Gleichfreiheit (eBook)
258 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
9783518793602 (ISBN)
<p>Étienne Balibar, geboren 1942, ist emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Paris X Nanterre und Anniversary Chair in Modern European Philosophy, Kingston University London. Er ist Schüler von Louis Althusser, mit dem er das einflussreiche Werk <em>Das Kapital lesen</em> veröffentlichte. Balibar gilt als einer der bedeutendsten französischen Philosophen der Gegenwart. Zuletzt ist im Suhrkamp Verlag von ihm erschienen: <em>Gleichfreiheit. Politische Essays</em> (2012).</p>
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Die Proposition der Gleichfreiheit1
Ich möchte einige Formulierungen anbieten, mit deren Hilfe wir uns in den Voraussetzungen einer für die achtziger Jahre typischen Diskussion besser zurechtfinden werden.2 Diese Diskussion, von Spezialisten geführt und zugleich auf die Öffentlichkeit zielend, war dadurch gekennzeichnet, dass sie das Thema der Beziehungen zwischen dem Politischen und dem Sozialen tendenziell durch das Thema der Beziehungen zwischen dem Ethischen und dem Politischen ersetzte, und tiefgreifender vielleicht dadurch, dass sie dieses zweite Thema dem ersten wieder einbeschrieb. Dabei löste auf der »Rechten« wie auf der »Linken« die Frage nach der Citoyenneté, der Staatsbürgerschaft, die nach der Revolution ab. Sofern es nicht, grundlegender noch, um eine Neuformulierung des Problems der Revolution in Begriffen der 73Staatsbürgerschaft, also des staatsbürgerlichen Pflichtgefühls [civisme] und Bürgersinns [civilité] ging – sei es, indem eine Erneuerung der Staatsbürgerschaft (über die Anerkennung individueller Rechte hinaus) angestrebt wurde, sei es durch die Idee einer »neuen Staatsbürgerschaft«.
Es ist daher nicht erstaunlich, dass ein zentrales Thema der laufenden Debatten – von den Zweihundertjahrfeiern einmal abgesehen – Natur, Ablauf und historische Tragweite der Französischen Revolution betrifft, insbesondere ihren »Gründungstext«, die Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen [»Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte«] von 1789 – einen Text, dessen Bedeutung und universelle Geltung heute erneut befragt wird. Wenn auch ich dazu beitrage, die Aufmerksamkeit auf diesen Text zu lenken, bin ich mir der doppelten Gefahr – der Rückwärtsgewandtheit gegenüber den Herausforderungen der gegenwärtigen Geschichte und des Euro- oder gar Frankozentrismus – bewusst, den ein solches Herangehen an das politische Problem mit sich bringt. Aber selbst wenn die Frage der »Menschenrechte« nur eine Maske oder ein Köder wäre – was ich nicht glaube –, wäre es immerhin der Mühe wert, die Gründe für die Kluft zwischen dem Text von gestern oder vorgestern und einer aktuellen demokratischen Problematik zu ermessen. Und selbst wenn dieser Text nur der fiktiven Universalisierung einer besonderen Gesellschaft und Kultur entspräche – was ich auch nicht glaube –, wären auch dafür die Gründe zu ermitteln, und zwar mit erneutem Einsatz, anders als die intellektuellen Bewegungen und sozialkämpferischen Strömungen es taten, die unsere Idee von der »Revolution« im 19. und 20. Jahrhundert konfiguriert haben.
Im Folgenden möchte ich vier Aspekte dieser Frage mehr oder weniger eingehend erörtern:
Erstens: Wenn es zutrifft, dass der Text von 1789 (oder vielmehr seine aufeinanderfolgenden Formulierungen) für uns seit langem die Evidenz verloren hat, auf die er sich berief, wenn ferner zutrifft, dass zwischen den noch unlängst unauflöslich mit74einander verbundenen Forderungen nach Freiheit und nach Gleichheit sich vielfach eine Kluft aufgetan hat – wie haben wir dann die Gründe dafür zu erklären?
Zweitens: Wie ist die Beziehung zwischen dem Text der Déclaration und der Spezifität des revolutionären Ereignisses zu interpretieren? Ist die kollektive Praxis, die in diesem institutionellen Text ihren Ausdruck und ihre Waffe findet, unter der Kategorie eines Subjekts (Menschheit, »Zivilgesellschaft«, Volk, soziale Klasse) zu verbuchen oder eher als zeitbedingt, als Konstellation von Kräften? Eine Analyse des Charakters der Revolution von 1789 bis 1795 kann ich hier zwar nicht vorlegen, aber die Entscheidung für den zweiten Teil dieser Alternative wird mich veranlassen, einige Worte über die Neuartigkeit der Formulierungen der Déclaration im Verhältnis zu den klassischen Theorien vom Naturrecht zu verlieren, die gewöhnlich als ihre ideologische »Quelle« gelten.
Drittens: Um zum vermutlich Wesentlichen zu kommen, werde ich Aussagemodalität und -intentionalität jener Proposition prüfen, die, wie mir scheint, den Kern der Déclaration ausmacht und deren Logik zu verstehen erlaubt: die Proposition, die – zunächst in ihrem Umfang und dann in ihrem Verständnis – »Freiheit« und »Gleichheit« miteinander gleichsetzt. Mich interessiert vor allem die Wahrheit dieser Proposition (die ich Proposition der Gleichfreiheit nenne) und damit der Riss durch das politische Feld, den sie verursacht; aber auch die Gründe ihrer Unbeständigkeit, die Entwicklungsformen der unaufhörlichen Trennung dessen, was als eine Einheit von Gegensätzen produziert worden war. Daraus folgt die Skizze eines Referenzsystems, einer »Topik«, mit deren Hilfe die unterschiedlichen Strategien zu klassifizieren und zu interpretieren sind – die theoretischen ebenso wie die politischen –, die sich während mindestens zwei Jahrhunderten (in Wirklichkeit sind wir nicht darüber hinaus) diesem Dilemma gestellt haben.
Viertens: Schließlich, wenn auch unvermeidlicherweise allzu oberflächlich, möchte ich folgendes Problem zumindest an75reißen: Wenn die revolutionäre Proposition, die Freiheit mit Gleichheit identifiziert, tatsächlich die unumgängliche und in gewissem Sinn irreversible Äußerung einer politischen Wahrheit darstellt, wenn weiterhin zutrifft, dass die Einschreibung dieser Wahrheit in die Geschichte selbst, die sie produziert hat, sich unmittelbar durch ihre Unbeständigkeit und in gewissem Sinn durch ihren Verfall kennzeichnet, wenn schließlich wahr ist, dass ihre Rückkehr in die politische Aktualität zumindest die Forderung nach einer Wiedereinschreibung oder einer neuen praktischen Einschreibung indiziert, dann stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen diese am Ende des 20. Jahrhunderts denkbar wäre. Eine solche Frage muss weitgehend offen und wohl auch aporetisch bleiben. Zumindest wird es jedoch möglich sein, die Gründe dafür zu erhellen, indem negativ benannt wird, welche Widersprüche der modernen Politik stillschweigend übergangen, grundlegender noch: in der um die Déclaration konstruierten Topik verdrängt wurden.
* * *
Erstens also: Wie stellt die Aktualität der revolutionären Aussagen sich dar? Ich sagte es gerade: in der paradoxen Form einer scheinbar unreduzierbaren Kluft zwischen Begriffen oder Werten, die doch als gleichermaßen notwendig empfunden werden. Zwar bezeugt die Interdependenz von Gleichheit und Freiheit sich a contrario in Gestalt der periodischen Wiederkehr von Autoritätsideologien, die behaupten, dass das Leben in Gesellschaft oder die menschliche Natur eine Hierarchisierung der individuellen oder auch kollektiven Ungleichheit und deren Valorisierung erforderlich machten. Aber diese Permanenz der zu Anfang des 19. Jahrhunderts durch das konterrevolutionäre Denken inaugurierten »Kritik der Menschenrechte« bringt auch keinerlei Kohärenz hervor.3 Nicht nur der zeitgenössische Liberalismus 76behauptet, dass »Freiheit« und »Gleichheit« sich außerhalb sehr enger (rechtlicher) Grenzen gegenseitig ausschließen: Diese Überzeugung wird auch vom Sozialismus oder allgemeiner vom sozialen Fortschrittsglauben unterschiedlicher »Minoritäten«4 weitgehend geteilt, und dies zu einem Zeitpunkt, da sich praktisch zeigt, dass die Forderungen nach Freiheit und Gleichheit einander gegenseitig bedingen – dies machen die Kämpfe um die Demokratie in den ehemaligen »sozialistischen Ländern« ebenso deutlich wie die antirassistischen Bewegungen Westeuropas oder die Kämpfe der Schwarzen in Südafrika.
Diesen tiefen Widerspruch nähren mehrere selten in Frage gestellte, augenscheinliche Gewissheiten: insbesondere die, der zufolge die Gleichheit (generell wird präzisiert: die »reale Gleichheit«) wesentlich in der wirtschaftlichen und sozialen Sphäre – ein von Natur aus elastischer Begriff, der heute tendenziell auch das »Kulturelle« einschließt – zu Hause ist, während die Freiheit vor allem der juristisch-politischen und institutionellen Sphäre angehört. Gleichzeitig aber gilt als gewiss oder pseudo-gewiss, worin Liberalismus und Sozialismus schließlich übereingekommen sind (selbst wenn sie entgegengesetzte Folgen daraus ableiten): dass die Gleichheit durch den Eingriff des Staats zu verwirklichen ist, weil sie wesentlich mit Verteilung oder Umverteilung zu tun hat, während der Schutz der Freiheit an die Begrenzung dieses Eingriffs, ja an die permanente Verteidigung gegen seine »unbeabsichtigten Folgen«, gebunden ist.5 Ebendieser omnipräsente, aber unkritische Bezug auf den als Block konzipierten Staat reproduziert, wie mir scheint, unaufhörlich sowohl den Unterschied zwischen »formalem« und »realem« (oder »substanziellem«) Recht als auch die Vorstellung von Gleichheit als ausschließlich kollektivem Ziel, während die Freiheit (jedenfalls die »Freiheit der modernen Welt«) wesentlich individuelle Freiheit 77sein soll, und das selbst in der Sphäre der öffentlichen Freiheiten (die also wesentlich als öffentliche Garantien privater Freiheiten vorzustellen wären).
Von hier aus ist es nicht weit zum Grundparadox, der Kluft, die sich zwischen dem Diskurs der »Menschenrechte« und dem der »Bürgerrechte« auftut – und dies zu einem Zeitpunkt, da eine Moralisierung oder Neubegründung des politischen Lebens sich auf die Ethik beruft. Der Diskurs der Menschenrechte (der sich vor allem als Verteidigung, weit weniger als...
| Erscheint lt. Verlag | 12.12.2012 |
|---|---|
| Übersetzer | Christine Pries |
| Verlagsort | Berlin |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | La Proposition de l'Égaliberté. Essais politiques |
| Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie |
| Schlagworte | Frankreich • Französische Revolution • Freiheit • Gleichheit • Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken 2017 • La Proposition de l'Égaliberté. Essais politiques deutsch • Politische Philosophie • Raymond-Aron-Preis 2013 • Westeuropa |
| ISBN-13 | 9783518793602 / 9783518793602 |
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