erwachsene, wurde für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2012 nominiert.

Antonia Michaelis, Jahrgang 1979, in Norddeutschland geboren, in Süddeutschland aufgewachsen, zog es nach dem Abitur in die weite Welt. Sie arbeitete u.a. in Südindien, Nepal und Peru. In Greifswald studierte sie Medizin und begann parallel dazu, Geschichten für Kinder und Jugendliche schreiben. Seit einigen Jahren lebt sie nun als freie Schriftstellerin in der Nähe der Insel Usedom und hat zahlreiche Kinder und Jugendbücher veröffentlicht, facettenreich, fantasievoll und mit großem Erfolg. "Der Märchenerzähler", ihr erstes Buch für junge Erwachsene, wurde für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2012 nominiert.

2

Abel

»Bilde dir bloß nicht ein, du könntest so einen kennenlernen wie Tannatek«, sagte Gitta. »Denk mal an den Drei-Millimeter-Haarschnitt …« Sie schlug ihre Füße unter und wippte ein wenig auf der Ledercouch auf und ab. Anna dachte daran, wie sie als Kinder genau diese Couch als Trampolin benutzt hatten. Die Couch stand vor einer Glaswand und dahinter lag irgendwo der Strand. Man sah den Strand nicht, das halbe Neubaugebiet lag dazwischen. Das Haus mit der Glaswand im Wohnzimmer war ein Teil des Neubaugebietes, ein Klotz von einem Haus, völlig quadratisch, irgendwie modern, aber auf eine misslungene Art.

Der Garten war zu ordentlich. Gitta hatte erklärt, sie wäre sich fast sicher, dass ihre Mutter in unbeobachteten Momenten die Blätter der Buchsbaumhecke steril abwusch.

Gitta kam nicht besonders mit ihrer Mutter aus. Sie war Chirurgin an der Klinik, so wie früher Annas Vater, aber er war auch nicht besonders mit ihr ausgekommen und in eine weniger ordentliche Praxis geflohen.

»Anna?«, sagte Gitta. »Worüber denkst du nach?«

»Ich dachte … ich dachte über unsere Eltern nach«, sagte Anna. »Und dass sie alle Ärzte sind oder sonst was.«

»Sonst was«, sagte Gitta, stieß die Luft verächtlich durch die Nase aus und drückte ihre drinnen verbotene Zigarette auf einer Untertasse aus. Sie rauchte sie vermutlich nur, weil sie verboten war. »Ganz genau. Was hat das mit Tannatek zu tun?«

»Nichts«, sagte Anna und seufzte. »Alles. Ich habe mich gefragt, was seine Eltern sind. Woher er kommt. Wo er wohnt.«

»Ostseeviertel«, sagte Gitta. »Ich seh ihn da immer langfahren. Plattenbau, da beim Aldi.«

Sie rutschte auf dem Sofa ganz nach vorne und sah Anna scharf an. Ihre Augen waren blau. Wie die von Abel, dachte Anna, aber anders. Wie viele Arten von Blau gab es auf der Welt? Theoretisch unendlich viele … »Warum willst du all diese Dinge wissen?«, fragte Gitta mit einem gewissen lauernden Unterton.

»Nur … so«, sagte Anna.

»Ach, nur so«, meinte Gitta. »Ich werd dir was sagen, mein Kind. Du hast dich verknallt. Werd nicht gleich rot, das passiert jedem. Aber du hast dir den Falschen ausgesucht. Mach dich nicht unglücklich. Mit einem wie Tannatek kannst du höchstens eine Fickbeziehung führen und da fängst du dir wahrscheinlich noch was ein. Das ist nichts für dich.«

»Jetzt halt mal die Luft an!«, sagte Anna und merkte, dass sie fauchte. »Wir reden hier überhaupt nicht über Beziehungen und übers … über … darüber schon gar nicht. Meine Welt ist vielleicht nicht ganz so beschränkt wie deine, und ich denke ab und zu über was anderes nach als darüber, wie ich den nächsten Kerl ins Bett kriege.«

»Den nächsten?«, fragte Gitta und grinste. »Wer war der erste? Hab ich was verpasst?«

»Mit dir kann man nicht reden«, knurrte Anna und stand auf. Doch Gitta zog sie wieder hinunter auf den modernen, eckigen Ledersessel, einen Sessel, den man hervorragend steril abwaschen konnte – und das, dachte Anna böse, war bei Gittas momentanem Lebenswandel sicherlich von Nutzen.

»Hey, Anna«, sagte Gitta. »Nun reg dich nicht gleich so auf. War nicht böse gemeint, okay? Ich will nur nicht, dass du dich unglücklich machst. Ich mag dich, weißt du? Könntest du dich nicht in jemand anderen verlieben?«

»Ich bin in überhaupt niemanden verliebt«, sagte Anna. »Du kannst also gleich wieder damit aufhören, es mir einreden zu wollen.«

Sie sah durch die Glasscheibe hinaus auf das Neubaugebiet. Wenn sie ihre Augen ganz fest zukniff, konnte sie die Häuser vielleicht unsichtbar werden lassen und das Wasser dahinter erkennen. Es war eine Frage des Willens. Und wenn sie sich sehr, sehr anstrengte, konnte sie vielleicht etwas über Abel Tannatek herausfinden. Ohne Gitta. Warum hatte sie den Mund nicht halten können? Warum hatte sie Gitta erzählen müssen, dass sie mit Abel gesprochen hatte? Weil es drei Tage her war, seit sie mit Abel gesprochen hatte, dachte sie, deshalb. Weil er seitdem nicht wieder mit ihr gesprochen hatte. Kein Wort. Weil es war, als hätte er überhaupt nie mit ihr gesprochen. Die Seifenblase hatte sich wieder um Anna geschlossen und die kalte Hülle aus Schweigen hatte sich um Abel geschlossen. In der Seifenblase jedoch war etwas zurückgeblieben. Ein glimmender Funke. Neugier.

»Jetzt hör mal zu, mein Kind«, sagte Gitta und zündete eine neue Zigarette an. Bestand ihr Leben völlig aus Zigaretten? Sie machte Anna ganz wahnsinnig mit dem Angezünde und Ausgedrücke und Herumgekrame. »Hör mal gut zu. Ich weiß schon, du bist ein Ende schlauer als ich, ein gutes Ende, bessere Noten und alles, und die Musik … du denkst über Dinge nach, über die Leute wie ich nicht nachdenken. Das weiß ich alles. Aber in dieser einen, einzigen Sache solltest du wirklich auf mich hören. Vergiss Tannatek. Denk mal an die Puppe. Warum rennt er mit einer Kinderpuppe herum? Kleine Schwester? Na, ich weiß nicht. Kann schon sein, er hat eine kleine Schwester, aber ich hätte die Puppe mal gründlich untersucht. Was hat er gesagt? Du sollst sie vorsichtig anfassen? Siehst du keine Krimis? Liest du nicht wenigstens welche? Du liest doch Bücher! Ich meine, ich weiß nicht, woher er seinen Stoff bezieht, aber er hat mal so eine Bemerkung fallen lassen, und ich denke, er hat gute Kontakte nach Polen rüber. In irgendwas muss man doch das Zeug auch transportieren?«

»Du meinst, in der Puppe …«

Gitta zuckte die Schultern. »Ich meine gar nichts. Ich denke nur laut. Meine Güte, wir sind ja alle froh, dass es ihn gibt, unseren polnischen Kurzwarenhändler. Er ist immer noch der Billigste, und es ist so einfach … guck mich nicht so an, ich bin kein Junkie. Nicht jeder, der mal ein Bier trinkt, ist Alkoholiker, oder? Jedenfalls würde ich nicht alles glauben, was unser Kurzwarenhändler so von sich gibt. Der rettet auch nur seine Haut. Tun wir doch alle, so oder so.«

»Wie meinst du das?«

Gitta lachte. »Keine Ahnung. Klang direkt philosophisch, was? Also, die Sache mit der Puppe und der Schwester … sehr anrührend, wirklich. Und das weiße Rauschen … vielleicht spinnt er ein bisschen, der Pole. Vielleicht hat er dich aber auch auf den Arm genommen. Sich was ausgedacht, um dich zu beeindrucken. Du bist gut in der Schule. Er ist mit dir in Deutsch. Du könntest ihm helfen. Aus irgendeinem Grund scheint er es sich in den Kopf gesetzt zu haben, das Abi zu machen. Vielleicht macht er sich interessant.«

»Natürlich«, sagte Anna. »Er macht sich interessant. Indem er nicht mit mir redet. Glückwunsch zu deiner Logik, Gitta.«

»Aber es ergibt Sinn!«, rief Gitta. »Er lässt dich eine Weile in deiner Verlie… in deiner Neugier verschmoren, und dann …«

»Hör auf, mit der Zigarette herumzufuchteln«, sagte Anna nüchtern und stand auf, diesmal endgültig; diesmal, um zu gehen. »Du wirst noch die Wohnzimmergarnitur deiner Eltern anzünden.«

»Liebend gern«, sagte Gitta. »Sie brennt leider schlecht.«

Sie musste es versuchen. Sie würde es versuchen. Wenn Abel nur mit den Leuten sprach, denen er da draußen auf dem Hof seinen Stoff verkaufte, würde sie ihm eben Stoff abkaufen. Der Gedanke war waghalsig und neu, und sie brauchte zwei weitere Tage, um den Mut zu sammeln. Zwei Tage, in denen sie Abel im Deutschkurs dabei beobachtete, wie er schwieg. Er saß auch mit ihr in Bio und in Mathe und schwieg. Bisweilen schien er zu träumen. Und in den ersten Stunden schlief er manchmal ein. Sie fragte sich, was er nachts tat. Sie fragte sich, ob sie es wissen wollte.

Es war ein Freitag, an dem sie sich endlich einen Ruck gab. Tannatek lehnte bei den Fahrradständern wie immer, ganz am Ende, wo nur noch wenige Räder standen. Er hatte die Hände tief in den Taschen vergraben, die Stöpsel des Walkmans in den Ohren und den Reißverschluss des Militärparkas ganz bis oben zugezogen. Alles an ihm fror, seine ganze Gestalt war eine Statue der Februarkälte. Er rauchte nicht, stand nur da und sah ins Nichts.

Der Schulhof war beinahe leer. An einem Freitagmittag hatten die meisten es eilig, nach Hause zu kommen. Zwei Typen aus der Elf überquerten den Hof vor Anna und sprachen mit Tannatek, und sie blieb stehen – stand dumm mitten auf dem Hof und wartete und spürte, wie der Mut sie verließ. Sie glaubte zu sehen, wie er einem der Jungen etwas gab, aber sie war sich nicht sicher, es waren zu viele Jackenärmel und Rucksackschnallen im Weg. Sie hoffte, dass er sie nur leer ansehen würde, wenn sie ihn fragte. Sie hoffte, er würde sagen: »Ich soll was verkaufen? Wer sagt das? Unsinn!«, und Gitta hätte nur eine ihrer Geschichten erzählt.

Die Jungen verschwanden, Tannatek drehte sich um und sah ihnen nach, und irgendwie trugen Annas Füße sie über den Hof, und plötzlich stand sie hinter ihm.

»Abel«, sagte sie.

Er zuckte zusammen, fuhr herum und sah sie mit einem Blick an, der im ersten Moment nichts ausdrückte als Erstaunen. Niemand hier sprach ihn mit Vornamen an. Das Erstaunen zog sich zurück hinter das Augenblau, er verschmälerte das Blau misstrauisch und musterte sie, abwartend, fragend: Was willst du? Er war einen guten Kopf größer als sie, und seine breiten Schultern gaben ihm etwas Bulliges, wie er so dastand, die Wirbelsäule unter der Kälte gekrümmt, die Hände wieder in den Taschen. Anna dachte an die Kampfhunde, von denen es bei den Plattenbauten draußen zu viele gab. Manche von ihnen hatten deutsche Runen in die Halsbänder geprägt … Sie hatte plötzlich wieder Angst vor Tannatek, und der Name »Abel« verschwand aus ihrem Kopf, machte...

Erscheint lt. Verlag 1.5.2011
Reihe/Serie Der Märchenerzähler
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte Außenseiter • Drogen • Erwachsenwerden • Erwachsenwerden;Krimi;Liebe;Spannung • Fantasie • Krimi • Liebe • Spannung • Thriller • Wahrheit
ISBN-10 3-86274-560-0 / 3862745600
ISBN-13 978-3-86274-560-9 / 9783862745609
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