Montaigne (eBook)

[Fragment]

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2012 | 1. Auflage
97 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-402380-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Montaigne -  Stefan Zweig
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Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. Der französische Philosoph Michel Eyquem Seigneur de Montaigne (1533-1592) hat den Menschen - nicht zuletzt sich selbst - in seiner Unvollkommenheit, der Vielfalt, der Widersprüchlichkeit und der Veränderlichkeit seines Charakters gesehen und ihm kraft seiner Individualität in allem »innere Freiheit« zuerkannt. Stefan Zweig setzt ihm in seinem Essay ein Denkmal und verfasst damit quasi gleichzeitig eine Rechtfertigung seiner selbst.

Stefan Zweig wurde am 28. November 1881 in Wien geboren und lebte ab 1919 in Salzburg, bevor er 1938 nach England, später in die USA und schließlich 1941 nach Brasilien emigrierte. Mit seinen Erzählungen und historischen Darstellungen erreichte er weltweit in Millionenpublikum. Zuletzt vollendete er seine Autobiographie ?Die Welt von Gestern? und die ?Schachnovelle?. Am 23. Februar 1942 schied er zusammen mit seiner Frau »aus freiem Willen und mit klaren Sinnen« aus dem Leben.

Stefan Zweig wurde am 28. November 1881 in Wien geboren und lebte ab 1919 in Salzburg, bevor er 1938 nach England, später in die USA und schließlich 1941 nach Brasilien emigrierte. Mit seinen Erzählungen und historischen Darstellungen erreichte er weltweit in Millionenpublikum. Zuletzt vollendete er seine Autobiographie ›Die Welt von Gestern‹ und die ›Schachnovelle‹. Am 23. Februar 1942 schied er zusammen mit seiner Frau »aus freiem Willen und mit klaren Sinnen« aus dem Leben.

Montaigne


[Fragment]

I


Es gibt einige wenige Schriftsteller, die jedem aufgetan sind in jedem Alter und in jeder Epoche des Lebens – Homer, Shakespeare, Goethe, Balzac, Tolstoi –, und dann wieder andere, die sich erst zu bestimmter Stunde in ihrer ganzen Bedeutung erschließen. Zu ihnen gehört Montaigne. Man darf nicht allzu jung, nicht ohne Erfahrungen und Enttäuschungen sein, um ihn richtig würdigen zu können, und am hilfreichsten wird sein freies und unbeirrbares Denken einer Generation, die, wie etwa die unsere, vom Schicksal in einen kataraktischen Aufruhr der Welt geworfen wurde. Nur wer in der eigenen erschütterten Seele eine Zeit durchleben muß, die mit Krieg, Gewalt und tyrannischen Ideologien dem Einzelnen das Leben und innerhalb seines Lebens wieder die kostbarste Substanz, die individuelle Freiheit, bedroht, weiß, wieviel Mut, wieviel Ehrlichkeit und Entschlossenheit vonnöten ist, in solchen Zeiten der Herdentollheit seinem innersten Ich treu zu bleiben, und daß keine Sache auf Erden schwerer und problematischer wird als innerhalb einer Massenkatastrophe geistige und moralische Unabhängigkeit unbefleckt zu bewahren. Erst wenn man selbst an der Vernunft, an der Würde der Menschheit gezweifelt und verzweifelt hat, vermag man es als Tat zu rühmen, wenn ein Einzelner inmitten eines Weltchaos sich vorbildlich aufrecht erhält.

Daß man Montaignes Weisheit und Größe nur erst als Erfahrener, als Geprüfter zu würdigen vermag, habe ich an mir selbst erfahren. Als ich das erste Mal mit zwanzig Jahren seine ›Essais‹, dies einzige Buch, in dem er sich uns hinterlassen hat, zur Hand nahm, wußte ich – ehrlich gesagt – nicht viel damit anzufangen. Ich besaß zwar genug literarischen Kunstverstand, um respektvoll zu erkennen, daß sich hier eine interessante Persönlichkeit kundtat, ein besonders hellsichtiger und weitsichtiger, ein liebenswerter Mensch und überdies noch ein Künstler, der jedem Satz und jedem Diktum individuelle Prägung zu geben wußte. Aber meine Freude blieb eine literarische, eine antiquarische; es fehlte die innere Zündung der leidenschaftlichen Begeisterung, das elektrische Überspringen von Seele zu Seele. Schon die Thematik der ›Essais‹ schien mir ziemlich abwegig und zum größten Teil ohne Überschaltungsmöglichkeit in meine eigene Existenz; was gingen mich jungen Menschen des 20. Jahrhunderts die weiträumigen Exkurse des Sieur de Montaigne über die ›Cérémonie de l’entrevue des rois‹ [Zeremonie der Zusammenkunft der Könige] oder seine ›Considérations sur Cicéro‹ [Betrachtungen über Cicero] an, wie schulmäßig und unzeitgemäß dünkte mich die Durchspickung des schon stark von der Zeit angebräunten Französisch mit lateinischen Zitaten, und selbst zu seiner milden, temperierten Weisheit fand ich keine Beziehung. Sie kam zu früh. Denn was sollte das kluge Abmahnen Montaignes, man solle sich nicht ehrgeizig mühen, sich nicht allzu leidenschaftlich in die äußere Welt verstricken, sein beschwichtigendes Drängen zu Temperiertheit und Toleranz einem ungestümen Alter, das nicht desillusioniert werden will und nicht beruhigt, sondern unbewußt nur verstärkt in seinem vitalen Auftrieb? Es liegt im Wesen der Jugend, daß sie nicht zu Milde, zu Skepsis beraten zu sein wünscht. Jeder Zweifel wird ihr zur Hemmung, weil sie Gläubigkeit und Ideale braucht zur Auslösung ihrer inneren Stoßkraft. Und selbst der radikalste, der absurdeste Wahn wird ihr, sofern er sie nur befeuert, wichtiger sein als die erhabenste Weisheit, die ihre Willenskraft schwächt. Und dann – jene individuelle Freiheit, deren entschlossenster Herold für alle Zeiten Montaigne geworden ist, schien sie uns wirklich um 1900 noch derart hartnäckiger Verteidigung zu bedürfen? War das alles denn nicht schon längst Selbstverständlichkeit geworden, durch Gesetz und Sitte garantierter Besitz einer längst von Diktatur und Knechtschaft emanzipierten Menschheit? Selbstverständlich uns gehörig wie der Atem unseres Mundes, der Pulsschlag unseres Herzens, schien uns das Recht auf das eigene Leben, die eigenen Gedanken und ihre ungehemmte Aussage in Wort und Schrift. Offen lag uns die Welt Land um Land, wir waren nicht Gefangene des Staats, nicht geknechtet in Kriegsdienst, nicht untertan der Willkür tyrannischer Ideologien und niemand in Gefahr, geächtet, verbannt, eingekerkert und vertrieben zu werden. So schien Montaigne unserer Generation sinnlos an Ketten zu rütteln, die wir längst zerbrochen meinten, ahnungslos, daß sie vom Schicksal uns schon neu geschmiedet wurden, härter und grausamer als je. So ehrten und respektierten wir seinen Kampf um die Freiheit der Seele als einen historischen, der für uns längst überflüssig und ohne Belang war. Denn es gehört zu den geheimnisvollen Gesetzen des Lebens, daß wir seiner wahren und wesentlichsten Werte immer erst zu spät gewahr werden, der Jugend, wenn sie entschwindet, der Gesundheit, sobald sie uns verläßt, und der Freiheit, dieser kostbarsten Essenz unserer Seele, erst im Augenblick, wenn sie uns genommen werden soll oder schon genommen worden ist.

Es mußte also, um Montaignes Lebenskunst und Lebensweisheit zu verstehen und die Notwendigkeit seines Kampfes um das »soi-même« [Sich-selbst] als den notwendigsten unserer geistigen Welt, eine Situation kommen, die der seines eigenen Lebens ähnlich war. Auch wir mußten wie er erst einen jener entsetzlichen Rückfälle der Welt aus einem der herrlichsten Aufstiege erleben, auch wir aus unseren Hoffnungen, Erfahrungen, Erwartungen und Begeisterungen mit der Peitsche zurückgejagt werden bis auf jenen Punkt, wo man schließlich nur mehr sein nacktes Ich, seine einmalige und unwiederbringliche Existenz verteidigt. Erst in dieser Bruderschaft des Schicksals ist mir Montaigne der unentbehrliche Bruder, Helfer, Tröster und Freund geworden, denn wie verzweifelt ähnlich ist sein Schicksal dem unseren. Als Michel de Montaigne ins Leben tritt, beginnt eine große Hoffnung zu erlöschen, eine gleiche Hoffnung, wie wir sie selbst zu Anfang unseres Jahrhunderts erlebt: die Hoffnung auf eine Humanisierung der Welt. Im Verlauf eines einzigen Lebensalters hatte die Renaissance der beglückten Menschheit mit ihren Künstlern, ihren Malern, ihren Dichtern, ihren Gelehrten eine neue, in gleicher Vollkommenheit nie erhoffte Schönheit geschenkt, und ein Jahrhundert – nein, Jahrhunderte schienen anzubrechen, wo die schöpferische Kraft das dunkle und chaotische Dasein Stufe um Stufe, Welle um Welle dem Göttlichen entgegentrug. Mit einemmal war die Welt weit, voll und reich geworden. Aus dem Altertum brachten die Gelehrten mit der lateinischen, der griechischen Sprache die Weisheit Platos und Aristoteles’ wieder den Menschen zurück, der Humanismus unter Erasmus’ Führung versprach eine einheitliche, eine kosmopolitische Kultur, die Reformation schien eine neue Freiheit des Glaubens neben der neuen Weite des Wissens zu begründen. Der Raum und die Grenzen zwischen den Völkern zerbrachen, denn die eben entdeckte Druckerpresse gab jedem Wort, jeder Meinung, jedem Gedanken die Möglichkeit beschwingter Verbreitung; was einem Volke geschenkt war, schien allen gehörig, und so eine Einheit geschaffen durch den Geist über den blutigen Zwist der Könige, der Fürsten und der Waffen. Und abermaliges Wunder: zugleich mit der geistigen weitete sich die irdische, die räumliche Welt ins Ungeahnte. Aus dem bisher weglosen Ozean tauchten neue Küsten, neue Länder auf, ein riesiger Kontinent verbürgte Heimstatt für Generationen und Generationen. Rascher pulsierte der Blutkreislauf des Handels, Reichtum durchströmte die alte europäische Erde und schuf Luxus und der Luxus wiederum kühne Bauten, Bilder und Statuen, eine verschönte, eine vergeistigte Welt. Immer aber, wenn der Raum sich erweitert, spannt sich die Seele. Wie in unserer eigenen Jahrhundertwende, da abermals der Raum sich großartig dehnte dank der Eroberung des Äthers durch das Flugzeug und das unsichtbar die Länder überschwebende Wort, da Physik und Chemie, Technik und Wissenschaft Geheimnis auf Geheimnis der Natur entrangen und ihre Kräfte dienstbar machten der menschlichen Kraft, beseelte unsagbare Hoffnung die schon so oft enttäuschte Menschheit, und aus tausend Seelen klang Antwort dem Jubelruf Ulrich von Huttens zurück: »Es ist eine Lust zu leben.« Aber immer, wenn die Welle zu steil und zu rasch ansteigt, fällt sie um so kataraktischer zurück. Und so wie in unserer Zeit gerade die neuen Errungenschaften, die Wunder der Technik, die Vervollkommnung der Organisation in die fürchterlichsten Faktoren der Zerstörung, so verwandeln sich die Elemente der Renaissance und des Humanismus, die heilsam erschienen, in mörderisches Gift. Die Reformation, die in Europa einen neuen Geist der Christlichkeit zu geben träumte, zeitigt die beispiellose Barbarei der Religionskriege, die Druckerpresse verbreitet statt Bildung den Furor Theologicus, statt des Humanismus triumphiert die Intoleranz. In ganz Europa zerfleischt sich jedes Land in mörderischem Bürgerkriege, indes in der neuen Welt sich die Bestialität der Conquistadoren mit einer unüberbietbaren Grausamkeit austobt. Das Zeitalter eines Raffael und Michelangelo, eines Leonardo da Vinci, Dürer und Erasmus fällt zurück in die Untaten eines Attila, eines Dschingis Chan, eines Tamerlan.

Diesen grauenhaften Rückfall aus dem Humanismus in die Bestialität, einen dieser sporadischen Wahnsinnsausbrüche der Menschheit, wie wir ihn heute abermals miterleben, trotz unbeirrbarer geistiger Wachheit und mitfühlendster seelischer Erschütterung völlig ohnmächtig mitansehen zu müssen, bedeutet die eigentliche Tragödie im Leben Montaignes. Er hat den...

Erscheint lt. Verlag 23.7.2012
Reihe/Serie Fischer Klassik Plus
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Amerika • Entdeckung • Frankreich • Freiheit • Geschichte • Humanismus • Kritik • Kulturkritik • Mensch • Österreich • Schicksal • Schriftsteller • Vespucci • Zeit
ISBN-10 3-10-402380-8 / 3104023808
ISBN-13 978-3-10-402380-9 / 9783104023809
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