Bo (eBook)
688 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-402491-2 (ISBN)
Rainer Merkel, 1964 in Köln geboren, hat Psychologie und Kunstgeschichte studiert und lebt in Berlin. Von 2008 bis 2009 arbeitete er für Cap Anamur im einzigen psychiatrischen Krankenhaus Liberias. Es erschienen die Romane »Das Jahr der Wunder«, für den er den Preis der Jürgen Ponto-Stiftung erhielt, »Das Gefühl am Morgen«, »Lichtjahre entfernt«, der auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand, »Bo«, »Stadt ohne Gott« und die Reportagen »Das Unglück der anderen. Kosovo, Liberia, Afghanistan« und »Go Ebola Go. Eine Reise nach Liberia«. 2013 wurde Rainer Merkel mit dem Erich Fried-Preis ausgezeichnet. Literaturpreise: Literaturförderpreis der Jürgen Ponto-Stiftung 2001 Erich Fried-Preis 2013
Rainer Merkel, 1964 in Köln geboren, hat Psychologie und Kunstgeschichte studiert und lebt in Berlin. Von 2008 bis 2009 arbeitete er für Cap Anamur im einzigen psychiatrischen Krankenhaus Liberias. Es erschienen die Romane »Das Jahr der Wunder«, für den er den Preis der Jürgen Ponto-Stiftung erhielt, »Das Gefühl am Morgen«, »Lichtjahre entfernt«, der auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand, »Bo«, »Stadt ohne Gott« und die Reportagen »Das Unglück der anderen. Kosovo, Liberia, Afghanistan« und »Go Ebola Go. Eine Reise nach Liberia«. 2013 wurde Rainer Merkel mit dem Erich Fried-Preis ausgezeichnet. Literaturpreise: Literaturförderpreis der Jürgen Ponto-Stiftung 2001 Erich Fried-Preis 2013
Rainer Merkel hat mit ›Bo‹ einen fulminanten Jugend- und Liberia-Roman geschrieben, dem man die Kenntnis dieses kriegszerrrütteten Landes auf jeder Seite anmerkt.
ein rasanter Trip durch ein fernes Land, ein Abenteuer- und Coming-of-Age-Roman, packend, unterhaltsam und klug.
Dieser Roman hat skurrile Szenen und subtile Momente, er hat ebenso merkwürdige wie einprägsame Charaktere wie den alten Beschwerde-Schreiber Okogo.
Rainer Merkel […] ist auf elektrisierende Weise gegenwärtig, schonungslos, genau. […] so überzeugend, kraftvoll leuchtend und umwerfend neu hat schon lange niemand mehr die Welt verfälscht.
Rainer Merkels unaufdringliche und unsentimentale Großerzählung lässt durch genaue Beobachtung der Alltagswelt ein atmosphärisch dichtes Bild von Liberia erstehen.
Unterhaltsam, voller Tempo, ein Buch, das dem Erzählen an sich vertraut und das wie nebenbei den Spagat zwischen Jugend- und Erwachsenenliteratur schafft.
lässt einen so atemlos zurück, dass man erst […] verschnaufen muss, bis man Luft genug hat zu sagen, was für ein toller, irrer Leselauf das war.
I. Tausch
1.
Jetzt konnte Benjamin nicht länger warten. Er musste noch ein Stück weiterkriechen. Ein kleines Stück nur, er konnte den Zipfel der Tüte schon sehen. Direkt unter den Füßen der alten Frau. Einer ihrer Füße steckte in den blauen Woll-socken, die die Fluggesellschaft den Reisenden zur Verfügung gestellt hatte. Ihr blauer Fuß hielt die blaue Papiertüte fest, in der sich der Abschiedsbrief seiner Mutter und der hässliche khakifarbene Sommerhut befanden, den seine Mutter ihm am Flughafen in Frankfurt in letzter Sekunde gekauft hatte. Er musste also nur an der Tüte ziehen. Er musste nur noch ein kleines Stück weiterkriechen. Niemand sah ihm zu. Die Reisenden schliefen. Er kroch auf der Suche nach seiner Tüte zwischen den Stuhlreihen herum. Er hatte erst unter den hinteren Sitzreihen gesucht, dort, wo eigentlich niemand saß. Irgendwo musste die Tüte ja sein. Es war typisch für seine Mutter, dass er mit einer Papiertüte reisen musste. Seinen Rucksack hatten sie zu Hause vergessen, aber einen neuen wollte sie ihm nicht kaufen. Sie hatte ihm einfach die blaue Papiertüte gegeben, in der sich ein Pullover befand, den sie sich gekauft hatte, und in aller Eile seine Sachen, seinen Sonnenhut und den Abschiedsbrief hineingestopft. Benjamin war eingeschlafen. Als er aufwachte, war die Tüte weg. »Was steht in dem Abschiedsbrief drin?«, hatte er seine Mutter gefragt.
»Frag deinen Vater«, hatte sie gesagt. »Er ist für ihn, nicht für dich.«
Sein Vater würde ihn abholen. Er würde seinen Vater in wenigen Stunden am Flughafen in Monrovia begrüßen, und dann sollte er ihm einen Brief geben, in dem seine Mutter Auf Wiedersehen sagte.
»Ich sage Auf Wiedersehen zu ihm«, hatte seine Mutter erklärt. »Aber du wirst bestimmt eine schöne Zeit dort haben. Sollen wir wetten?«
Die Tüte war weg. Es war eine blau glänzende, eigentlich sehr elegante Tüte, auf der in großer, goldener Schrift ZARA stand. Benjamin lief zuerst durch den schmalen Gang zwischen den Sitzreihen zum hinteren Ende des Flugzeugs. Es dröhnte und summte in seinen Ohren. Durch die kleinen, ovalen Fenster konnte man nichts sehen. Es war schwärzeste Nacht. Als er auf den Sitzen nichts gefunden hatte, durchsuchte er die Gepäckfächer. Das war nicht einfach. Er musste auf die Sitze steigen, um die Klappen zu öffnen. Auch die Stewardessen schienen zu schlafen, jedenfalls war keine von ihnen zu sehen. Hatte irgendjemand seine Tüte in einem der Gepäckfächer verstaut? Die Gepäckfächer sahen wie Mäuler aus. Große Mäuler von Tieren, die ins Flugzeug hineingekrochen waren und jetzt um einen leckeren Happen bettelten. Und all diese Mäuler waren leer. Er öffnete nacheinander alle Gepäckfächer im hinteren Teil des Flugzeugs, sie waren alle leer.
»Und warum willst du ihm Auf Wiedersehen sagen?«, hatte er seine Mutter gefragt.
»Weil ich genug von ihm habe«, hatte sie ihm geantwortet und ihm über die Haare gestrichen, als wollte sie sich bei ihm dafür entschuldigen, dass sie seinem Vater Auf Wiedersehen sagen musste. Jetzt aber war der Abschiedsbrief nicht mehr da. Benjamin suchte unter den Sitzen weiter. Er kroch den schmalen Gang zwischen den Sitzen entlang und tastete den Boden ab. Er war jetzt auch ein Tier, wenn auch ein kleines und stummes, das von niemandem gesehen werden durfte. Zum ersten Mal in seinem Leben flog er allein mit dem Flugzeug. Und auch in Afrika war er noch nie gewesen.
»Warum ist denn deine Mutter nicht mitgekommen?«, hatte die alte Frau gefragt, die neben ihm saß. Benjamin wusste nicht, was er antworten sollte. Er wollte irgendetwas sagen, er wollte sie anlügen und eine Geschichte erzählen, damit sie ihn in Ruhe ließe, aber ihm fiel keine Geschichte ein.
»Sie sagt eben Auf Wiedersehen.«
»Wer?«
»Meine Mutter. Sie hat mich geschickt, um ihm einen Brief zu geben.«
Die alte Frau schüttelte den Kopf. Sie war so alt, dass sie schon Enkelkinder haben musste, und bevor sie eingeschlafen war, hatte sie den alten, grauen Mantel mit dem Fischgrätenmuster auf ihren Beinen ausgebreitet, und dann waren nur noch ein paar komische Geräusche aus ihrem Mund gekommen. Benjamin hatte sie ganz fasziniert angestarrt, bis auch er eingeschlafen war. Aber warum hatte sie nur eine Socke an? Sie hatte die Schuhe ausgezogen und umständlich und langsam die Socken angezogen, die ihnen die Stewardessen in kleinen Plastiksäckchen überreicht hatten. Benjamin hatte auch Socken bekommen, sie aber in die Papiertüte gesteckt. Jetzt bekam er kalte Füße. Seine Schuhe standen unter seinem Sitz, er kroch langsam auf den blauen, wollenen Fuß der alten Frau zu. Der andere Fuß steckte noch in ihrem Schuh. Sie hatte also nur eine Socke angezogen, und mit dieser Socke stand sie jetzt auf seiner ZARA-Tüte, dem Sonnenhut, der furchtbar hässlich war, dem Pullover, den seine Mutter wieder umtauschen wollte, aber samt Quittung in der Tüte vergessen hatte, der herabgesetzt und trotzdem, wie seine Mutter fand, viel zu teuer gewesen war, und dem Abschiedsbrief, auf dem in krakeliger Schrift »Dr. Franz Pingel« stand, mit einem verwischten und eigentlich unleserlichen »Ping«. Denn seine Mutter hatte sich in der Eile seinen Füllfederhalter ausgeliehen und vergessen, dass die Tinte erst trocknen musste.
»Hast du einen … Tintentod?«, hatte ihn seine Mutter gefragt.
»Einen … Was?«, fragte Benjamin.
»Verstehst du nicht? Einen Tintenkiller?«
Er sah sie verständnislos an, und während er durch die Sicherheitsschleuse ging und sich nach seiner Mutter umdrehte, sah er, wie sie sich mit großen, aufgerissenen Augen an die Schultern fasste und mit ihrem Mund das Wort »Pullover« formte. Benjamin rechnete damit, dass sie ihm hinterherlaufen und ihn dazu zwingen würde, ihr den Pullover und die Quittung zuzuwerfen, während Hunderte von ungeduldigen Reisenden auf ihre Abfertigung warteten. Aber er schüttelte schnell den Kopf und formte mit seinem Mund die Worte »Ich weiß«, und dann: »Ich bringe ihn wieder mit.« Seine Mutter, er war sich darüber nicht ganz sicher, formte die Worte: »Aber die Quittung« oder »Vergiss die Quittung nicht!« Im Lippenlesen hatten er und seine Mutter eine große Meisterschaft entwickelt. Angefangen hatte es, als sich seine Mutter und sein Vater, wann immer sie sich sahen, und das war selten genug, nur noch anschrien, weswegen seine Mutter ihm zwischendurch zuflüsterte, dass er keine Angst haben oder besser gehen solle. Oft formte sie mit den Lippen dann nur noch die Worte »Geh jetzt besser«, und dann verließ Benjamin den Raum. Wie an Weihnachten vor zwei Jahren, das sie an der Ostsee verbracht hatten, als sein Vater seiner Mutter erklärt hatte, dass sie das Haus verkaufen müssten, weil seine Mutter so viele Schulden gemacht habe. »Vergiss die Quittung nicht«, formte ihr Mund, und sie griff sich immer wieder an die Schultern und faltete dann die Arme frierend zusammen, als wollte sie ihm noch einmal klarmachen, dass er jetzt drauf und dran war, einen zwar herabgesetzten, doch noch viel zu teuren Kaschmirpullover von ZARA mit nach Afrika zu nehmen, wo es, wie sein Vater gesagt hatte, so heiß war, dass man am besten nackt rumlaufe.
»Ich möchte mir einmal was Gutes tun«, hatte seine Mutter gesagt, als sie auf dem Weg zum Flughafen den Pullover kaufte. »Jetzt, wo ich von dir Abschied nehmen muss.«
»Aber ich komm doch zurück«, hatte er gesagt.
»Natürlich kommst du zurück«, hatte sie gesagt und ihn schnell umarmt. Aber irgendetwas stimmte nicht. Und es musste mit dem Brief und der Tüte zu tun haben. Benjamin hielt jetzt einen Moment inne, während er auf dem Teppichboden des Flugzeugs herumkroch wie ein Hund, der einen Knochen sucht. Er richtete sich auf. Vielleicht war es besser, wenn er den Brief und die Tüte nicht fand. Vielleicht war es ganz gut, wenn er sie überhaupt nicht mitnehmen würde nach Afrika, mit in die Sommerferien, die er mit seinem Vater in Monrovia, der Hauptstadt von Liberia, verbringen sollte, um endlich zu sehen, was sein Vater den ganzen Tag machte und wie er so lebte. Aber dann fielen ihm die hundert Dollar ein. Sie waren auch in der Tüte, und auf die hundert Dollar konnte er nicht verzichten.
»Ich hole dich ab«, hatte sein Vater am Telefon gesagt. »Wenn irgendwas schiefgeht, hast du die hundert Dollar.« Sein Vater hatte sie ihm schon an Weihnachten gegeben und ihm eingeschärft, seiner Mutter nichts davon zu sagen: »Es sind deine hundert Dollar, und du brauchst sie, wenn du mich besuchst. Wenn irgendwas schiefgeht.« Benjamin hatte die fünf Zwanzig-Dollar-Noten so zusammengerollt, dass sie wie eine Zigarette aussahen, dann ein Gummi darumgewickelt und sie in sein Federmäppchen gesteckt, das auch in der Tüte war. Im Federmäppchen waren sein Füllfederhalter und zwei Ersatzpatronen, um die seine Mutter auch Gummibänder gewickelt hatte, obwohl Benjamin das nicht leiden konnte und Gummibänder eigentlich hasste, und vor allem die seiner Mutter. Bevor sein Vater ihm ein ledernes Federmäppchen von seiner letzten Arbeitsstelle im Kongo mitgebracht hatte, hatte seine Mutter ihn eine Zeitlang davon zu überzeugen versucht, dass es ausreichte, wenn er seine Stifte für die Schule mit Gummis zusammenband und einfach in die Schultasche steckte, damit sie das Geld für ein neues Federmäppchen sparen konnten. So war seine Mutter. Sie kaufte Kaschmirpullover und vergaß sie in Papiertüten, in die sie Sonnenhüte und Sonnenmilch stopfte, weil sie Angst hatte, er könnte sich in der heißen afrikanischen Sonne verbrennen. Das Federmäppchen war auch in der Tüte. Also war der Füllfederhalter auch weg, und die Ersatzpatronen ebenfalls. Benjamin kroch weiter....
Erscheint lt. Verlag | 7.3.2013 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Abenteuer • Afrika • Erwachsenwerden • Liberia • Monrovia • Road-Novel |
ISBN-10 | 3-10-402491-X / 310402491X |
ISBN-13 | 978-3-10-402491-2 / 9783104024912 |
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