Zeiten und Schicksale (eBook)

Aufsätze und Vorträge aus den Jahren 1902-1942

(Autor)

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2009 | 1. Auflage
576 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-400211-8 (ISBN)

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Zeiten und Schicksale -  Stefan Zweig
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Mit einem Nachwort von Knut Beck. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. Stefan Zweig wollte mit seinen Essays und Vorträgen, »ohne aktuell zu polemisieren... durch ein Symbol vieles Heutige deutlich und verständlich« machen. Den Schlussstein seines biographisch-essayistischen Werkes versuchte er noch in den letzten Wochen seines Lebens zu setzen, mit seiner Studie über Montaigne, den »homme libre«, den »Vorkämpfer für innere Freiheit« - stellvertretend als einen Dank für alle seine geistigen Vorbilder in hellen wie in dunklen Zeiten.

Stefan Zweig wurde am 28. November 1881 in Wien geboren und lebte ab 1919 in Salzburg, bevor er 1938 nach England, später in die USA und schließlich 1941 nach Brasilien emigrierte. Mit seinen Erzählungen und historischen Darstellungen erreichte er weltweit in Millionenpublikum. Zuletzt vollendete er seine Autobiographie ?Die Welt von Gestern? und die ?Schachnovelle?. Am 23. Februar 1942 schied er zusammen mit seiner Frau »aus freiem Willen und mit klaren Sinnen« aus dem Leben.

Stefan Zweig wurde am 28. November 1881 in Wien geboren und lebte ab 1919 in Salzburg, bevor er 1938 nach England, später in die USA und schließlich 1941 nach Brasilien emigrierte. Mit seinen Erzählungen und historischen Darstellungen erreichte er weltweit in Millionenpublikum. Zuletzt vollendete er seine Autobiographie ›Die Welt von Gestern‹ und die ›Schachnovelle‹. Am 23. Februar 1942 schied er zusammen mit seiner Frau »aus freiem Willen und mit klaren Sinnen« aus dem Leben.

I Zeit und Welt


Die indische Gefahr für England


(Anläßlich der politischen Mordtat eines jungen Hindu)
1909

Die vier Revolverschüsse, mit denen ein junger Hindu, Madar Lal Dhingra aus Amritsar, an einem Festabend in London den Aide-de-Camp [den persönlichen Adjutanten] des Vizekönigs von Indien, Sir William Curzon Wyllie, ermordete, haben die ganze englische Nation aufgeschreckt. Vergessen ist für einen Augenblick die Germanophobie über der alten lastenden Gefahr, die einen so entschlossenen Boten gesandt hat. Und ängstlich horchen nun alle nach Osten, ob von dem fernen Riesenreiche grollendes, gefährliches Echo käme, das langgefürchtete Gewitter: der Aufstand Indiens. Oder ob dies nur die vereinzelte Tat eines überreizten Fanatikers war, ein bedeutungsloses Wetterleuchten am politischen Himmelsrand. Es ist verlockend und gefährlich, über diese Möglichkeiten zu reden. Verlockend vor allem: denn das Blatt der Geschichte, auf dem die Befreiung Indiens von den Engländern geschrieben sein wird, muß ebenso grandios, erregend und überraschungsvoll sein wie jenes andere – bei uns viel zu selten aufgeschlagene – der Eroberung eines solchen Riesenreiches durch eine Handvoll Kaufleute und einen genialen Konquistador. Aber gefährlich zugleich. Denn zu tief sind die Kräfte verborgen, zu unübersichtlich die Dimensionen, zu unsicher die Quellen, zu tendenziös verkleinert oder vergrößert die Symptome. Eine Reise ins Land und selbst vielfältiges Gespräch mit den Beamten der Regierung gibt bestenfalls einen Einblick ins Gegenwärtige: und dies schon ist in Indien pittoresk und großartig genug, um die Phantasie auf das höchste anzuspannen. Denn das Imperium der Engländer in Indien ist einer der grandiosesten Versuche, durch geistige Gewalt, nationale Geschlossenheit und moralische Suprematie [Überordnung] einen gigantischen Widerstand zu paralysieren: grandios wie jeder Kampf gegen ein Unmögliches, aufreizend wie jede tödliche Gefahr.

Sowenig man vom heutigen Indien weiß: dies ist bekannt, daß 200 000 Europäer, oder eigentlich ein Bruchteil dieser Summe, daß 70 000 englische Soldaten 300 oder 400 Millionen einheimischer Bevölkerung niederhalten. Nackte Zahlen als Ausdruck eines realen Verhältnisses sind präzise, aber nicht plastisch. Das Vorstellungsvermögen kann sich 70 000 Menschen noch in einer Vision veranschaulichen: das grüne Parkett unseres Schönbrunn vermag so viel zu fassen. Aber die unsägliche Winzigkeit dieser Anzahl gegenüber den Hunderten Millionen läßt sich nicht mehr ausdenken. Dieser Tropfen, in den Blutorganismus des indischen Reiches eingemischt, zerfließt, ohne den Farbton zu ändern. Und doch – dies ist das Undenkbare für den Fernen – diese Wenigen geben dem heutigen Indien die Signatur. Das Schiff, das in den Hafen von Bombay steuert oder den niederen Hooghly hinauf nach Kalkutta, sieht zuerst hohe Kathedralen, stattliche Bauten im englisch-gotischen Stil, Docks wie in Glasgow und Liverpool: die Front, die Stirne, der erste Eindruck gegen die Ferne ist England. Und dann im Lande selbst wächst das unwahrscheinliche Verhältnis ins Grenzenlose. Da sind Städte von 100 000, 200 000 Einwohnern mit fünf oder sechs Europäern. Aber diese fünf haben in ihren Händen die ganze Macht: die Bahn, die Bank, den Telegraph, das Residenzschloß, die Justiz und die Festung. Sie sind die Verwalter Englands. Millionen und Milliarden strömen durch ihre Hände zu der fernen kleinen Insel. Die hier noch Herrscher heißen, die Maharadjas, die mit ihren Prunkschlössern, mit den juwelenbesetzten Schwertern, den kostbaren Gewändern königlicher scheinen als alle Herrscher des Abendlandes, sind Drahtpuppen, Popanze, denen es als höchste Ehre dünkt, beim state-ball in Kalkutta vom Vizekönig empfangen zu werden. Diese Organisation, dies Bändigen eines ungeheuren Widerstandes durch Politik, Gewalt und geistige Superiorität, ist für einen modernen Menschen das größte Wunder in Indien. Die meisten suchen dort das Geheimnisvolle bei den Schlangenbeschwörern und Fakiren, den heimlichen Riten der Brahminen. Ich weiß nicht, ob es in Indien trotz der herrlichen, oft traumhaft schönen Bauten der Mogulen etwas geistig Faszinierenderes gibt, als die sinnfällige Unwahrscheinlichkeit und ebenso sinnfällige Tatsächlichkeit des englischen Imperiums.

Wie dieses Indien von den Engländern erobert wurde, das zu erinnern, ist so spannend, wie die Taten des Cortez und Pizarro. Jener bei uns zu selten gelesene Essay Macaulays über Lord Clive erzählt es rasch und feurig: wie der junge Lieutenant Lord Clive von Madras mit zweihundert schlechten Soldaten ausrückt, bei Arcot und Seringapatam siegt und zwei Monate später in den Millionen der Schatzkammern eines Nabobs wühlt. Unterhandlungen, Betrug, Bestechung vollenden, was die Bravour begonnen hat. Und um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts sind die Engländer trotz des Scheinherrschertums mancher Maharadjas die Besitzer Indiens von Ceylon bis hinauf an die Grenze Afghanistans. Da bricht plötzlich wie aus heiterem Himmel der Aufstand der Sepoys aus. Das Jahr 1857 ist das vielleicht heroischeste der Geschichte Englands. Nicht Trafalgar und nicht Waterloo weisen solche Taten auf, wie den Marsch von Kalkutta nach Delhi und Lucknow in der brütenden Hitze des tropischen Sommers, ein paar Regimenter gegen einen hundertfach überlegenen Feind. Wie zu Heiligtümern gehen heute die Engländer zu den zerschossenen Schanzen von Lucknow und Cawnpore, zu den Gräbern der hingeschlachteten Offiziere. Damals stand die ganze Herrschaft Englands in Indien auf dem Spiel: mit bittersten Anstrengungen wurde sie wiedergewonnen, eisern befestigt. Aber wieder ist die Spannung gewachsen, unterirdisches Rollen erschüttert das Land. Die indische Gefahr ist wach geworden. Und bei jedem Symptom, bei jeder Bombe, jeder Verschwörung und nun vor allem bei dieser Ermordung schauert man in England zusammen in Erinnerung an die Schreckenstage der »Mutiny« [Meuterei].

Ist nun diese Angst proportional einer wirklichen Gefahr oder nur eine nervöse Überreizung wie die Germanophobie? Der Einblick in die eigentlichen Tatsachen ist verschlossen, die indische Regierung verlautbart nur, was nicht zu verschweigen ist. Und der äußere Anblick ist selbstverständlich unmaßgeblich. Allerorts begegnet der Reisende Höflichkeit und einer – anfangs verblüffenden – Devotion. Die persönliche Sicherheit ist größer als in europäischen Residenzen, größer als im Londoner Whitechapel oder im Pariser Batignolles. Jedesfalls: der Haß sprüht einem nicht ins Gesicht, die Fäuste sind nicht offen geballt. Auflehnung ist sicherlich vorhanden, aber es ist kaum möglich, zu bestimmen, wie weit sie organisiert oder vereinzelt, untätig oder vorbereitet ist, unmöglich zu sagen, wie der Inder über die englische Herrschaft denkt. Vor allem weil »der« Inder ein nicht existierender Begriff ist. Indien ist ein Konglomerat differenter Rassen. Über hundert Sprachen werden gesprochen, 70 Millionen Mohammedaner, viele Millionen Buddhisten sind den Hindus eingesprengt, die Hindus selbst durch die Schranken der Kasten in unsagbarem Abstand von einander gehalten. Diese Gegensätzlichkeiten – das Fundament, auf dem die englische Herrschaft überhaupt erstehen konnte – schließen eine Einigkeit schon des Empfindens und vor allem des Handelns aus. Vielleicht existieren geschlossene Kreise – der »Bund der Söhne Sivas, des Verderbers« ist wohl ein Phantasieprodukt derer, die in Indien alles partout mystisch sehen wollen, selbst eine Revolution –, aber man kann ihre Tätigkeit kaum abgrenzen. Daß Unruhe im Lande stärker und stärker wühlt, erkennt man eigentlich nur an der steigenden Unruhe der Engländer, an den Konzessionen der Regierung und dem Wetterleuchten der Attentate.

Ein Aufstand nährt seine Kraft nur aus Unzufriedenheit. Es wäre nun nach den Gründen jener Unbefriedigung zu fragen. Die Mutiny von 1857 war klar in ihren Motiven oder ist es zumindest heute: sie war eine religiöse Revolte. Man hatte den durch schlechte Bezahlung ohnehin schon gereizten Soldaten Patronen mit Kuhfett überwiesen. Nun ist dem Hindu die Kuh, die Milch spendende »Mutter des Menschen«, das heiligste Tier, und die Sepoys antworteten auf die Zumutung mit der Revolte. Der Aufstand flog – der Telegraph konnte ihn damals noch nicht überholen – blitzschnell über das Land und wurde zur blutigen Warnung. Seither wurde mit doppelter Sorgfalt das religiöse Gefühl geachtet. Und die Bewegung von heute ist keine religiöse mehr (eher eine der Irreligiösen, derer, die durch die Engländer ihre Zugehörigkeit verloren haben). Und auch eigentlich keine nationale, denn die Inder sind Konglomerat, aber keine Masse. Sie sind darum auch nicht fremdenfeindlich. Seit Jahrhunderten ist diese durch Mangel an Fleischgenuß, durch die Passivität ihres religiösen Empfindens geschwächte Rasse gewohnt, die Beute von Invasionen zu sein. Seit tausend Jahren sind sie abwechselnd die Knechte der Mohammedaner, der Mongolen, der Perser, der Mahratten, der Franzosen und Portugiesen, und schließlich erst der Briten. Auch kommerziell haben sie sich nie abgeschlossen, jede Hafenstadt hat ihr Chinesenviertel, die fremdesten Rassen reißen ihnen den Handel aus den Händen. Und die große Masse war von je am meisten bedrückt von den herrschenden Kasten, von den Brahminen und den Kriegern. Sie blieben immer die Knechte, hatten nichts zu gewinnen und zu verlieren, und blieben daher die ewig Gleichgiltigen.

Und sind es noch heute, obzwar...

Erscheint lt. Verlag 5.10.2009
Reihe/Serie Gesammelte Werke in Einzelbänden
Nachwort Knut Beck
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Amerigo Vespucci • Amerika • Anspruchsvolle Literatur • Deutschland • Entdeckung • Essay • Frankreich • Freiheit • Geschichte • Humanismus • Indien • Kritik • Kulturkritik • Lafcadio Hearn • Leo Tolstoi • Marcus Tullius Cicero • Mensch • Österreich • Paris • Rom • Schicksal • Schriftsteller • Spanien • Stefan • Theodor Herzl • Vespucci • Woodrow Wilson • Zeit
ISBN-10 3-10-400211-8 / 3104002118
ISBN-13 978-3-10-400211-8 / 9783104002118
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